Theorien der Literaturwissenschaft
David-Christopher
Assmann
Bonn

Gefahrenfall und Entempirisierung

Anmerkungen zur Unterscheidung literarischer Akteure und Personen mit Bezug auf Oliver Jahraus’ Replik
Ausgangsbeitrag: Kommunikationszusammenhänge, in: Textpraxis # 3

Einen Kommentar Jörg Schönerts1 zu Dominik Schreibers Artikel »Literarische Kommunikation«2 zum Anlass nehmend, habe ich in der dritten Ausgabe von Textpraxis Perspektiven einer systemtheoretisch ausgerichteten Literaturtheorie literarischer Akteure skizziert.3 Meiner Replik hat Oliver Jahraus einige Fragen und Überlegungen angeschlossen, die mit einer doppelten Kritik meiner Argumentation einhergehen: an der Unterscheidung zwischen Akteuren als Personen und Funktionen literarischer Kommunikation, weil in ihr eine »Konfundierung von Empirie […] und System«4 erkennbar sei, sowie ganz grundsätzlich an der forschungsprogrammatischen Gewichtung der Unterscheidung zwischen Akteur und Kommunikation. Vor dem Hintergrund der Annahme, literarische Kommunikation sei »textförmig«5, erweise sich nämlich das Verhältnis von Text und Kommunikation – anders als dasjenige von Akteur und Kommunikation – für eine systemtheoretisch informierte Literaturwissenschaft als »grundlegend«6. Im Folgenden möchte ich die Gelegenheit nutzen, Jahraus’ Kommentar wiederum zu kommentieren und gleichzeitig meine Überlegungen etwas zu präzisieren. Ich konzentriere mich dabei auf die beiden genannten Kritikpunkte, da diese in der Tat den Kern meines skizzierten Vorschlags betreffen.

Jahraus weist zunächst völlig zu Recht darauf hin, dass das Plädoyer für eine differenzierte Handhabung der Unterscheidung von Kommunikation und Akteur »im systemtheoretischen Kontext alles andere als trivial ist«.7 Während literatursoziologische Ansätze sich gewöhnlich an Akteuren orientieren, erscheinen diese der systemtheoretisch informierten Literaturwissenschaft nämlich als Problem. Aus systemtheoretischer Sicht stellen Akteure kommunikativ erzeugte Konstruktionen dar, die im literarischen System bestimmte Funktionen besetzen. Die mit den Begriffen des Autors, Lesers oder Literaturvermittlers verbundenen Semantiken zielen demnach auf kommunikativ erzeugte Erwartungen, aber eben nicht auf biographische Individuen. Die Standardkritik nicht nur, aber auch an der systemtheoretisch informierten Literaturwissenschaft zielt vor diesem Hintergrund insbesondere auf die »Vernachlässigung der Akteursebene«8 als vermeintlicher Schwachstelle der auf Kommunikationsprozesse abhebenden Theorieausrichtung, könnten doch »[m]angels Akteursebene […] wichtige Parameter […] nicht untersucht werden«.9

Mein Vorschlag nimmt diese Kritik ernst, grundiert jedoch den Vermittlungsversuch, also das Plädoyer, den Akteursbegriff spezifisch einzusetzen, dezidiert systemtheoretisch. Tatsächlich ist die differenzierte Handhabung der Unterscheidung von Akteur und Kommunikation nämlich bereits in der Theorie selbst angelegt: Spätestens mit der Einführung des Begriffs der Person erübrigt sich eigentlich der Verweis auf einen fehlenden Akteursbezug systemtheoretischer Literaturwissenschaft.10 Gleichwohl wird die eben damit etablierte Differenz zwischen funktionssystemspezifischen Akteuren und ›konkreten‹ Personen in der systemtheoretischen Literaturwissenschaft notorisch übersehen. Denn diese lässt die Erörterung der Person als individuell attribuierter Verhaltenseinschränkung gewöhnlich mehr oder weniger unreflektiert mitlaufen und hebt vor allem auf die kommunikative Konstruktion funktionsspezifischer Handlungsrationalitäten ab, die zwar ohne Rekurs auf Personalität auskommen, aber gleichwohl und gleichsam wider den operativen Vollzug personal in Anspruch genommen werden können. So lautet etwa der Titel des entsprechenden Beitrags in einem jüngst erschienenen Überblicksband bezeichnenderweise »Funktionsrolle Autor«11 und legt den theoretischen Schwerpunkt damit auf die Bestimmung des ›Autors‹ als funktionsspezifischen Rationalakteur, der für literarische Kommunikation ›nichts weiter‹ als die Funktion einer hoch generalisierten Erwartungsstruktur erfüllt. Konsequent gedacht ergäbe sich aus dieser Bestimmung jedoch paradoxerweise ein gewissermaßen vollständig entpersonalisierter Begriff (in diesem Fall) des Autors.12

Deshalb würde ich an dieser Stelle an den Personenbegriff erinnern, um auf diese Weise zwischen literarischen Akteuren als Funktionen und Personen unterscheiden zu können. Eine in dieser Art ausgerichtete systemtheoretische Literaturwissenschaft könnte sich etwa dafür interessieren, wie es sich Literatur als System einerseits ermöglicht, Autoren, Leser oder Vermittler als kommunikative Funktionen von einzelnen Personen soweit zu differenzieren, wie bestimmte Strukturen und Semantiken der Selbstorganisation dies notwendig machen. Andererseits gewänne umgekehrt die Frage an Relevanz, wie es Literatur überhaupt gelingt, Personen diesen Zwängen nur soweit anzupassen, wie es die eigene operative Vergangenheit und Zukunft in Gestalt literarischer Texte und Programme erlaubt. Eine literaturwissenschaftliche Fremdbeschreibung literarischer Kommunikation dieses Zuschnitts könnte eben genau dies untersuchen: die Selbsteinschränkung literarischer Kommunikation unter der sich aus Selbstbeobachtung ergebenden Kontingenz mithilfe der Unterscheidung von literarischen Akteuren als Personen und Funktionen.

Insofern fällt der Begriff des literarischen Akteurs aus systemtheoretischer Perspektive nicht einfach weg, sondern wird in Kommunikationszusammenhänge ›eingelassen‹ und dann über Attributionsmechanismen zurückverfolgt – ein Verfahren, das ja auch für andere, literaturtheoretisch relevante Begriffe zutrifft (Werk, Sinn, Autonomie etc.). In der literaturwissenschaftlichen Beschreibung eben dieses ›Eingelassenseins‹ oder besser: ›Erzeugens‹ literarischer Akteure in beziehungsweise durch Kommunikation besteht unter anderem, wenn ich recht sehe, der Kern dessen, was man mit Jahraus als »Entempirisierung«13 bezeichnen könnte: Auf der einen Seiten liegen die empirischen Akteure und ihre Selbstbeschreibungen – und auf der anderen Seite steht zum Beispiel die Unterscheidung von Funktion und Person, mit der literaturwissenschaftlich fremdbeobachtet wird. In diesem spezifischen Sinne kann mithin vom Eingehen des »Gefahrenfall[s]«14 in meinem Vorschlag überhaupt nicht (oder wenn, dann nur ironisch) die Rede sein.

Vor diesem Hintergrund, aber auch mit Blick auf den grundsätzlich zu begrüßenden Vorschlag, zwischen ›Literatursystem‹ und ›Literatur als System‹ begrifflich zu unterscheiden,15 stellt sich die Frage nach ›Entempirisierung‹ und ›Gefahrenfall‹ aber auch mit Blick auf Jahraus’ eigenen Ansatz – nämlich im Hinblick auf die Frage, ob die Unterscheidung von Text und Kommunikation tatsächlich derjenigen von Kommunikation und Akteur ›vorausliegt‹. Denn spezifisch perspektiviert, könnte man auch argumentieren, dass Jahraus selbst der Gefahr einer ›Konfundierung‹ von theoretischer Beschreibung und Gegenstand aufsitzt. Carla Benedetti zumindest formuliert unmissverständlich: Literatur als System »is founded neither on the author nor on the text, but is composed of communicative processes alone, which reproduce themselves on the basis of preceeding communications.«16 Nimmt man das ernst, kann man an dieser Stelle selbstredend forschungspragmatisch argumentieren und die Frage, was wir zu beobachten beabsichtigen,17 unter Verweis auf die systemische Organisation von Texten beantworten. Das ist legitim, letztlich anders gar nicht möglich, und auch mein eigener Beitrag kann nicht anders, denn so zu argumentieren. Allerdings könnte man auch überlegen, ob Jahraus nicht mit der asymmetrischen, sich als literaturwissenschaftliche Fremdbeschreibung ausflaggenden Fokussierung auf die Unterscheidung von Text und Kommunikation nur die Sachdimension literarischer Kommunikation in den Blick bekommt. Die Eigendynamik literarischer Kommunikation ist für Jahraus eine sachliche Eigendynamik in dem Sinne, dass er das »Systemische an der Literatur selbst«18 nur als Logik »textförmig[er]«19 Kommunikation verstanden wissen will, der insbesondere die Sozialdimension untergeordnet wird.

Könnte man an diesem Punkt aber nicht auch hier fragen, was man anders in den Blick bekäme, wenn man Literatur nicht lediglich als systemisch organisierte Texte oder kommunikativ generierte Funktionen/Personen als Prämissen für die literaturwissenschaftlichen Beobachtungen nimmt? Könnte man nicht auch beobachten, wie auch diese Unterscheidung im literarischen System selbst verwendet und in »konkrete[n] Operationalisierungen von spezifischen, selektionssteuernden Programmen betreut und reguliert«20 wird? Die Unterscheidung zwischen Literatur als durch (kommunikativ erzeugte) Texte und als durch (ebenso kommunikativ produzierte) Akteure strukturiert würde dann als operationsleitende Differenz verstanden, die das literarische System selbst verwendet. In diesem Sinne ließe auch sie sich im Kontext der Theorie funktionaler Differenzierung und der sich daraus ergebenden Annahmen über die Selbstorganisation der Literatur als Funktionssystem auf Beschreibungen der Literatur in der Literatur zurückbeziehen – oder wäre das nur eine weitere Reformulierung der Frage nach dem Zusammenhang von Literatur als Symbol- und Sozialsystem?

Literaturverzeichnis

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  • 1. Vgl. Jörg Schönert: »Literarische Kommunikation. Kommentar.« URL: http://www.uni-muenster.de/Textpraxis/dominik-schreiber-literarische-kom... (zuletzt eingesehen am 20.05.2013).
  • 2. Vgl. Dominik Schreiber: »Literarische Kommunikation. Zur rekursiven Operativität des Literatursystems«. In: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 1 (1.2010). URL: http://www.uni-muenster.de/Textpraxis/dominik-schreiber-literarische-kom..., URN: urn:nbn:de:hbz:6-66429522090 (zuletzt eingesehen am 20.05.2013).
  • 3. Vgl. David-Christopher Assmann: »Operativität und Akteure des Literatursystems. Eine Replik auf Dominik Schreibers Artikel ›Literarische Kommunikation‹ und Jörg Schönerts Kommentar«. In: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 3 (2.2011). URL: http://www.uni-muenster.de/Textpraxis/david-christopher-assmann-operativ..., URN: urn:nbn:de:hbz:6-13439433693 (zuletzt eingesehen am 20.05.2013).
  • 4. Oliver Jahraus: »Kommunikationszusammenhänge«. In: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 3 (2.2011). URL: http://www.uni-muenster.de/Textpraxis/oliver-jahraus-kommunikationszusam..., URN: urn:nbn:de:hbz:6-13439432487 (zuletzt eingesehen am 20.05.2013), hier S. 2.
  • 5. Ebd., S. 3.
  • 6. Ebd.
  • 7. Ebd., S. 1.
  • 8. So die hier exemplarisch zitierte Diagnose in der gleichwohl überaus lesenswerten Studie von Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Zur Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags. Berlin 2011, S. 35.
  • 9. Ebd. Siehe für die soziologische Diskussion insbesondere Uwe Schimank: »Der mangelnde Akteursbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher Differenzierung – Ein Diskussionsvorschlag«. In: Zeitschrift für Soziologie 14.6 (1985), S. 421–434.
  • 10. Vgl. Niklas Luhmann: »Die Form ›Person‹«. In: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis 42.2 (1991), S. 166–175.
  • 11. Niels Werber (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Berlin, New York 2011.
  • 12. Vgl. dazu bereits Klaus P. Japp: »Politische Akteure«. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 12.2 (2006), S. 222–246.
  • 13. Jahraus: »Kommunikationszusammenhänge« (Anm. 4), S. 3.
  • 14. Ebd., S. 1.
  • 15. Ebd., S. 2.
  • 16. Carla Benedetti: The Empty Cage. Inquiry into the Mysterious Disappearance of the Author. Translated from the Italian by William J. Hartley. Ithaca, London 2005, S. 14.
  • 17. Vgl. Jahraus: „Kommunikationszusammenhänge“ (Anm. 4), S. 2.
  • 18. Ebd.
  • 19. Ebd., S. 3.
  • 20. Niels Werber u. Ingo Stöckmann: »Das ist ein Autor! Eine polykontexturale Wiederauferstehung.« In: Henk De Berg u. Matthias Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik. Tübingen, Basel 1997, S. 233–262, hier: S. 250.

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