Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Forschungsbericht 2001-2002
 
Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft

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Forschungsschwerpunkte 2001 - 2002

Fachbereich 06 - Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften
Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft
Globalisierungsprozess, Kulturentwicklung und erziehungswissenschaftliche Theoriebildung


Lernen und Entwicklung in globaler Perspektive

In seinem Spätwerk hat der Soziologe Norbert Elias verschiedentlich dargelegt, dass das weltweite Integrationsniveau der Menschen im 20. Jahrhundert mit zunehmender Geschwindigkeit de facto eine Dichte und Intensität gewonnen habe, die es inzwischen analytisch gebiete, die gesamte Menschheit als nunmehr einzig relevante gesellschaftliche Überlebenseinheit zu betrachten.

Dieser durch heutiges Wissen möglich gewordenen realistischen Einschätzung stünde jedoch entgegen, dass das gegebene Bewusstsein und die existierenden sozialen Verhaltens- und Organisationsformen der meisten Menschen dieser

Realität hinterhinkten, weil sie weiterhin abgestimmt seien auf historisch gewachsene, kleinere kollektive Wir-Gruppen, d.h. neben unterschiedlich weit definierten Verwandschaftsverbänden vor allem die der Nationalstaaten. Die Folge davon sei die noch immer fortbestehende

Lücke zwischen dem vergleichsweise hohen internen Zivilisierungsniveau der historisch überholten kleineren Überlebenseinheiten und dem sehr viel niedrigeren Zivilisierungsniveau auf der zwischenstaatlichen bzw. der menschheitlichen Ebene. Langfristig müsse und werde daher ein höheres Syntheseniveau von kognitiven und moralisch-ethischen Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern entwickelt werden, die zivilisiertere effektive Institutionen und Organisationen auf menschheitlicher Ebene parallel zu entsprechend habitualisierten Persönlichkeitsstrukturen ermöglichen.

Die Beschäftigung mit derartigen allgemeinen sozialwissenschaftlichen theoretischen Ansätzen, ihren Weiterentwicklungen und empirischen Bezügen gehört zum Standard meines Lehrangebots als Grundlage und Hintergrund für i. e. S. interkulturelle und vergleichende erziehungswissenschaftliche Themen und Probleme. Zur Zeit betreue ich drei Dissertationen, deren je spezifische Fokussierung eingebettet ist in eine breite interdisziplinär-sozialwissenschaftliche Perspektive (alles Arbeitstitel):

  • Probleme der Neu-Orientierung von Bildungspolitik und -verwaltung. Zur Überwindung der Apartheidstrukturen in der RSA (Uwe Schulz);
  • Djivente/Casamance-Dakar: Migration als Modernisierungsherausforderung von Stadt und Land (Katharina Götte);
  • “Humanitäre Hilfe“: Der Einfluss sozio-kultureller nationaler Herkunftsmilieus auf Organisations- und Interventionsmuster von Hilfsorganisationen (Christine Idems).
Vor allem zusammen mit Rainer Jansen habe ich mitgearbeitet an Perspektiven, in denen es darum geht
  • auf der theoretischen Ebene wichtige Teile der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion zur Überwindung des dominierenden eurozentristisch-nationalstaatlichen Welt- und Geschichtsbildes zur Kenntnis zu nehmen;
  • auf der empirischen Ebene Instrumente zu entwickeln, um langfristige internationale Globalisierungstendenzen in bildungspolitischen Quellen identifizieren und analysieren zu können;
  • auf der didaktischen Ebene Ideen zu entwickeln, um in Teilrevisionen von Lehr- und Lernbüchern explizit zu versuchen, die frühe Menschheitsentwicklung als gemeinsames Erbe der Menschheit darzustellen und zu vermitteln (Jansen, R. und Naumann, J. (2001 und 2002)).

In diesem Rahmen werden in der fertiggestellten Dissertation von Rainer Jansen (2003) ausgewählte Aspekte des seit hundertfünfzig Jahren kontrovers geführten wissenschaftlichen Diskurses über den Ursprung und die frühe Entwicklung der Menschheit und seine Auswirkungen auf langfristige Transformationsprozesse gesellschaftlicher Organisation nachgezeichnet.

Diese Darstellung wird ergänzt durch eine diachrone Analyse der Darstellung und Diskussion dieser Thematik in deutschen Schulgeschichtsbüchern zwischen 1875 und 1999, um am Beispiel Deutschlands aufzuzeigen, wie sich diese wichtigen sozial legitimierten Wissensbestände langfristig verändert haben.

Die neueren, interdisziplinär verankerten Erkenntnisse der Biologie, Paläontologie und Biogenetik haben dazu geführt, dass das Verhältnis von “Gemeinsamkeiten“ und “Unterschieden“ bei heute lebenden Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg schrittweise entdeckt wird vor dem Hintergrund der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung von kollektiven Lern- und Entwicklungsprozessen.

Einerseits wird neuerlich und fortgesetzt die Deutungsmacht religiöser Schöpfungsmythen (christlich oder nicht-christlichen Ursprungs) bestritten oder doch zumindest marginalisiert. Anderseits werden herkömmliche sozialdarwinistische (rassisch-biologische) Deutungen der verschiedenen Entwicklungspotentiale unterschiedlicher Gruppen von “Jetztmenschen“ angesichts ihrer biologischen Gemeinsamkeiten und der Relevanz von kollektiven Lernprozessen - auch und insbesondere in der Frühphase der menschheitlichen Geschichte - unplausibel. Zentrale Aspekte in diesem Zusammenhang sind z. B.:

Der direkte gemeinsame Ursprung aller heute lebenden Menschen. Vor dem Hintergrund des “Out-of-Africa“-Modells, das durch neuere Erkenntnisse der Archäologie, Paläontologie, Kulturgeschichte, Linguistik und insbesondere der Biogenetik inzwischen gefestigt ist, werden grundlegende Gemeinsamkeiten aller heute lebender Menschen und die Bedeutung von kollektiven Entwicklungs- und Lernprozessen für die menschheitliche Zivilisierung betont.

Angesichts der relativ kurzen Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens sapiens und der umfassenden Gemeinsamkeiten von heute lebenden Menschen ist das mit dem Begriff “Rasse“ verknüpfte Konzept einer biologischen Kategorisierung unterschiedlicher Menschengruppen unzulässig: Rassismus und Nationalismus sind fiktionale Mythen.

Die Geschichte der Sprache reicht zurück zu den Wurzeln der menschlichen Entwicklung. Die offensichtlichen Ähnlichkeiten heutiger Sprachen deuten auf eine kollektive Entwicklung der Menschheit: Die wesentlichen Grundlagen der ca. 5.000 heutigen Sprachen sind das Ergebnis einer gemeinsamen biologischen Entwicklungsgeschichte und von frühen kollektiven Lern- und Bewusstseinsprozessen der Menschheit.

Das Phänomen der Schrift ist - in gewisser Weise vergleichbar mit dem Feuer und anderen frühen Kulturwerkzeugen der modernen Menschheit - eine “späte“ Erfindung der menschheitlichen Entwicklung, deren Tradierung und Verbreitung nur vor dem Hintergrund von langfristigem globalem Informationsaustausch möglich war und weiterhin ist.

Gegenwärtig feststellbare Entwicklungsunterschiede einzelner Menschengruppen lassen sich primär durch die jeweilige historische Bedeutung von geographischen Rahmenbedingungen erklären. Diese ermöglichten oder behinderten überregionale Kommunikations- und Lernprozesse, die ihrerseits den Motor der Dynamik des menschheitlichen Entwicklungsprozesses darstellen.

Hochkulturen sind das Ergebnis von Diffusionsprozessen unterschiedlicher Gesellschaften. Die ägyptische Kultur wurde, wie auch die griechische, von afrikanischen, asiatischen und europäischen Elementen und Prozessen geprägt. Diffusion und Kommunikation sind auch schon für die frühe Menschheitsgeschichte wichtig: Gesellschaftliche Entwicklungen werden durch zwischengesellschaftliche Kontakte und Verbindungen ermöglicht und befördert (Formen der militärischen, ökonomischen oder kulturellen Expansion, freiwillige und erzwungene Wanderungen).

Im entwicklungstheoretischen Kontext werden die angeführten Beispiele aus der Ur- und Frühgeschichte dahin gehend ergänzt, dass bisherige Deutungen des Übergangs von der “feudalistischen Vormoderne“ in die “kapitalistische Moderne“ (von K. Marx über M. Weber und T. Parsons bis hin zu I. Wallerstein) nach A. G. Frank empirisch unhaltbare Fortschreibungen eurozentristischer Vorurteile sind: Entwicklung spielt sich nicht nur im isolierten Raum von einzelnen Menschengruppen ab, sondern ist - historisch, gegenwärtig und zukünftig - immer eingebettet in menschheitliche Entwicklungsprozesse.

In der Dissertation wurde die Synthese dieser neuakzentuierten Argumentationsmuster, in denen den Aspekten der “Kommunikation“ und “Diffusion“ ein zentraler Stellenwert für die Dynamik von Entwicklung zugeschrieben wird, durch eine beispielhafte Längsschnittanalyse deutschsprachiger Schulgeschichtsbücher von 1870 bis 1999 ergänzt. Dabei zeigt sich zunächst die langsame Ablösungsgeschichte der christlichen Ideologie und die schrittweise Übernahme wissenschaftlicher Paradigmen. Nationalistische und rassistische Positionen sind für den Zeitraum 1919 bis 1945 sehr deutlich, während für die Perioden nach 1945 der Versuch deutlich wird, wissenschaftlich begründete - nationalistische, rassistische und religiöse - Ausgrenzungsparadigmen als Richtmaß für die Interpretation von Geschichte zu überwinden. Andererseits wird auch in vielen der heutigen Schulbuchdarstellungen weiterhin ein Geschichtsbild legitimiert und tradiert, das insbesondere die regionale Unterschiedlichkeit von menschlichen Zivilisationen betont und Gemeinsamkeiten, sowie Diffusionsprozesse und Zusammenhänge ignoriert. Die Darstellung der Differenz als Defizit ist eng verbunden mit der normativen Orientierung an der europäischen Zivilisation. Insofern müssen auch die neuesten Darstellungen der untersuchten Leitkomplexe aus pädagogischer Sicht als kontraproduktiv und überholt beurteilt werden.

Wir werden uns bemühen, ein Folgeprojekt zu verwirklichen. In ihm soll die nationale, diachrone Fallstudie durch eine weltweite, synchrone (bzw. begrenzt diachrone) Analyse von Schulgeschichtsbüchern (und / oder Curricula) aus ca. 25 Ländern ergänzt werden. Die auf diese Weise generierten systematischen Informationen und Beobachtungen sollten dann ausgewertet werden, um u. a. folgende Fragestellungen zu beantworten:

Wird der Ursprung der heutigen Menschheit bzw. der “eigenen Gruppe“ überhaupt thematisiert und wenn ja, auf der Grundlage welcher (religiös-mythischen und/oder wissenschaftlichen) Konzepte?

Wird die Entstehung und Entwicklung von Kultur und kulturellen Werkzeugen überhaupt thematisiert und wenn ja, in welchen sachlichen, sozialen und zeitlichen Zusammenhängen?

Welche “Unterschiede“ und welche “Gemeinsamkeiten“ von Menschen und ihren Lebensverhältnissen (bzw. die ihnen zu Grunde liegenden Begriffe / Kategorien / Theorien) werden überhaupt erwähnt bzw. “erklärt“?

Vor dem Hintergrund der neueren Modelle und Theorien für den Verlauf und die Dynamik von Entwicklungs- und Zivilisierungsprozessen und der tatsächlichen Vielfalt von gesellschaftlich akzeptierten Wissensbeständen (die u. a. über Schulbücher identifiziert werden können) zeichnet sich in Umrissen ab, welchen kognitiv-wissenschaftlichen Standards kanonisierte Kurzfassungen in Schulbüchern (z. B. der Geschichte, Biologie, Geographie) künftig genügen müssten bzw. sollten.

Beteiligte Wissenschaftler:

Götte, Katharina; Idems, Christine; Jansen, Rainer, Prof. Dr. Jens Naumann; Uwe Schulz

Veröffentlichungen:

Jansen, Rainer und Naumann, Jens (2001): “Weltgesellschaft, Menschheitsgeschichte und Curriculum“. In: Jahrbuch für Pädagogik, 2001, Zukunft. Frankfurt/Main: Lang, S. 85-106.

Jansen, Rainer und Naumann, Jens (2002): “Der lange Weg von nationalistischen und rassistischen Menschenbildern zum Konzept des kollektiven Lernens der Menschheit in der Einen Welt“. In: Internationale Schulbuchforschung, Wolfgang Höpken (Hrsg.) Heft 4, S. 353-385.

Jansen, Rainer (2003): “Schwarz in Weiß - Von der Frühgeschichte zur Zukunft der Menschheit am Beispiel des Verhältnisses von wissenschaftlichem Erkenntnisstand und schulischem Kanon [in Deutschland seit 1875].“ Unveröffentlichte Dissertation an der WWU-Münster

 
 

Hans-Joachim Peter
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Datum: 2003-09-08