Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Forschungsbericht 2001-2002
 
Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft

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Forschungsschwerpunkte 2001 - 2002

Fachbereich 06 - Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften
Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft


Sprachenpolitik, gesellschaftliche Integration und Schulerfolg

Angesichts der faktisch durch zumeist ausgeprägte Multilingualität charakterisierten Ausgangssituation in den meisten Staaten der Welt (4000 bis 6000 “lebende Sprachen“ in rund 200 Staaten) hat jede Art von (“aktiver“ oder “passiver“) Sprachenpolitik weitreichende sozio-kulturelle Konsequenzen, u.a. für die Strukturierung der jeweiligen “Öffentlichkeiten“ und ihrer Nähe oder Ferne zu den Idealen der Menschen- und Bürgerrechte. In diesem Zusammenhang spielt die Schulsprachenpolitik eine herausragende symbolische und praktisch-didaktische Rolle. Angesichts der mehr oder weniger großen Zahl von Herkunftssprachen auf Seiten der Lernenden ist die Option für ein schulisches Sprachenspektrum (insbesondere die Option für die dominierende(n) Unterrichtssprache(n) immer verbunden mit bewussten (oder in Kauf genommenen) Formen unterschiedlich starker Einbeziehung und Diskriminierung der Angehörigen verschiedener Herkunftssprachen. Auf der Ebene des lernenden Individuums ist vor allem während des Anfangsunterrichts/der Erstalphabetisierung (indirekt aber auch weit darüber hinaus) von entscheidender Bedeutung für die Möglichkeit schrittweiser aufeinander aufbauender Lernfortschritte, ob an das Ausgangspotential der mündlich (mehr oder weniger) “gemeisterten“ Herkunfts- oder Verkehrssprachen angeknüpft werden kann.

Im europäischen Kontext spielen die angesprochenen Probleme eine Rolle im Rahmen der Diskussion über die international vergleichende PISA-Studie (schulische Sprachkompetenzförderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund), die erwünschte gesellschaftliche Akzeptanz von autochthonen Minderheiten und Migranten in einem Klima interkultureller Offenheit und Toleranz, die angestrebte verstärkte Internationalisierung von Funktionseliten.

Hier beschränke ich mich auf jüngst abgeschlossene und laufende Arbeitsvorhaben, die sich auf West-Afrika/Senegal beziehen.

Ab 1997 wurden die Ergebnisse der ersten, ab 1999 die der zweiten repräsentativen empirischen Untersuchung der Lernerfolge senegalesischer SchülerInnen an öffentlichen Primarschulen in Senegal veröffentlicht. Beide Studien stellten u.a. niedrige Sprach- und Rechenkompetenzen (in Französisch) auf den verschiedenen Klassenstufen fest (bei sehr linksschiefen Verteilungen), begrenzte Lernfortschritte und recht hohe Abbrecherquoten. Ausstattung und Organisationscharakteristika der Schulen wurden recht detailliert erhoben und ausgewertet, die sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Charakteristika der Kinder und ihrer Familien wurden nur grob berücksichtigt.

Unsere eigene, im gleichen Zeitraum abgeschlossene größere empirische Pilotstudie im ländlich-kleinstädtischen von Diourbel war bewusst so konzipiert worden, dass sie einige wichtige analytische Schwachstellen der “großen Studien“ besser beleuchten und ausloten konnte (zusammen mit Ulrike Wiegelmann; für eine detaillierte Beschreibung vgl. den “Forschungsbericht 1999/2000“): Vergleich der Lernerfolge in unterschiedlichen (Grund-)Bildungsgängen (formale öffentliche und private (katholische) Schulen, traditionelle Koranschulen, moderne islamische Schulen, Alphabetisierungskurse mit ihren je typischen Unterrichtssprachen, Didaktiken und Materialien), differenzierte Erfassung des sprachlichen, kulturellen und sozio-ökonomischen Herkunftsmilieus der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien. Wir konnten zeigen, dass die völlig fehlende Berücksichtigung der senegalesischen Herkunftssprachen der Kinder an den öffentlichen Grundschulen ganz offensichtlich der Grund für ihre vergleichsweise schlechten Lernerfolge ist und, umgekehrt, stärkere Berücksichtigung die relativen Erfolge der anderen, sehr viel schlechter ausgestatteten Bildungsgänge erklärt. In diesem Sinne haben wir die großen Studien wegen ihrer Unterauswertung sprachdidaktischer und soziokultureller Zusammenhänge und ihrer bildungspolitischen Tabuisierung der schulsprachlichen Probleme diskutiert und kritisiert.

Auf der praktisch-konstruktiven Seite hatte Jens Naumann zwischen 1999 und 2000 zusammen mit Dakarer Linguisten und Lehrern vorgeschlagen

  1. Wortlisten für die existierenden Schulbücher der Primarschule zu entwickeln (Französisch/Nationalsprachen),
  2. ein mittelgroßes Schulwörterbuch zu erarbeiten (Französisch/Wolof - Wolof/Französisch).

Beide Initiativen konnten nicht verwirklicht werden. Im ersten Fall stellte die Kreditanstalt für Wiederaufbau keine Restgelder aus einem Schulbauprogramm zur Verfügung, im zweiten hatte nur die UNESCO eine (unzureichende) Förderzusage gemacht.

Im Berichtszeitraum wurde ein Sammelband zu einer breiten Palette von bildungssoziologischen und -politischen Entwicklungen in Senegal veröffentlicht, die im Umfeld der oben angesprochenen empirischen Pilotstudie entstanden sind (Wiegelmann 2002). Die anderen Veröffentlichungen und Arbeitspapiere sind eine Fortsetzung der Beschäftigung mit sprachpolitischen, -erwerbstheoretischen und didaktischen Problemen in (französischsprachigen) afrikanischen Ländern. Die Auseinandersetzung mit der zweiten oben angesprochenen empirischen Großstudie in Form einer Reanalyse der zugänglichen Rohdaten kritisierte die analytisch unzureichende und unsensible, politisch konservativ verzerrte Diskussion der Schulsprachen- und Schulbuchproblematik in den bis dahin vorliegenden PASEC-Veröffentlichungen (Naumann, J; P. Wolf 2001a,b, Naumann 2001c).

Einen neuen linguistisch-didaktischen Zugang zu derselben Problematik erarbeitete Nicole Trapp (jetzt: Franke) für ihre Magisterarbeit. Sie analysierte mündliche und schriftliche Interferenzfehler im Französischen von wolophonen Dritt- und Viertklässlern. Die Interferenzfehler sind auf typische phonologische, morphologische und syntaktische Strukturen der indoeuropäischen Zielsprache (Französisch) einerseits und der westafrikanischen Herkunftssprache andererseits (hier: Wolof) zurückzuführen.

Die Fehleranalyse beleuchtet strukturelle Lernschwierigkeiten, die didaktisch besonders berücksichtigt werden sollten. Die Arbeit plädiert für eine Erstalphabetisierung in der Herkunftssprache (in Senegal gibt es sieben Nationalsprachen) und deren Verwendung als Unterrichtssprachen in den ersten Jahren (bei frühzeitigem Erlernen von Französisch als Fremdsprache) (Trapp (Franke), 2002).

Seit Frühjahr 2002 versuchen wir vor diesem Hintergrund, Kooperationsformen mit senegalesischen Experten für eine Fortsetzung dieser theoretisch-analytischen und didaktisch-praktischen Perspektive zu entwickeln (Naumann, J., Trapp, N., Wolf, P. 2002. Bisher haben diese Kontakte noch nicht zur projektmäßigen Präzisierung von Arbeitszielen, -organisation, Kosten- und Finanzierungsstruktur geführt. Inzwischen hat sich aber in Senegal die politisch-administrative Großwetterlage im Sinne unseres Ansatzes bemerkenswert positiv verändert: Seit Herbst 2002 gibt es erstmals ein großes Experimentalprogramm zur Erstalphabetisierung in Nationalsprachen im öffentlichen Schulwesen: Von nun an beginnen jedes Schuljahr 100 neue, über das Land und seine Sprachen verteilten Klassen mit dem neuen, schrittweise zu erarbeitenden Curriculum, bis nach sechs Jahren der gesamte Primarschulzyklus einbezogen ist. Damit sind theoretisch und im Prinzip wissenschaftliche Begleit- und Entwicklungsaktivitäten notwendig, sinnvoll und erwünscht. Offen bleibt, ob und wie es möglich sein wird, die unterschiedlichen Dynamiken von Politik und Verwaltung einerseits und Forschung andererseits zu synchronisieren.

Beteiligte Wissenschaftler:

Prof. Dr. Jens Naumann, Peter Wolf (bis 2002), Nicole Trapp (Franke), Dr. Ulrike Wiegelmann (bis 2001)

Veröffentlichungen:

Wiegelmann, Ulrike (Hrsg.) (2002): Afrikanisch - europäisch - islamisch? =Historisch-vergleichende Sozialisations- und Bildungsforschung Bd. 5, Frankfurt/M., London: IKO-Verlag 2002.

Naumann, Jens; Wolf, Peter (2001a): “Empirische Lernerfolgsforschung in afrikanischen Grundschulsystemen - Kritik und Reanalyse von PASEC-Daten für Senegal“, unveröffentlichtes Arbeitspapier.

Naumann, Jens; Wolf, Peter (2001b): «La performance de systèmes africains d'enseignement primaire - Critique et réanalyse de données PASEC pour le Sénégal». In : Perspectives, Vol XXXI, No. 3, Sept. 2001, pp. 443-463. (- Es existiert auch eine englische und eine spanische Fassung.)

Naumann, Jens (2001c): “Curriculum and Languages: Teaching in African Languages and Learning Strategies“, Unveröffentlichter Beitrag für das IBE/UNESCO-Seminarworkshop in Nairobi/Kenya:Curriculum development and education for living together: conceptual and managerial challenges in Africa and the world. 25-29 Juni 2001

Naumann, Jens; Trapp, Nicole; Wolf, Peter (2002): «Echec scolaire en Afrique francophone: Réduire le poids étouffant du français pour faciliter son apprentissage.» Unveröffentlichter Beitrag zum AFEC-Kolloquium in Caen/France, 23-25 Mai 2002.

Trapp, Nicole (2002): “Didaktik des Französischunterrichts an senegalesischen Primarschulen“, Hausarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophischen Fakultät zu Münster, Westfalen.

 
 

Hans-Joachim Peter
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Datum: 2003-09-08