Jean-Luc Marion: Die Öffnung des Sichtbaren (IKON. Bild + Theologie). Eingeleitet und aus dem Französichen übersetzt von Géraldine Bertrand. Paderborn 2005 (119 Seiten).

Ikonband11

Die Frage nach der Malerei stellt sich weder zuerst noch einzig den Malern oder weniger noch allein den Ästhetikern, sondern sie stellt sich der Sichtbarkeit selbst, also uns allen. Genaugenommen stellt sie sich all denjenigen, denen das Sehen nichts Selbstverständliches ist. Und aus diesem Grund kann sich die Philosophie, wenn es um die Malerei geht, zweifellos nur heimisch fühlen. Tatsächlich hat die Philosophie heute mit der Phänomenologie eine wesentliche Form angenommen; denn die Phänomenologie behauptet nur deshalb "zu den Sachen selbst zurückzukehren", weil sie es zunächst unternimmt, das zu sehen, was sich dem Sehen darbietet. Die außergewöhnliche Sichtbarkeit des Gemäldes wird so zu einem bevorzugten Fall des Phänomens, vielleicht zu einem Weg, der Phänomenalität im Allgemeinen zu begegnen. Genügt jedoch die Phänomenologie, um die Sichtbarkeit und folglich alle möglichen Gemälde zu erfassen? Erlaubt ihr das Gemälde nur einen Status oder verfügt es nicht über andere Quellen? Indem wir vom Idol zur Ikone übergehen, verfolgen wir zwar gewiss frühere Untersuchungen, jedoch vor allem die Notwendigkeit der Sache selbst: das Gemälde, also das Sichtbare par excellence, bietet sich dem Dilemma in zwei Formen der Erscheinung dar, die gegenteilig, gegnerisch und indes unverzichtbar, untrennbar sind. Die Theologie wird in dieser Situation zu einer unwiderruflichen Instanz für jegliche Theorie des Gemäldes. Indem das ästhetische Denken diese manchmal zurückgewiesen und dann einfach vergessen hat, hat sie sich manchmal in lange Aporien verfangen. Es ist jetzt vielleicht an der Zeit, sich davon zu lösen und dem Sichtbaren im Sinne einer Gabe des Erscheinens vor das Angesicht zu treten.