Westfälische Wilhelms-Universität
Münster
|
Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft Georgskommende 26 u. 33 48143 Münster Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Armin Bernhard |
Tel. (0251) 83-24227, -24218, -24234, -24200
Fax: (0251) 83-24184, -24242 e-mail: erzwi1d@uni-muenster.de www: http://www.uni-muenster.de/Erziehungswissenschaft |
|
Forschungsschwerpunkte 2001 - 2002 Fachbereich 06 - Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften |
||||
Lernen und Entwicklung in globaler Perspektive
In seinem Spätwerk
hat der Soziologe Norbert Elias verschiedentlich dargelegt, dass das weltweite Integrationsniveau
der Menschen im 20. Jahrhundert mit
zunehmender Geschwindigkeit de facto eine Dichte und Intensität gewonnen
habe, die es inzwischen analytisch gebiete, die gesamte Menschheit als nunmehr einzig relevante
gesellschaftliche
Überlebenseinheit zu betrachten.
Dieser durch heutiges Wissen möglich gewordenen realistischen Einschätzung
stünde jedoch entgegen, dass das gegebene Bewusstsein und die existierenden sozialen Verhaltens-
und
Organisationsformen der meisten Menschen dieser
Realität hinterhinkten, weil sie weiterhin abgestimmt seien auf historisch
gewachsene, kleinere kollektive Wir-Gruppen, d.h. neben unterschiedlich weit definierten
Verwandschaftsverbänden vor allem die der Nationalstaaten. Die Folge davon sei die noch immer
fortbestehende
Lücke zwischen dem vergleichsweise
hohen internen Zivilisierungsniveau der historisch überholten kleineren
Überlebenseinheiten und dem sehr viel niedrigeren Zivilisierungsniveau auf der zwischenstaatlichen
bzw. der
menschheitlichen Ebene. Langfristig
müsse und werde daher ein höheres Syntheseniveau von kognitiven und
moralisch-ethischen Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern entwickelt werden, die zivilisiertere effektive
Institutionen
und Organisationen auf menschheitlicher
Ebene parallel zu entsprechend habitualisierten Persönlichkeitsstrukturen
ermöglichen.
Die Beschäftigung mit derartigen allgemeinen sozialwissenschaftlichen
theoretischen Ansätzen, ihren Weiterentwicklungen
und empirischen Bezügen gehört zum Standard meines Lehrangebots als Grundlage und
Hintergrund für i. e. S. interkulturelle und vergleichende erziehungswissenschaftliche
Themen und
Probleme. Zur Zeit
betreue ich drei Dissertationen, deren je
spezifische Fokussierung eingebettet ist in eine breite
interdisziplinär-sozialwissenschaftliche
Perspektive (alles Arbeitstitel):
In diesem Rahmen werden in der fertiggestellten
Dissertation von Rainer Jansen (2003) ausgewählte Aspekte des seit
hundertfünfzig Jahren kontrovers geführten wissenschaftlichen Diskurses über den
Ursprung und die frühe Entwicklung
der Menschheit und
seine Auswirkungen auf langfristige Transformationsprozesse gesellschaftlicher Organisation
nachgezeichnet.
Diese Darstellung wird ergänzt durch eine
diachrone Analyse der Darstellung und Diskussion dieser Thematik in deutschen
Schulgeschichtsbüchern zwischen 1875 und 1999, um am Beispiel Deutschlands aufzuzeigen, wie sich
diese wichtigen sozial legitimierten Wissensbestände langfristig verändert haben.
Die neueren, interdisziplinär verankerten
Erkenntnisse der Biologie, Paläontologie und Biogenetik haben dazu geführt,
dass das Verhältnis von Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei heute
lebenden Menschen seit dem Zweiten
Weltkrieg schrittweise entdeckt wird
vor dem Hintergrund der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung
von kollektiven Lern- und Entwicklungsprozessen.
Einerseits
wird neuerlich und fortgesetzt die Deutungsmacht religiöser Schöpfungsmythen (christlich oder
nicht-christlichen Ursprungs) bestritten oder doch zumindest marginalisiert. Anderseits werden
herkömmliche
sozialdarwinistische
(rassisch-biologische) Deutungen der verschiedenen Entwicklungspotentiale unterschiedlicher
Gruppen von Jetztmenschen angesichts ihrer biologischen Gemeinsamkeiten und der
Relevanz von kollektiven
Lernprozessen - auch und insbesondere in
der Frühphase der menschheitlichen Geschichte - unplausibel. Zentrale
Aspekte in diesem Zusammenhang sind z. B.:
Der direkte gemeinsame
Ursprung aller heute lebenden Menschen. Vor dem Hintergrund des Out-of-Africa-Modells,
das durch neuere Erkenntnisse der Archäologie, Paläontologie, Kulturgeschichte, Linguistik
und insbesondere der
Biogenetik inzwischen gefestigt ist, werden
grundlegende Gemeinsamkeiten aller heute lebender Menschen und die Bedeutung
von kollektiven Entwicklungs- und Lernprozessen für die menschheitliche Zivilisierung betont.
Angesichts der relativ kurzen Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens sapiens und
der umfassenden
Gemeinsamkeiten von heute lebenden Menschen
ist das mit dem Begriff Rasse verknüpfte Konzept einer biologischen
Kategorisierung unterschiedlicher Menschengruppen unzulässig: Rassismus und Nationalismus sind
fiktionale Mythen.
Die Geschichte der Sprache
reicht zurück zu den Wurzeln der menschlichen Entwicklung. Die offensichtlichen
Ähnlichkeiten heutiger Sprachen deuten auf eine kollektive Entwicklung der Menschheit: Die
wesentlichen Grundlagen
der ca. 5.000 heutigen Sprachen
sind das Ergebnis einer gemeinsamen biologischen Entwicklungsgeschichte und von
frühen kollektiven Lern- und Bewusstseinsprozessen der Menschheit.
Das Phänomen der Schrift ist - in gewisser Weise vergleichbar mit dem Feuer und anderen
frühen Kulturwerkzeugen
der modernen Menschheit -
eine späte Erfindung der menschheitlichen Entwicklung, deren Tradierung und
Verbreitung nur vor dem Hintergrund von langfristigem globalem Informationsaustausch möglich war
und weiterhin ist.
Gegenwärtig feststellbare
Entwicklungsunterschiede einzelner Menschengruppen lassen sich primär durch die
jeweilige historische Bedeutung von geographischen Rahmenbedingungen erklären. Diese
ermöglichten oder
behinderten überregionale
Kommunikations- und Lernprozesse, die ihrerseits den Motor der Dynamik des
menschheitlichen Entwicklungsprozesses darstellen.
Hochkulturen
sind das Ergebnis von Diffusionsprozessen unterschiedlicher Gesellschaften. Die ägyptische Kultur
wurde, wie auch die griechische, von afrikanischen, asiatischen und europäischen Elementen und
Prozessen geprägt.
Diffusion und Kommunikation
sind auch schon für die frühe Menschheitsgeschichte wichtig: Gesellschaftliche
Entwicklungen werden durch zwischengesellschaftliche Kontakte und Verbindungen ermöglicht und
befördert (Formen
der militärischen, ökonomischen
oder kulturellen Expansion, freiwillige und erzwungene Wanderungen).
Im entwicklungstheoretischen Kontext werden die angeführten Beispiele aus der Ur- und
Frühgeschichte dahin gehend
ergänzt, dass bisherige
Deutungen des Übergangs von der feudalistischen Vormoderne in die
kapitalistische
Moderne (von K. Marx über M. Weber und T. Parsons bis hin zu I. Wallerstein) nach A.
G.
Frank empirisch unhaltbare
Fortschreibungen eurozentristischer
Vorurteile sind: Entwicklung spielt sich nicht nur im isolierten Raum von einzelnen
Menschengruppen ab, sondern ist - historisch, gegenwärtig und zukünftig - immer
eingebettet
in menschheitliche
Entwicklungsprozesse.
In der Dissertation wurde die Synthese dieser neuakzentuierten Argumentationsmuster, in denen den
Aspekten der
Kommunikation und Diffusion ein zentraler
Stellenwert für die Dynamik von Entwicklung zugeschrieben wird, durch
eine beispielhafte Längsschnittanalyse deutschsprachiger Schulgeschichtsbücher von 1870 bis
1999 ergänzt. Dabei
zeigt sich zunächst die langsame
Ablösungsgeschichte der christlichen Ideologie und die schrittweise Übernahme
wissenschaftlicher Paradigmen. Nationalistische und rassistische Positionen sind für den Zeitraum
1919 bis 1945 sehr
deutlich, während für
die Perioden nach 1945 der Versuch deutlich wird, wissenschaftlich begründete - nationalistische,
rassistische und religiöse - Ausgrenzungsparadigmen als Richtmaß für die
Interpretation
von Geschichte zu überwinden.
Andererseits wird auch in vielen der heutigen Schulbuchdarstellungen weiterhin ein Geschichtsbild
legitimiert und tradiert, das insbesondere die regionale Unterschiedlichkeit von menschlichen Zivilisationen
betont und Gemeinsamkeiten,
sowie Diffusionsprozesse und Zusammenhänge ignoriert. Die Darstellung der Differenz als Defizit
ist eng verbunden mit der normativen Orientierung an der europäischen Zivilisation. Insofern
müssen auch die neuesten
Darstellungen der untersuchten
Leitkomplexe aus pädagogischer Sicht als kontraproduktiv und überholt beurteilt
werden.
Wir werden uns bemühen, ein Folgeprojekt zu verwirklichen. In ihm soll die
nationale, diachrone Fallstudie durch eine weltweite, synchrone
(bzw. begrenzt diachrone) Analyse von Schulgeschichtsbüchern (und / oder Curricula) aus
ca. 25
Ländern ergänzt werden. Die auf diese Weise generierten systematischen Informationen und
Beobachtungen sollten
dann ausgewertet
werden, um u. a. folgende Fragestellungen zu beantworten:
Wird der
Ursprung der heutigen Menschheit bzw. der eigenen Gruppe überhaupt thematisiert und
wenn ja, auf der
Grundlage welcher (religiös-mythischen und/oder wissenschaftlichen) Konzepte?
Wird die Entstehung und Entwicklung von
Kultur und kulturellen Werkzeugen überhaupt thematisiert und wenn ja, in
welchen sachlichen, sozialen und zeitlichen Zusammenhängen?
Welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten von Menschen und ihren
Lebensverhältnissen (bzw. die ihnen
zu Grunde liegenden Begriffe / Kategorien / Theorien) werden überhaupt erwähnt bzw.
erklärt?
Vor dem Hintergrund
der neueren Modelle und Theorien für den Verlauf und die Dynamik von Entwicklungs- und
Zivilisierungsprozessen und der tatsächlichen Vielfalt von gesellschaftlich akzeptierten
Wissensbeständen (die u. a.
über Schulbücher
identifiziert werden können) zeichnet sich in Umrissen ab, welchen kognitiv-wissenschaftlichen
Standards kanonisierte Kurzfassungen in Schulbüchern (z. B. der Geschichte, Biologie,
Geographie)
künftig genügen
müssten bzw. sollten.
Beteiligte Wissenschaftler: Veröffentlichungen: |
||||