Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Forschungsbericht 2001-2002
 
Klinik und Poliklinik für Neurologie

Albert Schweitzer Strasse 33
48149 Münster
Direktor: Prof. Dr. med. E. B. Ringelstein
 
Tel. (0251) 83-48016
Fax: (0251) 83-48181
e-mail: r.reilmann@uni-muenster.de
www: http://neurologie.uni-muenster.de/
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Forschungsschwerpunkte 2001 - 2002

Fachbereich 05 - Medizinische Fakultät
Klinik und Poliklinik für Neurologie
Neurokognition


Spracherwerb und statistisches Lernen: Entwicklung eines Spracherwerbsmodells

Von der Arbeitsgruppe wurde ein auf impliziten Lernprinzipien basierendes Kunstsprachtraining entwickelt und geprüft. Unter implizitem Lernen, im Kontrast zu explizitem Lernen, versteht man Lernen ohne bewusste Erinnerungsstrategien. Implizite Lernmodelle haben sich bei der Behandlung hirngeschädigter Patienten als sehr vielversprechend erwiesen, da der Lernprozess unabhängiger von Aufmerksamkeitsressourcen ist als beim expliziten Lernen.Zunächst wurde mit Hilfe einer im Internet verfügbaren Software ein Datensatz von Kunstwörtern aus zufälligen Vokal-Konsonant-Folgen mit jeweils vier Buchstaben generiert. Diese 183, von einer männlichen Stimme gesprochenen und in bezug auf Wortlänge und Lautstärke normalisierten Kunstwörter sowie 125 Zeichnungen des für den amerikanischen Sprachraum in der 80'er Jahren standardisierten Bildermaterials wurden 40 studentischen Probanden zur Beurteilung vorgegeben (Breitenstein & Knecht, 2002). Es wurden 50 Kunstwörter nach den Kriterien ausgewählt, dass a) das Kunstwort von mindestens 80 Prozent der Probanden richtig erkannt wurde; b) jeweils nicht mehr als drei Probanden die gleiche Assoziation mit existierenden Wörtern hatten; und c) der Klang des Kunstwortes als emotional neutral beurteilt wurde. Für die Auswahl der 50 Bilder bestand das Kriterium, dass mehr als 95 Prozent der Beurteiler das Bild mit dem gleichen Namen benannten. Die ausgewählten Bilder und Kunstwörter wurden nach einem Zufallskriterium gepaart, d.h. es gab insgesamt 50 richtige Zuordnungen für jeden Probanden (z.B. war das Kunstwort "enas" korrekt mit dem Bild eines Hundes gepaart). Für jeden Probanden waren die richtigen Zuordnungen unterschiedlich (d.h. bei einem weiteren Proband war das Kunstwort "enas" mit dem Bild eines Schmetterlings korrekt gepaart), um systematische Paarungseffekte wie Lautmalerei zu vermeiden. Das implizite Lernprinzip besteht darin, dass die korrekten Zuordnungen über die verschiedenen Trainingsblocks hinweg häufiger auftreten als die inkorrekten Zuordnungen. Im ersten Block mit 200 Durchgängen beträgt das Verhältnis von korrekten zu inkorrekten Zuordnungen 2:1 und steigt bis zum fünften Block auf ein Verhältnis von 10:1 an. Insgesamt wurden drei verschiedene Gruppen von jeweils 15 bis 21 Probanden untersucht. Bei zwei Gruppen fanden die insgesamt fünf Trainingssitzungen mit jeweils zwei Blocks an fünf unterschiedlichen Tagen (mit einem Abstand von 1-5 Tagen) statt. Die erste Gruppe lernte ohne Rückmeldung (Breitenstein & Knecht, 2002). Der zweiten Gruppe wurde nach jedem Durchgang mittels eines "smiley"oder "whiney" rückgemeldet, ob ihre Antwort richtig oder falsch war. Wie zu erwarten, war die Lernkurve in der Gruppe mit Rückmeldung (explizites Lernen) anfangs steiler, aber der Lernerfolg war nach dem fünften Block insgesamt vergleichbar. Dieses Ergebnis zeigt, dass durch implizites Lernen stabile Verhaltensänderungen erzielt werden können, ohne dass die Probanden bewusst Aufmerksamkeit und Konzentration auf den Spracherwerb verwenden. Das implizite Training sollte sich daher besonders für Patienten mit Aphasie eignen, da diese zusätzlich häufig an unspezifischen Aufmerksamkeitsstörungen leiden. Die dritte Gruppe nahm innerhalb einer Sitzung an fünf Trainingsblöcken à 200 Durchgängen teil (Kurzversion). Die Kurzversion wurde für eine von unserer Gruppe geplante funktionelle Kernspintomographie-Untersuchung des Gehirns zum Kunstspracherwerb entwickelt. Außerdem wurde in dieser Experimentalkohorte eine ausführliche, neuropsychologische Testbatterie (verbale und visuell-räumliche Intelligenz, verbales und visuell-räumliches Kurz- und Langzeitgedächtnis, Merkfähigkeit für Wörter, Daueraufmerksamkeit, Persönlichkeitstests) sowie eine funktionelle transkranielle Dopplersonographie-Untersuchung zur Erfassung der Sprachlateralisation durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass weder Intelligenz- noch Gedächtnisleistungen noch die Hemisphärenspezialisierung eine signifikante Korrelation mit dem Trainingserfolg aufwiesen. Allein die Anzahl flüssig gesprochener Fremdsprachen sowie die Merkfähigkeit für Wörter korrelierte signifikant mit der Verbesserung vom ersten zum fünften Trainingsblock, was die Validität unseres Trainingsprogramms stützt. Das Kunstsprachmodell hat hohe ökologische Relevanz für den natürlichen Spracherwerb bei Kindern (Erstspracherwerb) und Erwachsenen (Zweitspracherwerb) sowie für den Sprach-Neuerwerb nach einer Hirnschädigung wie bei der Aphasie (zusammenfassend s. Breitenstein & Knecht, 2003). Sowohl der Erstspracherwerb als auch der Wiedererwerb von Sprache nach Aphasie folgt dem Prinzip, dass zuerst einzelne Worte gelernt werden, die dann mit Hilfe grammatischer Regeln zu längeren Spracheinheiten verknüpft werden. Untersuchungen mit Kindern legen nahe, dass diese die ersten Wortbedeutungen allein aufgrund des wiederholten gemeinsamen Auftretens eines Perzepts (z.B. der Nachbarshund im Garten) und eines spezifischen Lauts (z.B. "Hund") lernen. Aus theoretischen und pragmatischen Gründen wurde das Sprachtraining auf die sogenannte semantische Komponente, d.h. das Erlernen von Wortbedeutungen beschränkt. Die Semantik spielt bei der erfolgreichen Kommunikation eine wichtigere Rolle als die grammatische Komponente der Sprache. Klinische Beobachtungen legen nahe, dass Patienten mit einer Broca Aphasie, die durch häufige grammatische Defizite bei erhaltener Semantik gekennzeichnet sind, effizienter Informationen übermitteln können als Patienten mit einer Wernicke Aphasie mit erhaltener grammatischer Fähigkeit, aber beeinträchtigter Semantik.

Projektdauer:

2000-2002

Drittmittelgeber:

Nachwuchsgruppe Knecht (Nachwuchsgruppe des Landes NRW)

Beteiligte Wissenschaftler:

Dr. C. Breitenstein, Prof. Dr. med. S. Knecht, Dipl.-Psych. S. Kamping, Dipl.-Phys. Andreas Jansen

Veröffentlichungen:

Breitenstein, C. and S. Knecht.: Development and validation of a language learning model for behavioral and functional-imaging studies. J Neurosci Methods 114: 173-179, 2002.

Breitenstein, C. and S. Knecht. Spracherwerb und statistisches Lernen [Language acquisition and statistical learning]. Nervenarzt 74: 133-143, 2003.

 
 

Hans-Joachim Peter
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Datum: 2003-07-21 ---- 2003-08-27