Analyseschwerpunkte

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  • Klassenführung

    Analyseschwerpunkt Klassenführung

    Fach Bildungswissenschaften (Psychologie) und Berufspädagogik

    Christina Gippert, Bernadette Gold & Manfred Holodynski (Psychologie)

    Wilhelm Koschel & Ulrike Weyland (Berufspädagogik)

     

    Das Konzept der Klassenführung bezeichnet die Art und Weise, wie eine Lehrperson die einzelnen Unterrichtsaktivitäten ihres Unterrichts einvernehmlich mit den Schülerinnen und Schülern etabliert und ihren störungsfreien und reibungslosen Ablauf gewährleistet – mit dem Ziel, die aktive Lernzeit für jeden Lernenden zu maximieren. Unterrichtsaktivitäten stellen Interaktionen zwischen Lernenden, Lerngegenstand und Lehrperson dar, die nach bewusst gesetzten Regeln ablaufen sollten und festlegen, was Lehrperson und Lernende in Bezug auf den Lernstoff zu tun haben. Beispiele für Unterrichtsaktivitäten sind Unterrichtsgespräch, Lehrervortrag, Lehrerdemonstration, Stillarbeit, Stationenlernen, Gruppenpuzzle. Effiziente Klassenführung gilt als wesentliche Voraussetzung, um eine anregende Lernumgebung für eine Gruppe von Lernenden zu schaffen (Gold & Holodynski, 2011; Ophardt & Thiel, 2013). In Metaanalysen konnte die Bedeutung der Klassenführung für den Lernerfolg von Schülerinnen und Schüler eindeutig bestätigt werden (Hattie, 2009; Seidel & Shavelson, 2007; Wang Haertel & Walberg, 1993).

    Ausgangspunkt jeglicher Klassenführung ist die Tatsache, dass eine Klasse an Schülerinnen und Schülern grundsätzlich heterogen ist bzgl. vielfältiger lernrelevanter Merkmale wie z. B. ihrer Lernmotivation, ihrem Vorwissen und ihrem intellektuellen Potenzial. Diese Heterogenität erschwert ein effizientes Lernen in einem Klassenverband. Denn aus lernpsychologischer Sicht kann eine Lehrperson das Lernen eines Schülers oder einer Schülerin am effizientesten im Einzel- oder Kleingruppenunterricht unterstützen, da hier die Möglichkeit einer optimalen Passung zwischen Lernenden, Lernmaterial und Lehrendem besteht (Dollase, 1995; Gold & Holodynski, 2011). Eine effiziente Klassenführung ist der Versuch, die bestmögliche Lösung für diese suboptimale Lernsituation in einem Klassenverband zu finden und angemessene Lerngelegenheiten und Feedback für möglichst jeden der Lernenden zeitgleich zu gewährleisten.

    In Anlehnung an Kounin (2006/1976) und Doyle (1986) lassen sich prozessorientierte und strukturorientierte Unterrichtsmaßnahmen der Klassenführung unterscheiden. Prozessorientierte Maßnahmen zielen auf die unmittelbare Regulation des aktuellen Unterrichtsgeschehens. Dazu gehören das Monitoring der Schüleraktivitäten durch die Lehrperson und das reibungslose Strukturieren des Unterrichtsablaufes. Strukturorientierte Maßnahmen zielen darauf, langfristig eine Unterrichtsstruktur zu etablieren, in der das Verhältnis von individualisiertem Lernfeedback und der Ablaufsteuerung der Unterrichtsaktivitäten maximiert ist, um dadurch die individuelle Lernzeit der Schülerinnen und Schüler zu maximieren. Zu den strukturorientierten Maßnahmen gehören das Etablieren und Nutzen von Unterrichtsregeln, Routinen und Ritualen, um Zeit für organisatorische Monitoringaufgaben zu minimieren und Zeit für lernstoffbezogene Monitoringaufgaben zu maximieren. Ein effizientes Ineinandergreifen von prozess- und strukturorientierten Maßnahmen unterstützt auf lange Sicht ein lernförderliches Klassenklima und eine effektive Nutzung der Lernzeit. Die Facetten des Monitorings, der Strukturierung sowie der Etablierung von Regeln und Routinen werden im Folgenden näher beschrieben (vgl. auch Ophardt & Thiel, 2013; Thiel, 2016).

     

    1. Monitoring der Schüleraktivitäten durch die Lehrperson

    Das Monitoring beinhaltet alle Maßnahmen, mit denen eine Lehrperson das Verhalten der einzelnen Schülerinnen und Schüler überwacht und reguliert, sei es verbal oder nonverbal. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Schülerinnen und Schüler einer Klasse das Unterrichtsgeschehen aufgrund ihrer Heterogenität in sehr unterschiedlicher Weise verfolgen und verstehen. Der Lehrperson fällt die Aufgabe zu, fortlaufend die Passung zwischen Unterrichtsangebot und Nutzung des Angebots durch die Schülerschaft zu überwachen und ggf. eine Passung durchaus individuell für einzelne Schüler immer wieder aufs Neue herzustellen.

    Dazu gehört die Allgegenwärtigkeit als die Fähigkeit der Lehrperson, umfassend darüber informiert zu sein, ob und inwiefern die Schülerinnen und Schülern dem Unterricht folgen und ihn verstehen, und ihnen dies auch zurückzumelden. Dadurch sollen die Lernenden den Eindruck gewinnen, dass die Lehrkraft über alles, was in der Klasse vor sich geht, "im Bilde" ist und wenn nötig eingreifen wird.

    Bedeutungsvoll ist in diesem Zusammenhang einerseits die Reaktion auf Störverhalten: Als effektiv hat sich eine kurze und bündige Reaktion zum richtigen Zeitpunkt (prompte oder zeitlich nahe Reaktion auf das Störverhalten, bevor sich dieses verstärken kann) gegenüber der richtigen Person (Ansprache des störenden Kindes) erwiesen, so dass sich das Störverhalten nicht auf weitere Personen ausbreiten kann. Darüber hinaus bezieht sich das Monitoring auf positives Feedback und die Vermittlung von positiver Präsenz, beispielsweise in Form von Lob, bestärkender Mimik und Gestik sowie das Bemerken abwesender Schülerinnen und Schüler oder einer für Einzelne ungünstigen Sitzordnung.

    Zum Monitoring gehört auch die Überlappung als Fähigkeit einer Lehrperson, zwei oder mehrere parallele Unterrichtsprozesse zeitgleich aufmerksam steuern zu können, z. B. wenn eine Störung unterbunden und das Unterrichtsgespräch simultan fortgesetzt werden muss.

     

    2. Reibungsloses Strukturieren des Unterrichtsverlaufs

    Eine erfolgreiche Klassenführung zeigt sich in einer geschickten Auswahl und reibungslosen Strukturierung von Unterrichtsaktivitäten. Dazu zählt zum einen, dass eine Lehrperson für reibungslose Übergänge zwischen den Unterrichtsaktivitäten sorgt, denen die Schülerinnen und Schüler gut folgen können, so dass sie den Unterricht ohne Verzögerung fortführen kann. Zum anderen zählt dazu, dass eine Lehrperson für einen schwungvollen Verlauf innerhalb einer Unterrichtsaktivität sorgt, indem sie z. B. in zu lang dauernde Prozesse eingreift, die Gruppe mobilisiert, Rechenschaft über das (Lern-)Verhalten einfordert und dazu konstruktives Feedback gibt. Das Tempo des Unterrichts sollte adäquat auf das Lerntempo der Schülerinnen und Schüler abgestimmt sein und nicht zu langsam ablaufen, so dass diese sich zu langweilen beginnen, oder zu schnell ablaufen, so dass diese dem Unterricht nicht mehr folgen können.

     

    3. Etablieren und Befolgen von Unterrichtsregeln, -routinen und -ritualen

    Eine erfolgreiche Klassenführung sorgt auch dafür, dass die Ablaufsteuerung von häufig verwendeten Unterrichtsaktivitäten wie z. B. Unterrichtsgespräch, Stationenlernen, Lehrerdemonstration, Wochenplanarbeit mit den Schülerinnen und Schülern explizit eingeübt wird, so dass allen Beteiligten klar ist, was sie in Bezug auf den Lernstoff wann und wie zu tun haben. Ein gut organisierter Unterricht zeigt sich in eingeübten, regelgeleiteten Unterrichtsaktivitäten, an die sich die Schülerinnen und Schüler auch ohne direkte Lehreranweisung halten. Er zeigt sich auch an expliziten Anweisungen, durch die die Lehrperson an die Einhaltung dieser Regeln (allgemeine Standards des Verhaltens) erinnert, für deren Einhaltung sorgt und Konsequenzen festlegt.

    Darüber hinaus spielt die Etablierung von Ritualen und Routinen eine Rolle, um die Schülerinnen und Schüler in ihrem alltäglichen Schultagesablauf zu orientieren. Rituale zielen auf die Förderung des Gruppenzusammenhalts. Sie bestehen aus Interaktionsmustern, die einer festgelegten, ritualisierten Ordnung folgen, in der die Gruppe als Gruppe zelebriert wird wie z. B. das Singen eines „Klassenliedes“ oder ein Begrüßungsritual zu Beginn einer Unterrichtsstunde. Routinen hingegen stellen regelgeleitete und eingeübte Verhaltensweisen für immer wiederkehrende Situationen dar, die eine lern- und zeiteffiziente Organisation der Klasse ermöglichen, wie z. B. Aufmerksamkeitsroutinen („Hände über die Ohren“, wenn es zu laut ist), oder der reibungslose Wechsel von Tischgruppen in einen Sitzkreis.

     


    Literatur:

    Dollase, R. (1995). Die virtuelle oder psychologische Reduzierung der Schulklassengröße. Eine neue Interpretation der unterrichtlichen Komplexitätsreduktion. Bildung und Erziehung, 48, 131-144.

    Doyle, W. (1986). Classroom organization and management. In M. C. Wittrock (Ed.), Handbook on research on teaching (3 ed., pp. 392-431). New York, NY: Macmillan.

    Gold, B. & Holodynski, M. (2011). Klassenführung. In E. Kiel & K. Zierer (Hrsg.), Basiswissen Unterrichtsgestaltung, Band 3: Unterrichtsgestaltung als Gegenstand der Praxis (S. 133-151). Hohengehren: Schneider Verlag.

    Hattie, J. (2013). Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

    Kounin, J. S. (1976/2006): Techniken der Klassenführung. Bern: Huber.

    Ophardt, D. & Thiel, F. (2013). Klassenmanagement: Ein Handbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.

    Seidel, T. & Shavelson, R. J. (2007). Teaching effectiveness research in the past decade: The role of theory and research design in disentangling meta-analysis results. Review of Educational Research, 77, 454-499.

    Thiel, F. (2016). Interaktion im Unterricht. Opladen: Barbara Budrich.

    Wang, M. C., Haertel, G. D., & Walberg, H. J. (1993). Toward a knowledge base for school learning. Review of Educational Research, 63, 249-294.

     

     

    Weiterführende Literatur:

    Eichhorn, C. (2011). Classroom-Management: Wie Lehrer, Eltern und Schüler guten Unterricht gestalten (4. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

    Das Buch ist ein Praxisratgeber, der wertvolle und fundierte Hinweise für die Gestaltung von konkreten Klassenführungsmaßnahmen enthält.

    Emmer, E. T. & Evertson, C. M. (2012). Classroom management for middle and high school teachers (9. Aufl.). New York: Addison Wesley.

    Evertson, C. M. & Emmer, E. T. (2012). Classroom management for elementary teachers (9. Aufl.). New York: Addison Wesley.

    Die Bücher geben eine umfassende praxisorientierte Einführung in die Einführung und Etablierung einer effizienten Klassenführung in Primarstufen- und Sekundarstufenklassen. Sie sind in didaktischer Hinsicht mustergültig aufbereitet und  sehr eingängig und gut strukturiert.

    Gold, B. & Holodynski, M. (2011). Klassenführung. In E. Kiel & K. Zierer. (Hrsg.), Basiswissen Unterrichtsgestaltung, Band 3: Unterrichtsgestaltung als Gegenstand der Praxis (S. 133-151). Hohengehren: Schneider Verlag.

    Der Text gibt eine gut strukturierte und aktuelle Einführung in die Klassenführung im Unterricht.

    Kounin, J. S. (1976/2006): Techniken der Klassenführung. Stuttgart: Klett.

    Kounins Buch über seine Unterrichtsanalysen sind der Klassiker zur Klassenführung.

    Ophardt, D. & Thiel, F. (2013). Klassenmanagement: Ein Arbeitsbuch für die Schule. Stuttgart: Kohlhammer.

    Thiel, F. (2016). Interaktion im Unterricht. Opladen: Barbara Budrich.

    Beide Bücher geben einen umfassenden und fundierten Überblick über die Forschungsergebnisse zur Klassenführung. Sie können als Einstieg in die Merkmale der Klassenführung und ihrer Vermittlung an Lehrpersonen genutzt werden.


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  • Allgemeine Lernunterstützung

    Analyseschwerpunkt Allgemeine Lernunterstützung

    Fach Geographie

    Michael Hemmer, Melissa Meurel & Julia Rottstegge

     

    Lehrpersonen werden im Unterrichtsalltag mit der Heterogenität von Lerngruppen konfrontiert (Budde, 2015). So unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihrer kognitiven und affektiven Lernvoraussetzungen. Hierzu zählen im kognitiven Bereich z. B. die Leistungen und das Vorwissen sowie im affektiven Bereich das Interesse und die Motivation (Bloom, 1976). Um adäquate Lernarrangements im Unterricht gestalten zu können, muss eine Lehrperson u. a. fähig sein, lern- und heterogenitätsrelevante Ereignisse im komplexen Unterrichtsgeschehen zu identifizieren, diese theoriegeleitet zu interpretieren und Handlungsalternativen entwickeln zu können. Dies stellt den Kern ihrer professionellen Unterrichtswahrnehmung dar (Kunter et al., 2011).

    Als relevante Merkmale eines lernförderlichen Unterrichts in heterogenen Lerngruppen werden fachübergreifend in der Literatur insbesondere die innere Differenzierung, die inhaltliche Strukturierung sowie die kognitive Aktivierung angeführt (u. a. Bohl, 2017, Helmke, 2014, Pietsch, 2010). Diese drei lernunterstützenden Maßnahmen bilden das theoriegeleitete Konstrukt der Videoanalysen im Fach Geographie. Die im Videoportal dokumentierten fachspezifischen Unterrichtsausschnitte (Videoclips) wurden so ausgewählt, dass sie sich für die Analyse der nachfolgend skizzierten lernunterstützenden Maßnahmen besonders eignen.

     

    Innere Differenzierung

    Von innerer Differenzierung wird gesprochen, wenn die Lehrperson für die Schülerinnen und Schüler im Klassenverband Lernangebote in einer Weise initiiert, dass diese ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechend lernen können (Trautmann & Wischer, 2007). Für den Fachunterricht sind vielfältige Heterogenitätsaspekte wie z. B. fachbezogenes Wissen und Erfahrungen, Interesse, soziale und kulturelle Hintergründe besonders relevant (Prediger & von Aufschnaiter, 2017). Die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler gelten im Umgang mit Heterogenität als Anknüpfungspunkte für Differenzierungsbemühungen (Bahr, 2013). Diese können aus folgenden Maßnahmen bestehen:

     

    1. Bei Lernschwierigkeiten kann eine Lehrperson Lernstrategiehilfen geben sowie die Lernmaterialien und ihre Instruktionen in sprachsensibler Weise für die Schülerinnen und Schüler aufbereiten (Uhlenwinkel, 2012).
    2. Die Lehrperson kann Aufgabenbearbeitungen und Ergebnispräsentationen in ihrer Qualität (z. B. fachspezifische Anforderungsbereiche und Niveaustufen) und/oder Quantität (z. B. Anzahl der Aufgaben und Umfang des Ergebnisses) an die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen (z. B. Lerntempo, Lerntypen, Lerninteresse) der Schülerinnen und Schüler anpassen (Flath, 2006).
    3.  Die Lehrperson ermöglicht den Schülerinnen und Schülern, das Thema, das Material und die Methoden sowie die Sozialform eigenständig auszuwählen. Dadurch können die Schülerinnen und Schüler ihr Lernen entsprechend ihrer Lernvoraussetzungen aktiv mitgestalten. (Reuschenbach, 2010)

      

    Inhaltliche Strukturierung

    Ziel der inhaltlichen Strukturierung von Unterricht ist es, den Schülerinnen und Schülern Orientierungshilfen in fachlichen Lernprozessen zu geben (Kleickmann, 2012). Um dieses Ziel zu erreichen, bieten sich verschiedene Maßnahmen an:

     

    1. Die Lehrperson macht den Schülerinnen und Schülern das Lernziel und das Vorgehen in der Unterrichtsstunde zur Erreichung des Lernziels transparent (Möller, 2016).
    2. Sie sequenziert die Lerninhalte in inhaltliche Teilbereiche (z. B. bei Arbeitsaufträgen), um die Komplexität geographiefachlicher Sachverhalte zu reduzieren und für Lernende verständlicher zu machen (Rakoczy, Klieme, Lipowsky & Drollinger-Vetter, 2010).
    3. In den Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern hebt die Lehrperson wichtige fachliche Aussagen hervor, ordnet sie in den fachlichen Zusammenhang ein und fasst Ergebnisse in verständlicher Weise zusammenfassen (Lipowsky, 2007).
    4. Durch den Einsatz von Veranschaulichungen kann die Lehrperson mündliche Gesprächsbeiträge für die Lernenden nachvollziehbar aufbereiten und für eine Ergebnissicherung dokumentieren (Meschede, 2014).
    5. Die Lehrperson greift schülergemäße Formulierungen, soweit sie den Sachverhalt korrekt wiedergeben, auf, klärt die Bedeutung von Fachbegriffen und fordert die Schülerinnen und Schüler auf, sich in ihren inhaltlichen Beiträgen präzise und begründet auszudrücken. Gleichzeitig wählt die Lehrkraft eine klare Sprache für ein besseres Verständnis des vermittelten Lerngegenstandes (Kleickmann, 2012).

     

     

    Kognitive Aktivierung

    Das Lernen im Geographieunterricht soll, in Anlehnung an die Ansätze der konstruktivistischen Lerntheorie, als aktiver Prozess gestaltet werden, durch den die Schülerinnen und Schüler ihre vorhandenen Wissensstrukturen erweitern und umstrukturieren können (Kunter & Trautwein, 2013). Hierfür sind Lernangebote im Unterricht notwendig, die das Potenzial bieten, Schülerinnen und Schüler kognitiv zu aktivieren, um diese zu einem vertieften fachlichen Nachdenken über die Unterrichtsinhalte anzuregen (Einsiedler & Hardy, 2010). Mögliche Maßnahmen der Förderung der kognitiven Aktivierung im Unterricht sind:

     

    1. Die Lehrperson versucht das Vorwissen und die individuellen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler über den Lerngegenstand in Erfahrung zu bringen und in der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen. So können die Lernenden neue Informationen mit bereits vorhandenem Wissen verknüpfen und systematische Zusammenhänge erkennen (Reinfried, 2007).
    2. Im Geographieunterricht sollte die Lehrperson durch Konfrontation und Infragestellen von Aussagen oder Vermutungen bei den Lernenden kognitive Konflikte erzeugen (z. B. durch das Gegenüberstellen unterschiedlicher Sichtweisen/ Schülervorstellungen), um eine problemorientierte Fragestellung zu initiieren (Kunter & Voss, 2011).
    3.  Aufbauend auf einer problemorientierten Fragestellung können die Schülerinnen und Schüler Hypothesen und Lösungswege generieren, überprüfen und diskutieren. In diesem Rahmen kann die Lehrkraft metakognitive Denkprozesse anleiten, indem sie eine Kommunikationskultur in der Lerngruppe fördert, in welcher den Schülerinnen und Schülern ermöglicht wird, sich über Lösungswege/ Konzepte auszutauschen und diese zu diskutieren (Kleickmann, 2012).
    4. Die Implementation von herausfordernden Aufgaben, anstelle von bloßen Reproduktionsaufgaben, fördert eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand aus dem Fach Geographie (Lipowsky, 2007).
    5. Darüber hinaus kann die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler unterstützen, das erworbene Fachwissen zu verallgemeinern und in neuen Kontexten anzuwenden bzw. wiederzuentdecken (Heymann, 2015).


     

     

    Literatur:

     

    Bahr, M. (2013). Der Vielfalt mit Vielfalt begegnen. Binnendifferenzierung im Geographieunterricht. Praxis Geographie, 43(6), 4–9.

    Bloom, B. S. (1976). Human characteristics and school learning. New York, NY: McGraw-Hill.

    Bohl, T. (2017). Umgang mit Heterogenität im Unterricht: Forschungsbefunde und didaktische Implikationen. In T. Bohl, J. Budde & M. Rieger-Ladich (Hrsg.), Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Grundlagentheoretische Beiträge, empirische Befunde und didaktische Reflexionen (S. 257–274). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Budde, J. (2015). Heterogenitätsorientierung. Zum problematischen Verhältnis von Heterogenität, Differenz und sozialer Ungleichheit im Unterricht. In J. Budde, N. Blasse, A. Bossen & G. Rißler (Hrsg.), Heterogenitätsforschung. Empirische und theoretische Perspektiven (S. 8–17). Weinheim: Juventa.

    Einsiedler, W. & Hardy, I. (2010). Kognitive Strukturierung im Unterricht. Einführung und Begriffsklärungen. Unterrichtswissenschaft, 38, 194–209.

    Flath, M. (2006). Differenzierung im Geographieunterricht: Ja! Aber wie? Praxis Geographie, 36(12), 62–64.

    Helmke, A. (2014). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts (5. überarbeitete Aufl.). Seelze: Klett-Kallmeyer.

    Heymann, H. W. (2015). Warum sollte Unterricht kognitiv aktivieren? Pädagogik, 67(5), 6–9.

    Kleickmann, T. (2012). Kognitiv aktivieren und inhaltlich strukturieren im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Kiel: IPN.

    Kunter, M., Baumert, J., Blum, W., Klusmann, U., Krauss, S. & Neubrand, M.  (2011). Professionelle Kompetenz von Lehrkräften: Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster: Waxmann.

    Kunter, M. & Trautwein, U. (2013). Psychologie des Unterrichts. Paderborn: Schöningh.

    Kunter, M. & Voss, T. (2011). Das Modell der Unterrichtsqualität in COACTIV: Eine multikriteriale Analyse. In M. Kunter, J. Baumert, W. Blum, U. Klusmann, S. Krauss & M. Neubrand (Hrsg.), Professionelle Kompetenz von Lehrkräften: Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV  (S . 85–113). Münster: Waxmann.

    Lipowsky, F. (2007). Was wissen wir über guten Unterricht? Friedrich Jahresheft, 25(1), 26–30.

    Meschede, N. (2014). Professionelle Wahrnehmung der inhaltlichen Strukturierung im naturwissenschaftlichen Grundschulunterricht. Theoretische Beschreibung und empirische Erfassung. Berlin: Logos.

    Möller, K. (2016). Bedingungen und Effekte qualitätsvollen Unterrichts – ein Beitrag aus fachdidaktischer Perspektive. In N. McElvany, W. Bos & H. G. Holtappels (Hrsg.), Bedingungen und Effekte guten Unterrichts (S. 43–64). Münster: Waxmann.

    Pietsch, M. (2010). Evaluation von Unterrichtsstandards. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 13, 121–148.

    Prediger, S. & von Aufschnaiter, C.  (2017). Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen aus fachdidaktischer Perspektive: fachspezifische Anforderungs- und Lernstufungen berücksichtigen. In T. Bohl, J.

    Budde & M. Rieger-Ladich (Hrsg.), Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht  (S. 291–307). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Rakoczy, K., Klieme, E., Lipowsky, F. & Drollinger-Vetter, B. (2010). Strukturierung, kognitive Aktivität und Leistungsentwicklung im Mathematikunterricht. Unterrichtswissenschaft, 38, 229–246.

    Reinfried, S. (2007). Alltagsvorstellungen und Lernen im Fach Geographie. Geographie und Schule, 29 (168), 120–135.

    Reuschenbach, M. (2010). Individualisierung im Geographieunterricht. Oder: Die überfällige Berücksichtigung einer längst bekannten Variable. Geographie heute, 31 (285), 2–9.

    Trautmann, M. & Wischer, B. (2007). Individuell fördern im Unterricht. Was wissen wir über Innere Differenzierung? Pädagogik, 59(12), 44–48.

    Uhlenwinkel, A. (2012). Binnendifferenzierung. In J.-B. Haversath (Hrsg.), Geographiedidaktik. Theorie, Themen, Forschung (S. 330–343). Braunschweig: Westermann.

     

    Weiterführende Literatur:

    Bohl, T., Budde, J. & Rieger-Ladich, M. (2017). Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Grundlagentheoretische Beiträge, empirische Befunde und didaktische Reflexionen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Hertel, S., Fingerle, M. & Rohlfs, C. (2016). Gestaltung adaptiver Lerngelegenheiten in der Schule. In K. Rabenstein & B. Wischer (Hrsg.), Individualisierung schulischen Lernens. Mythos oder Königsweg? (S. 64–75). Seelze: Klett/Kallmeyer.

    Hess, M. & Lipowsky, F. (2016). Unterrichtsqualität und das Lernen der Schüler. In M. Rothland (Hrsg.), Beruf Lehrer/Lehrerin. Ein Studienbuch (S. 149–169).  Stuttgart: UTB.

    Höhnle, S., Pape, C. & Uphues, R. (2011). Differenzierung im Geographieunterricht. In M. Eisenmann & T. Grimm (Hrsg.), Heterogene Klassen – Differenzierung in Schule und Unterricht (S. 155–172). Baltmannsweiler: Schneider. 

    Lipowsky, F. (2006). Auf den Lehrer kommt es an. Empirische Evidenzen für Zusammenhänge zwischen Lehrerkompetenzen, Lehrerhandeln und dem Lernen der Schüler. Zeitschrift für Pädagogik, 51, 47–65.

    Möller, K. (2016). Bedingungen und Effekte qualitätsvollen Unterrichts – ein Beitrag aus fachdidaktischer Perspektive. In N. McElvany, W. Bos & H. G. Holtappels (Hrsg.), Bedingungen und Effekte guten Unterrichts (S. 43–64). Münster: Waxmann.

    Reiser, B. (2004). Scaffolding complex learning: The mechanisms of structuring and problematizing student work. The Journal of the Learning Sciences, 13, 273–304.

     


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  • Sprachsensible Lernunterstützung

    Analyseschwerpunkt Sprachsensible Lernunterstützung

    Fach Sachunterricht in der Grundschule

    Oliver Grewe & Kornelia Möller

     

    1.      Sprache im Unterricht

    Die Sprache bildet die Grundlage eines jeden Unterrichts und ist für diesen in mehrfacher Hinsicht bedeutend. Zum einen finden viele Unterrichtshandlungen auf sprachlicher Ebene statt, sei es die Beschreibung einer Beobachtung, das Formulieren einer Frage, das Verfassen eines Ergebnisprotokolls oder das Verstehen eines Arbeitsauftrags (vgl. Merzyn, 2008). Zudem sind die (bildungs-)sprachlichen Kompetenzen für die Erfassung und Bewertung der Lernleistungen ausschlaggebend und stellen somit einen zentralen Faktor für den Bildungserfolg dar (Thürmann & Vollmer, 2011). Der Zusammenhang zwischen sprachlichen und fachlichen Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern bzw. ihren bewerteten Lernleistungen wurde schon in der PISA-Studie (2003) aufgezeigt und in zahlreichen weiteren Studien bestätigt (Leisen, 2010). Besonders Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind im Fachunterricht häufig sprachlich überfordert und haben große Probleme, die geforderten Kompetenzen in der Zweitsprache Deutsch zu erfüllen (Baumert & Schümer, 2001).

    Doch wie gehen Lehrpersonen mit der großen Herausforderung um, fachbezogenes Lernen auch für Lernende mit unzureichenden sprachlichen Kompetenzen zu ermöglichen? Ein wesentliches Ergebnis von Riebling (2013) hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage ist, dass Lehrpersonen, insbesondere in naturwissenschaftlichen Fächern, den Unterricht oftmals sprachlich entlasten, anstatt ihn sprachförderlich anzureichern (Pineker-Fischer, 2017). Fast 60 Prozent der befragten Lehrpersonen greifen auf eine Vereinfachung der Unterrichtssprache zurück, und ein Viertel verzichtet aufgrund der fehlenden Verständlichkeit auf den Einsatz von Texten (ebd.; Riebling, 2013). Eine Vermittlung von fachlichen Inhalten, die anstelle einer Sprachvermeidung eine Sprachförderung erfolgt, wird dagegen erst in Ansätzen umgesetzt (Becker-Mrotzek et al., 2012). Zudem mangelt es an Konzepten, die sprachliche Schwierigkeiten beim fachbezogenen Lernen berücksichtigen und zugleich beachten, dass das Erlernen einer fachbezogenen Sprache nicht vom fachbezogenen Lernen zu trennen ist und daher beim fachbezogenen Lernen gefördert werden sollte (Boubakri et al., 2017; Leisen, 2011). Leisen definiert einen Unterricht, der einen bewussten Umgang mit Sprache beim fachbezogenen Lehren und Lernen verfolgt, als einen sprachsensiblen Fachunterricht. Ein sprachsensibler Fachunterricht ist nach diesem Ansatz keine organisatorische, additive Sonderform zum übrigen Fachunterricht, sondern wird in diesen integriert (Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule NRW, 2018; Vollmer & Thürmann, 2013). 

     

     

    2.      Sprachsensibilität im Sachunterricht

    Der Sprache kommt im Sachunterricht eine besondere Bedeutung zu, da im Sachunterricht der Grundstein für die (fach-)sprachliche Entwicklung in acht Fächern der Sekundarstufe I gelegt wird (Quehl & Trapp, 2013). Zugleich bietet der Sachunterricht vielfältige Möglichkeiten für eine sprachliche Förderung, da Sprache in diesem Fach oftmals anhand von Gegenständen und Prozessen erlernt werden kann (Wildemann & Fornol, 2016). Zum Beispiel verdeutlicht die Auflistung der im Sachunterricht zu erlernenden naturwissenschaftlichen „Verfahren“, wie das Protokollieren eines Versuchsablaufs, die Vielfältigkeit und Häufigkeit von Sprachhandlungen sowie deren Potential für eine Förderung der Sprache im Sachunterricht (vgl. Perspektivrahmen Sachunterricht, Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts, 2013).

     

    3.      Lernunterstützung im Sachunterricht

    Lernende treten häufig mit fest verankerten und teilweise naiven Vorstellungen in den Unterricht ein. Ein Ziel des Unterrichts ist es, dass Schülerinnen und Schüler ihre Vorstellungen hin zu wissenschaftlich angemesseneren Vorstellungen verändern und ihr Wissen umstrukturieren. Damit diese häufig schwierige Umstrukturierung von Vorstellungen und anstrengende Konstruktion von Wissen gelingen kann, sollte die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler in ihrem Denken angemessen unterstützen (Duit, 1997; Möller, 2010; Möller et al., 2011). Ergebnisse der Unterrichtsqualitätsforschung belegen, dass eine kognitive Aktivierung und eine inhaltliche Strukturierung des Unterrichts den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler positiv beeinflussen (Lipowsky, 2006; Möller, 2016).

    Eine erfolgreiche Lernunterstützung durch die Lehrperson besteht daher einerseits darin, die Lernenden kognitiv herauszufordern, d.h. sie zum Nach- und Weiterdenken anzuregen, um die aktive Konstruktion und Veränderung von Vorstellungen zu ermöglichen (Kognitive Aktivierung). Andererseits sollte die Lehrperson die Komplexität von Lernsituationen so reduzieren, dass ein Verstehen ermöglicht wird und die Lernenden dem Unterrichtsablauf folgen können (Inhaltliche Strukturierung). Im Videoportal ViU: Early Science werden kognitiv aktivierende und inhaltlich strukturierende Maßnahmen einer Lehrperson differenziert beschrieben und anhand von Videoclips und Szenen konkretisiert.

    Da viele lernunterstützende Maßnahmen einer Lehrperson sprachlich initiiert sind, kann der Erfolg solcher Maßnahmen innerhalb einer Schülergruppe, die eine große Heterogenität in den sprachlichen Fähigkeiten aufweist, von Sprachbarrieren behindert werden.

    An dieser Stelle setzt eine „sprachsensible Lernunterstützung“ an: Die Integration sprachsensibler Maßnahmen in den Unterricht soll zum Abbau möglicher Sprachbarrieren hinsichtlich eines potenziellen Erfolgs der Maßnahmen zur kognitiven Aktivierung und inhaltlichen Strukturierung beitragen. Die sprachsensiblen Maßnahmen sind daher nicht als Ersatz für lernunterstützende Maßnahmen anzusehen, sondern sollen deren Wirksamkeit auch in sprachheterogenen Schülergruppen fördern.

     

    © ProVision

    4.      Maßnahmen der sprachsensiblen Lernunterstützung

    Im Rahmen des Teilprojekts 3 der Qualitätsoffensive Lehrerbildung an der WWU Münster wurden sprachsensible Maßnahmen für den Sachunterricht zusammengetragen, wobei ein deduktives und induktives Verfahren gewählt wurde: Zum einen wurden Forschungsergebnisse zur fachbezogenen Sprachförderung (siehe Literaturliste) für den Sachunterricht adaptiert und zum anderen wurden mittels Videoanalysen von sprachfördernden Sachunterrichtstunden gelungene Maßnahmen identifiziert und beschrieben. Die sprachsensiblen Maßnahmen lassen sich in drei Bereiche unterteilen:

    (1)   Einsatz verschiedener Repräsentationsformen. Der erste Bereich (REP) fokussiert den Einsatz unterschiedlicher Repräsentationsformen im Unterricht, indem er die von Bruner (1974) geprägten Darstellungssysteme (enaktiv – handeln, ikonisch – bildlich, symbolisch – Schriftsprache oder Verbalsprache) aufgreift. Er untergliedert sich in drei Facetten (REP 1–3). Die erste Facette beschreibt den variierenden bzw. kombinierenden Einsatz der Repräsentationsformen seitens der Lehrperson, um das sprachliche Verstehen zu unterstützen (REP 1). Die zweite Facette zielt darauf ab, dass die Schülerinnen und Schüler zum Wechsel der Repräsentationsformen angeregt werden, um dadurch eine sprachliche Verinnerlichung zu erreichen Für Bruner (1974) besteht eine wichtige Triebkraft für die geistige Entwicklung gerade darin, dass jede Repräsentationsform vollständig oder zum Teil in eine andere übersetzt wird bzw. übersetzt werden kann (REP 2). Die dritte Facette dieses Bereichs beschreibt nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten, die zur Darstellung bzw. Verdeutlichung von Bedeutungen genutzt werden können (REP 3).

    (2)   Sprachlich modellieren durch vorbildliches bzw. steuerndes Sprachhandeln. Der zweite Bereich (MOD) umfasst zwei Facetten. Er basiert auf der von Wygotski geprägten Theorie der Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski, 2002) und greift die Idee des Scaffolding auf (van de Pol, 2010). Besonders bei Sprachbildungsprozessen kann die Lehrperson oder ein anderer Lernender als kompetenter Interaktionspartner ein Kind unterstützen, wobei die Unterstützung an den aktuellen sprachlichen Entwicklungsstand des Kindes anzupassen ist (Quehl & Trapp, 2013). Sprachliche (Hilfs-)mittel zur Realisierung von Sprachprodukten stellen die erste Facette des zweiten Bereichs dar (MOD 1), das explizite Einführen von Fachbegriffen bildet die zweite Facette (MOD 2).

    (3) Kommunikation erleichtern bzw. forcieren. Der dritte Bereich (KOM) zielt darauf ab, Sprachförderung anstelle von Sprachvermeidung (Riebling, 2015) zu ermöglichen. Er gliedert sich in zwei Facetten: Die erste Facette beinhaltet den angemessenen Einsatz von paraverbalen Kommunikationsmöglichkeiten (z. B. Lautstärke oder Intonation), der das Verstehen von Sprachprodukten erleichtert (KOM 1). Die zweite Facette fokussiert die Begrenzung bzw. Anpassung der Sprachkomplexität (z. B. Mehrfachfragen und Nebensätze vermeidend), um zum einen die Verständlichkeit der Kommunikation (z. B. bei Arbeitsaufträgen) zu erleichtern und zum anderen die Sprachproduktion seitens der Schülerinnen und Schüler zu forcieren (KOM 2).



    Hier finden Sie eine Übersicht von Maßnahmen für einen potentiell sprachsensiblen Sachunterricht zum Download hinterlegt.

     

     


    Literatur:

    Baumert, J. & Schümer, G. (2001). Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In J. Baumert (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 323–410). Opladen: Leske + Budrich.

    Becker-Mrotzek, M., Hentschel, B., Hippmann, K. & Linnemann, M. (2012). Sprachförderung in deutschen Schulen – Die Sicht der Lehrerinnen und Lehrer. Abgerufen am 16.06.2018, von https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/fileadmin/user_upload/Lehrerumfrage_Langfassung_final_30_05_03.pdf

    Boubakri, C., Beese, M., Krabbe, H., Fischer, H. E. & Roll, H. (2017). Sprachsensibler Fachunterricht. In M. Becker-Mrotzek & H. J. Roth (Hrsg.), Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder (S. 335–350). Münster: Waxmann.

    Bruner, J. S. (1974). Entwurf einer Unterrichtstheorie. Berlin: Berlin-Verl.

    Duit, R. (1997). Alltagsvorstellungen und Konzeptwechsel im naturwissenschaftlichen Unterricht – Forschungsstand und Perspektiven für den Sachunterricht in der Primarstufe. In W. Köhnlein, B. Marquardt-Mau & H. Schreier (Hrsg.). Forschungen zur Didaktik des Sachunterrichts, Band 1 (S. 233–246). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (2013). Perspektivrahmen Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Leisen, J. (2010): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis Grundlagenwissen, Anregungen und Beispiele für die Unterstützung von sprachschwachen Lernern und Lernern mit Zuwanderungsgeschichte beim Sprechen, Lesen, Schreiben und Üben im Fach. Bonn: Varus-Verl.

    Leisen, J. (2011). Praktische Ansätze schulischer Sprachförderung – Der sprachsensible Fachunterricht. Abgerufen am 17.06.2018, von https://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/Berichte/111027_RM_Leisen.pdf

    Lipowsky, F. (2006). Auf den Lehrer kommt es an. Empirische Evidenzen für Zusammenhänge zwischen Lehrerkompetenzen, Lehrerhandeln und dem Lernen der Schüler. Zeitschrift für Pädagogik, 51, 47–65.

    Merzyn, G. (2008). Sprache und Chemie lernen. Naturwissenschaften im Unterricht Chemie, 19, 94–97.

    Möller, K. (2010). Lernen von Naturwissenschaft heißt: Konzepte verändern. In P. Labudde (Hrsg.), Fachdidaktik Naturwissenschaft. 1. - 9. Schuljahr (S. 57–72). Stuttgart: Haupt.

    Möller, K., Kleickmann, T., & Sodian, B. (2011). Naturwissenschaftlich-technischer Lernbereich. In W. Einsiedler, M. Götz, A. Hartinger, F. Heinzel, J. Kahlert & U. Sandfuchs (Hrsg.), Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik (3. vollst. überarb. Auflage, S. 509–517). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Möller, K. (2016). Bedingungen und Effekte qualitätsvollen Unterrichts – ein Beitrag aus fachdidaktischer Perspektive. In N. McElvany, W. Bos, H. Holtappels, M. Gebauer & F. Schwabe (Hrsg.), Bedingungen und Effekte guten Unterrichts (S. 43–64). Münster: Waxmann.

    Pineker-Fischer, A. (2017). Sprach- und Fachlernen im naturwissenschaftlichen Unterricht: Umgang von Lehrpersonen in soziokulturell heterogenen Klassen mit Bildungssprache. Wiesbaden: Springer.

    Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule NRW (2018). Sprachsensibler Fachunterricht. Abgerufen am 17.06.2018, von https://www.schulentwicklung.nrw.de/cms/sprachsensibler-fachunterricht/sprachsensibler-fachunterricht/ergaenzung-sprachsensibler-fachunterricht.html

    Quehl, T., & Trapp, U. (2013). Sprachbildung im Sachunterricht der Grundschule: Mit dem Scaffolding-Konzept unterwegs zur Bildungssprache. FörMig-Material: Vol. 4. Münster: Waxmann.

    Riebling, L. (2013). Sprachbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht. Eine Studie im Kontext migrationsbedingter sprachlicher Heterogenität. Münster: Waxmann.

    Thürmann, E. & Vollmer, H. (2011). Checkliste zu sprachlichen Aspekten des Fachunterrichts. Abgerufen am 17.06.2018, von https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/download/5194

    van de Pol, J., Volman, M. & Beishuizen, J. (2010). Scaffolding in teacher-student interaction: A decade of research. Educational Psychology Review, 22, 271–297.

    Vollmer, H. J. & Thürmann, E. (2013). Schulsprache und sprachsensibler Fachunterricht. Eine Checkliste mit Erläuterungen. In C. Röhner & B. Hövelbrinks (Hrsg.), Fachbezogene Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache. Theoretische Konzepte und empirische Befunde zum Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen (S. 212–230). Weinheim: Beltz Juventa.

    Wildemann, A. & Fornol, S. (2016). Sprachsensibel unterrichten in der Grundschule: Anregungen für den Deutsch-, Mathematik- und Sachunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer.

    Wygotski, L. S. (2002). Denken und Sprechen. Psychologische Untersuchungen. Weinheim: Beltz.

     

    Weiterführende Literatur:

    Gibbons, P. (2015). Scaffolding language, scaffolding learning: Teaching English language learners in the mainstream classroom (2nd ed.). Portsmouth, NH: Heinemann.

    Ahrenholz, B. (2010). Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule. In B. Ahrenholz (Hrsg.), Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache (S. 15–35). Tübingen: Narr.

    Benholz, C., Frank, M., & Gürsoy, E. (Hrsg.). (2015). Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern: Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart: Fillibach bei Klett.

     

     

     

     

     


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  • Lernunterstützung im Lesestrategietraining

    Analyseschwerpunkt Lernunterstützung im Lesestrategietraining

    Fach Deutsch

    Marion Bönnighausen & Katja Winter

    Die Unterrichtsvideos und Videoclips aus dem Fach Deutsch zeigen Good-Practice-Unterrichtsbeispiele im Rahmen eines systematischen Lesestrategietrainings. Das zugrundeliegende Programm Lesen(d) lernen (Bönnighausen & Winter, 2012) umfasst einen zentralen Baustein eines Konzepts zur umfassenden Leseförderung, der Leseschule NRW, das im Kontext der KMK-Initiative ProLesen am Schreib-Lese-Zentrum der Universität Münster unter der Leitung von Marion Bönnighausen entwickelt wurde. Im Mittelpunkt stehen die systematische Vermittlung und das Training von Lesestrategien.

    Insgesamt hält das Programm einen Verbund von fünf Lesestrategien bereit. Die erste Lesestrategie Gedanken zum Text machen dient als elaborative Strategie vor allem der Vorwissensaktivierung. Die zweite Lesestrategie Verstehen überprüfen ist in erster Linie metakognitiv und regt demgemäß nicht nur zum genauen Lesen, sondern auch zur Überwachung des Lese- und Verstehensprozesses an. Die Strategien drei, vier und fünf sind reduktiv-organisierende Lesestrategien, die der Reduktion des Textes auf das Wesentliche sowie seiner Organisation und Strukturierung dienen.

    Wie allen Lesestrategieprogrammen liegt auch dem Programm Lesen(d) lernen die Annahme zugrunde, dass die Anwendung von Lesestrategien erlern- und trainierbar ist. Weil die bewusste Anwendung von Strategien jedoch das Arbeitsgedächtnis der Person so stark beansprucht, dass ihr mentale Ressourcen für das Textverstehen nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen, muss die Anwendung der Lesestrategien durch wiederholtes Training automatisiert werden. Auf der Basis der operativen Lerntheorie haben sich für das Training folgende Phasen als hilfreich erwiesen: (1) In der Phase der Akquisition findet die erstmalige Begegnung mit einer Lesestrategie statt. (2) In der Phase des Behaltens geht es um eine wiederholende und regelmäßige Anwendung der Lesestrategie und des Regelwissens (Eintrainierung). (3) Die Phase der Reaktivierung schließlich betrifft den Transfer, also die selbstständige Anwendung von Lesestrategien in unterschiedlichen Situationen und bei unterschiedlichen Texten (vgl. Grzesik, 2005, S. 358).

    Um diese Phasen und damit das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, wird methodisch auf den Cognitive-Apprenticeship-Ansatz zurückgegriffen (Collins & Kapur, 2014). Der Ansatz ist darauf ausgerichtet, den Lernenden zunächst die ausgewählten Fähigkeiten zu vermitteln und sie dann sukzessive dabei zu unterstützen und zu begleiten, diese Fähigkeiten einzuüben, metakognitiv zu reflektieren und schließlich selbstständig anzuwenden. Konkret werden die Lernenden durch vier (nicht unbedingt aufeinanderfolgende, sondern z. T. auch parallel ablaufende) Lehrstrategien unterstützt: Modelling, Scaffolding, Fading und Coaching. Im Lesestrategieprogramm sollen die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe dieser vier Lehrstrategien dazu befähigt werden, die fünf Lesestrategien zu verstehen, zu artikulieren, zu reflektieren, zu explorieren und schließlich auch selbständig anzuwenden.

     

    1. Modelling. Beim Modelling tritt die Lehrperson als Lesemodell auf. Sie modelliert die Anwendung der Lesestrategie(n) und die jeweiligen Teilschritte. In den weiterführenden Schulen kann dies mit der Methode des Lauten Denkens umgesetzt werden, in der Grundschule wird die explizite Vermittlung in ein Storytelling mit einer Handpuppe eingebettet. Das Modellieren der Anwendung der Lesestrategien hat sich als hilfreich erwiesen, da die Schülerinnen und Schüler nicht nur Einblicke in die genaue Anwendungsweise der Strategie erhalten, sondern vor allem auch die dabei ablaufenden kognitiven und metakognitiven Prozesse eines guten Lesers bzw. einer guten Leserin beobachten und nachvollziehen können.
    2. Scaffolding. Die anschließende Trainingsphase wird durch Scaffolding-Maßnahmen unterstützt: So sind die Aufgabenstellungen auf den ersten zu bearbeitenden Arbeitsblättern sehr dezidiert und engführend, werden im weiteren Verlauf des Trainings jedoch immer offener. Die Anleitung nimmt also im Verlauf des Trainings ab, so dass die eigenständige und automatisierte Anwendung der Lesestrategie(n) befördert wird.
    3. Fading. Im Sinne des Fadings tritt die Lehrperson außerdem immer weiter in den Hintergrund, während die Schülerinnen und Schüler sukzessive mehr Verantwortung für ihren eigenen Lese- und Verstehensprozess übernehmen. Um die Hilfestellungen nach und nach zu reduzieren, haben sich Methoden des Kooperativen Lernens als hilfreich erwiesen.
    4. Coaching. Während des gesamten Lehr-Lernprozesses ist es unerlässlich, dass die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler beobachtet und ggf. individuell coacht, ihnen also Hilfestellungen gibt und sie ggf. engführend begleitet.

     


    Literatur:

    Bönnighausen, M. & Winter, K. (2012). Lesen(d) lernen. Texte besser verstehen. Ein Trainingsprogramm. Bottrop: Henselowsky Boschmann.

    Collins, A. & Kapur, M. (2014). Cognitive apprenticeship. In R. K. Sawyer & R. K. Sawyer (Eds.), The Cambridge handbook of the learning sciences (2nd ed., pp. 109–127). New York, NY: Cambridge University Press.

    Grzesik, J. (2005). Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen. Münster: Waxmann.

     

    Weiterführende Literatur:

     

    Collins, A., Brown J. S. & Newman, S. (1989). Cognitive apprenticeship: Teaching the craft of reading, writing and mathematics. In L. Resnick (Eds.), Knowing, learning, and instruction. Essays in honor of Robert Glaser (pp. 453–494). Hillsdale: Erlbaum.

     


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  • Gleichberechtigte Teilhabe

     

    Analyseschwerpunkt Gleichberechtigte Teilhabe in Spielen im Sportunterricht

    Fach Sport

    Markus Jürgens & Nils Neuber

     

    Die Forderung nach der gleichberechtigten Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler ist spätestens nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in aller Munde. Eine Herausforderung für den Sportunterricht an Schulen ist es, diese Forderung in der Gestaltung des Sportunterrichts so umzusetzen, dass alle Mitglieder einer Schulklasse gleichberechtigt teilhaben können. Im Konzept der gleichberechtigten Teilhabe in Spielen im Sportunterricht liegt der Fokus deshalb auf den Handlungen der Schülerinnen und Schüler. Im Folgenden sind Beispielhandlungen beschrieben und operationalisiert, anhand derer man bei der Beobachtung von Sportunterricht erkennen kann, inwiefern Heranwachsende gleichberechtigt am Sportunterricht teilhaben.

    Um die Komplexität des Sportunterrichts zu reduzieren, wird jeweils nur eine Schülerin bzw. ein Schüler ausgewählt und beobachtet, inwiefern sie bzw. er am gemeinsamen Spiel (1) teilnimmt, (2) sie bzw. er etwas aktiv zum Spielgeschehen beiträgt und (3) sie bzw. er von den Mitspielenden ins Spiel eingebunden wird. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit beschränkt sich die Darstellung im Folgenden auf die männliche Form; die weibliche Form ist damit gleichermaßen gemeint.

     

    © ProVision

    1. Teilnahme und Nicht-Teilnahme

    Die Grundvoraussetzung zur gleichberechtigten Teilhabe in Spielen ist eine Teilnahme des Schülers am Sportunterricht, worunter die reine aktive Anwesenheit im Spiel verstanden wird. Dabei soll noch kein Urteil darüber gefällt werden, inwiefern der Schüler sich in das Spiel einbringt (Teilgabe) oder andere Schüler ihn einbinden (Teilsein) (s.u.).

    Zur Klärung ist es hilfreich, sich das Gegenteil, eine Nicht-Teilnahme, zu vergegenwärtigen. Wenn sich z. B. der Schüler dem Spiel verweigert, indem er sich auf die Bank setzt und sich aus dem Spiel heraushält, lässt sich die Situation in die Kategorie „Nicht-Teilnahme“ einordnen. Der Grund für eine Nicht-Teilnahme kann unterschiedlich sein, wie z. B. aktive Verweigerung oder Überforderung. Zu beachten ist, dass nur Verhalten beobachtet werden kann, nicht aber die zugrundeliegenden Motive der Beteiligten; diese können nur erschlossen werden.

    Ist eine Teilnahme gegeben, kann die Teilhabe differenzierter betrachtet werden. Hier wird zwischen den Kategorien Teilgabe und Teilsein unterschieden. Geht bei Spielhandlungen oder bei der Kommunikation im Spiel der Impuls vom beobachteten Schüler aus, sind sie der Kategorie Teilgabe zuzuordnen. Die beobachteten Spiel- oder Kommunikationshandlungen werden der Kategorie Teilsein zugeordnet, wenn der Impuls von anderen Schülern ausgeht und an den beobachteten Schüler gerichtet ist.

     

     

    2. Teilgabe

    Die Erziehungswissenschaftlerin Gronemeyer (2009) versteht unter Teilgabe, dass „jedes Mitglied einer Gesellschaft seinen Beitrag zur Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders in allen Fragen, die sein Leben betreffen, leisten kann.“ (S. 79, zit. nach Heimlich, 2014). Im Spiel ist das gesellschaftliche Miteinander das gemeinsame Spielen. Ob ein Schüler etwas zum Spiel beiträgt, zeigt sich u.a. darin, dass er motorische Spielhandlungen ausführt, die der Spielidee entsprechen (z. B. das Schießen oder Abwehren eines Tores beim Fußballspiel). Die Spielhandlungen können in Interaktion mit Mitspielern (z. B. das Passen eines Balls) oder ohne Interaktion (z. B. das Werfen eines Korbes beim Basketball) geschehen. Steht bei der Interaktion vornehmlich der Informationsaustausch und das Herstellen von gemeinsamer Verständigung im Vordergrund, spricht man von Kommunikation (Lau & Plessner, 2016). Kommunikation im Sport kann verbal (z. B. durch Zurufe für das Ansagen von Spielzügen) und nonverbal durch Körpersprache (z. B. Blickkontakt aufnehmen) stattfinden. Die Kommunikation kann sich auch auf die Motivation und Emotion der Mitspielenden richten, wenn z. B. ein Mitspieler einem anderen nach einem Fehler Mut zuspricht, bei aufkeimenden Konflikten schlichtet oder Mitspieler motiviert. Geht bei der Spielhandlung oder bei der (non-)verbalen Kommunikation der Impuls von dem Schüler aus, sind sie der Kategorie Teilgabe zuzuordnen.

    Um die gleichberechtigte Teilhabe eines Schülers zu beurteilen, ist es zusätzlich relevant, inwiefern die beobachteten motorischen Spielhandlungen und die Kommunikation einen Beitrag zum Gelingen liefern. Ob der Beitrag gelungen ist oder nicht, kann nur mit Bezug zur Spielidee eingeschätzt werden. Bei wettkampforientierten Sportspielen ist es das Ziel, Punkte zu erzielen. Wenn die Handlungen und Interaktionen des Schülers dazu beitragen, dass seine Mannschaft diesem Ziel näherkommt, trägt er etwas Positives zum Gelingen der Mannschaft bei.

    Eine weitere Möglichkeit, die gleichberechtigte Teilhabe zu beurteilen, besteht darin zu überprüfen, inwiefern die motorischen Spielhandlungen und die Kommunikation des beobachteten Schülers im Verlauf des Spiels variieren (Variabilität). Wünschenswert ist unter der Kategorie Teilgabe, wenn der Schüler verschiedene Spielhandlungen ausführt oder verschiedene Rollen und Positionen im Spiel einnimmt.

    Darüber hinaus gehört zur Teilgabe die Unterkategorie Emotionen. Freut sich zum Beispiel der Schüler beim Punktgewinn seiner Mannschaft oder ist er verärgert, wenn ein Mitspieler einen Ball verliert, drückt sich dadurch sein Zugehörigkeitsgefühl zur Mannschaft und zum Spiel aus. Emotionen können sowohl bei Spielhandlungen wie auch bei der Kommunikation beobachtet werden.

     

    3. Teilsein

    Teilhabe ist mehr als nur Teilgabe. Unter Teilsein wird die Eingebundenheit einer Person in das soziale Gefüge verstanden. Teilsein zeigt sich darin, dass der Schüler in Interaktionen innerhalb der Gruppe integriert wird und sich als Mitglied dieser Gruppe fühlt. Von außen lässt sich dies nicht eindeutig beobachten, sondern muss anhand von Handlungen erschlossen werden, die darauf hindeuten, dass sich eine Person einerseits mit dem Spiel, dem Spielverlauf oder einer Gruppe identifiziert und dass sie andererseits durch die Mitspieler offensiv in das Spiel eingebunden wird.

    Die Handlungen der Mitspieler werden anhand der Unterkategorien motorische Spielhandlungen und Kommunikation beobachtet und der Kategorie Teilsein zugeordnet, wenn der Impuls von den anderen Schülern ausgeht und an den beobachteten Schüler gerichtet ist.

    Eine motorische Spielhandlung in der Kategorie Teilsein ist z. B. das Zupassen eines Balles durch andere Mitspieler zum beobachteten Spieler. Kommunikation findet statt, wenn der Schüler bei taktischen Absprachen eingebunden wird, Mitschülern ihm nach Fehlern Mut zusprechen oder wenn ihm durch Handzeichen Laufwege signalisiert werden.

    In der Unterkategorie Beitrag zum Gelingen wird beurteilt, inwiefern die Einbindung des Schülers durch die Mitschüler zum Gelingen des Spiels beiträgt. Dazu ist es hilfreich, sich den Verlauf vor und nach der Einbindung des Schülers anzusehen: Passen die Mitschüler den Ball immer nur dem besten Spieler zu oder können sich auch schlechtere Spieler ausprobieren? Gerät das Spiel nach dem Pass zu dem Schüler ins Stocken, und alle warten bis der Schüler den Ball endlich weiterspielt („Pseudoeinbeziehung“) oder wird der Schüler als vollwertiges Mitglied der Mannschaft sinnvoll eingebunden?

    In der Unterkategorie Variabilität wird überprüft, ob die Mitschüler den Schüler in verschiedenen Aktionen (z. B. sowohl im Angriff wie auch in der Abwehr) einbinden.

    In der Unterkategorie Emotionen werden die Emotionen der Mitschüler beobachtet, die auf Handlungen des beobachteten Spielers folgen. Jubeln Sie z. B., wenn der Schüler einen Punkt erzielt, oder wirken sie bei seinen Aktionen ungeduldig oder genervt?

     



    Literatur:

    Heimlich, U. (2014). Teilhabe, Teilgabe oder Teilsein? Auf der Suche nach den Grundlagen inklusiver Bildung. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 83, 1–5.

    Lau, A. & Plessner, H. (2016). Sozialpsychologie und Sport. Ein Lehrbuch in 12 Lektionen. Aachen: Meyer & Meyer.

     

     

     

    Weiterführende Literatur:

    Czwierdzinski, P. & Fahlenbock, M. (2004). Heterogene Schülervoraussetzungen als pädagogische Herausforderung. In Wuppertaler Arbeitsgruppe (Hrsg.), Schulsport in den Klassen 5–10 (S. 58–71). Schorndorf: Hofmann.

    Fröhlich, A. (2014, 8. Januar). Teil haben? Teil sein? Seinen Teil dazu geben! Zugriff unter http://www.xn--andreas-frhlich-itb.eu/teil-haben-teil-sein-seinen-teil-dazu-geben/

    Pfitzner, M. (2017). Auf dem Weg zum inklusiven Sportunterricht. In D. H. Jütting & M. Krüger (Hrsg.), Sport für alle. Idee und Wirklichkeit (S. 281–301). Münster: Waxmann.

    Tiemann, H. (2015). Inklusiven Sportunterricht gestalten - didaktisch methodische Überlegungen. In M. Giese & L. Weigelt (Hrsg.), Inklusiver Sportunterricht in Theorie und Praxis (S. 53–66). Aachen: Meyer & Meyer.

    Westermann, B. (2016). Spiele verändern - gewusst wie! Sportunterricht, 65, 12–15.

     

     

     

     

     


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  • Kognitiv aktivierende Lehr-Lern-Kultur

    Analyseschwerpunkt Lehr-Lern-Kulturen im Mathematikunterricht der Grundschule

    Fach Mathematik

    Philip Hörter & Martin Stein

     

    Das Konzept der Lehr-Lern-Kulturen im Mathematikunterricht beinhaltet Maßnahmen einer Lehrperson, die sich auf die Form der Gesprächsführung (Gesprächskultur), des Aufgabeneinsatzes (Aufgabenkultur) und der kognitiven Aktivierung der Lernenden (Denkkultur) beziehen. Es soll erfasst werden, wie sich das Unterrichtsverständnis einer Lehrperson in ihrer Gestaltung des Unterrichts und ihrer Interaktion mit der Klasse widerspiegelt. Dabei wird die Differenzlinie zwischen Instruktion und Konstruktion gezogen.

    In einem Unterricht, der stark instruktional gestaltet wird, dominiert die Lehrperson das Unterrichtsgeschehen, der Lerngegenstand wird kleinschrittig erarbeitet und den Lernenden wird eher eine rezeptive Rolle zugewiesen.

    In einem Unterricht dagegen, der eher konstruktiv gestaltet wird, agiert die Lehrperson als Lernbegleitung der Schülerinnen und Schüler. Dabei nehmen die Lernenden eine aktive Rolle ein, sich den Lerninhalt entdeckend und problemlöseorientiert zu erschließen (Reinmann & Mandl, 2006).

    Die beiden Ansätze stehen jedoch nicht konträr gegenüber, sondern ergänzen sich insbesondere im inklusiven und adaptiven Unterricht (Möller, 2012): Wo auf der einen Seite durch die Öffnung des unterrichtlichen Gleichschritts eigenständiges und entdeckendes Lernen zu gelingen scheint, bedarf es auf der anderen Seite eine gezielte, strukturierte Anleitung, wo der oder die Einzelne überfordert wirkt (Krähenmann et al., 2015).

    Dabei gehen wir mit Baer et al. (2011) davon aus, dass das jeweilige Unterrichtsverständnis auch die genannten fachdidaktischen Facetten von Unterrichtsqualität, nämlich die Form der Gesprächskultur, der Aufgabenkultur und der Denkkultur, beeinflussen.

     

    Instruktionale und konstruktive Gesprächskultur

    Unter Gesprächskultur werden die Maßnahmen gefasst, die mit der Interaktion zwischen Lehrperson und Lernenden insbesondere während des Unterrichtsgesprächs verbunden sind und die darauf abzielen, eine gemeinschaftliche Kommunikation herzustellen. Dabei kann die Lehrperson eine direktive, gesprächsdominierende Haltung (instruktionale Gesprächskultur) oder eine eher vermittelnde, moderierende Haltung (konstruktive Gesprächskultur) einnehmen im Sinne eines schülerzentrierten Unterrichtsgesprächs (Mediation). Damit verbunden ist die Frage nach der Beteiligung der Lernenden an der gemeinschaftlichen Kommunikation, die Möglichkeit, relevantes Vorwissen für das Lernen einzubringen, und die Exploration ihrer (naiven) Vorstellungen über den Lerngegenstand, also ihrer Denkweisen. Kognitiv aktivierende Gespräche sind solche, in denen die Schülerinnen und Schüler über unterschiedliche Meinungen diskutieren, ihren eigenen Lernprozess erklären können und sich die Lehrperson mit eindeutigen „richtig“- oder „falsch“-Rückmeldungen zurückhält, sodass Fehler zugelassen und genutzt werden können (Kunter & Trautwein, 2013; Spiegel & Selter, 2003).

     

    Instruktionale und konstruktive Aufgabenkultur

    Im Zentrum des Mathematikunterrichts steht in der Regel die aufgabengebundene Aktivität. Aufgabenkultur wird hier als Sammelbegriff für das gemeinsame Erarbeiten und Bearbeiten von mathematischen Aufgaben und deren organisatorische Rahmung verstanden. Hinsichtlich des Aufgabenziels wird in eher offene oder eher geschlossene Aufgaben unterschieden: Offene Aufgaben sollen vornehmlich zum eigenständigen Erkunden anregen und somit die kognitive Selbstständigkeit der Lernenden unterstützen (Kunter et al., 2011), während geschlossene Aufgaben vornehmlich die Funktion des (Ein-)Übens haben (Bohl et al., 2012). Eine anregende Aufgabenkultur zeichnet sich auch durch das Maß aus, in dem allgemeine oder prozessbezogene Kompetenzen angeregt werden. Argumentieren, Problemlösen, Modellieren, Kommunizieren und Darstellen stellen Facetten strategischen Wissens dar, die aktives Lernen begünstigen (Leuders & Holzapfel, 2011). Ebenso lässt sich hinsichtlich des Einsatzes von Differenzierungsmaßnahmen auf der Ebene der Organisation, Methode und Aufgabe die Differenzlinie zwischen geöffnet und geschlossen weiterdenken. So kann die inhaltliche Gestaltung der Aufgabenauswahl durch die Lernenden erfolgen (geöffnet) oder durch die Lehrperson gesetzt (geschlossen) werden. Genauso verhält es sich bei der (Aus-)Wahl der methodischen Gestaltung und damit auch der Lösungswege, sowie dem gesamten organisatorischen Rahmen (Lernzeit, Lernort, usw.) (Krähenmann et al., 2015).

     

    Instruktionale und konstruktive Denkkultur

    Unter Denkkultur werden Maßnahmen der kognitiven Aktivierung durch die Lehrperson gefasst, die die Lernenden zum Nachdenken und Mitdenken in Bezug auf den Lerngegenstand anregen. Dazu zählt auch, inwiefern die Lehrperson die Lernenden zu Reflexionsprozessen über Antworten, Ergebnisse und Lösungswege im Sinne einer Begründungspflicht anregt (konstruktive Denkkultur). Bei einer instruktionalen Denkkultur ist die Art der Fragestellung durch die Lehrperson eher auf Kurzantworten der Lernenden ausgelegt und ihre Unterstützung eher darauf, Denk- und Lösungswege im Sinne einer „best practice“ vorzumachen und direkt zu instruieren. Unterstützungen im konstruktiven Sinne bieten solche Hilfestellungen, die auf metakognitive Aktivitäten im Sinne eines Nachdenkens über das eigene Lernen und Arbeiten abzielen (Blum et al., 2006) und durch Begründungsfragen oder – mit Bezug auf den Inhalt – auch Deep-Reasoning-Fragen begleitet werden (Bohl et al., 2012).

     


     

     


    Literatur:

     

    Baer, M., Kocher, M., Wyss, C., Guldimann, T., Larcher, S. & Dörr, G. (2011). Lehrerbildung und Praxiserfahrung im ersten Berufsjahr und ihre Wirkung auf die Unterrichtskompetenzen von Studierenden und jungen Lehrpersonen im Berufseinstieg. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 14, 85–117.

    Blum, W., Drüke-Noe, C., Hartung, R. & Köller, O. (2006). Bildungsstandards Mathematik: konkret – Sekundarstufe I: Aufgabenbeispiele, Unterrichtsanregungen, Fortbildungsideen. Berlin: Cornelsen Scriptor.

    Bohl, T., Kleinknecht, M., Batzel, A. & Richey, P. (2012). Aufgabenkultur in der Schule. Eine vergleichende Analyse von Aufgaben und Lehrerhandeln im Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialunterricht. Baltmannsweiler: Schneider.

    Krähenmann, H., Labhart, D., Schnepel, S., Stöckli, M. & Moser Opitz, E. (2015). Gemeinsam lernen – individuell fördern: Differenzierung im Mathematikunterricht. In A. Peter-Koop, T. Rottmann & M. Lüken (Hrsg.), Inklusiver Mathematikunterricht in der Grundschule (S. 43—57). Offenburg: Mildenberger Verlag.

    Kunter, M., Baumert, J., Blum, W., Klusmann, U., Krauss, S. & Neubrand, M. (2011): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften: Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster: Waxmann.

    Kunter, M. & Trautwein, U. (2013): Psychologie des Unterrichts. Paderborn: Ferdinand Schöningh (UTB).

    Leuders, T. & Holzapfel, L. (2011). Kognitive Aktivierung im Mathematikunterricht. Unterrichtswissenschaft, 39, 213–230.

     

     

    Möller, K. (2012). Konstruktion vs. Instruktion oder Konstruktion durch Instruktion? Konstruktionsfördernde Unterstützungsmaßnahmen im Sachunterricht. In H. Giest, E. Heran-Dörr & C. Archie (Hrsg.), Lernen und Lehren im Sachunterricht. Zum Verhältnis von Konstruktion und Instruktion (S. 37–50). Kempten: Klinkhardt.

     

    Reinmann, G. & Mandl, H. (2006). Unterrichten und Lernumgebungen gestalten. In A. Krapp & B. Weidenmann (Hrsg.), Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch (5. vollst. überarb. Aufl., S. 613–658). Weinheim: Beltz.

    Spiegel, H. & Selter, C. (2003). Kinder und Mathematik – Was Eltern wissen sollten. Seelze: Kallmeyer.

     


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  • Sprechförderlicher Englischunterricht

    Analyseschwerpunkt Sprechförderlicher Englischunterricht

    Fach Englisch

    Frauke Matz, Marius Ritter & Naime Zeineddine

     

    Das Fach Englisch lässt sich insofern von anderen Unterrichtsfächern abgrenzen, als dass die Arbeitssprache zu einem Großteil nicht der Erstsprache der Lernenden entspricht. Diese Tatsache hat einen Einfluss auf die Interaktion zwischen Lehrkraft und Lernenden, aber auch auf den Austausch der Schüler*innen (S*S) untereinander. Wo an anderer Stelle rasche, reibungslose Kommunikation in der Erstsprache möglich ist, muss der Englischunterricht gezielt anknüpfen, um den Lernenden eine Plattform des Austauschs in der Zielsprache zu ermöglichen. Dieser Umstand trifft darüber hinaus auch auf weitere schulisch erworbene Fremdsprachen zu, sodass Ausführungen aus dieser vorliegenden Beschreibung sicherlich auch übertragbar sind. Da die hier beschriebenen theoretischen Erläuterungen jedoch explizit aus der Forschung zum Erwerb der englischen Sprache abgeleitet sind, kann keine Garantie auf Vollständigkeit im Bezug auf weitere fremdsprachliche Fachdidaktiken gewährleistet werden.
    Aus fachdidaktischer Sicht besteht weitestgehend Konsens zur Relevanz der Förderung von Mündlichkeit und Sprechkompetenzen im Englischunterricht der Primarstufe (Jäger, 2012). Dies ist auch im nordrheinwestfälischen Kernlehrplan für Grundschulen verankert. Zur optimalen Förderung des kommunikativen Austauschs in der Zielsprache Englisch dienen die hier dargestellten (fach-) didaktischen Prinzipien als Anknüpfungspunkte.

     

    Funktionale Einsprachigkeit (Functional Monolingualism)

    Einsprachigkeit bezeichnet die Kompetenz einer Lehrkraft, das Unterrichtsgeschehen zu großen Teilen in der Zielsprache durchzuführen. Dies umfasst a) das sprachliche Handeln der Lehrkraft und b) das sprachliche Handeln der Lernenden. Die Lehrkraft dient somit als Vorbild für den Gebrauch der Zielsprache und begünstigt eine einsprachige Lernumgebung, die den Lernenden ermöglicht, auch in der englischen Sprache zu kommunizieren und diese als Arbeitssprache zu nutzen. Einsprachigkeit kann dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn Lehrer*innen sowohl für inhaltliche als auch für organisatorische Kommunikation nicht auf die Erstsprache der S*S zurückgreifen müssen und die Lernenden Arbeitsaufträge auf Englisch verstehen und umsetzen können. Nach dem Prinzip der funktionalen Einsprachigkeit wird im Englischunterricht “so viel Englisch wie möglich, so wenig Deutsch wie nötig” gesprochen.
    Auf die Lehrperson kommt dabei eine besondere Aufgabe als sprachliches Role Model zu. Auf Grundlage einer hohen Sprachkompetenz der Lehrkraft werden Arbeitsaufträge lernendengerecht paraphrasiert. Classroom Phrases stellen eine geeignete Möglichkeit dar, den einsprachigen Unterricht zu strukturieren. Bekannte Satzstrukturen bieten den Lernenden Orientierung im Unterricht und sind daher idealerweise auch Bestandteile ritualisierter Prozesse. Anstelle binärer Deutsch-Englisch-Zuordnungen nutzt die Lehrperson im Sinne eines multisensorischen und einsprachigen Wortschatzerwerbs Gestik, Mimik (Total Physical Response) und andere Hilfsmittel, insbesondere visueller Art (z.B. Bildkarten, Realia) zur Einführung und Festigung neuer Vokabeln im Kontext der Zielsprache. Die Lehrperson unterstützt S*S dabei, ihre deutschsprachigen Äußerungen auf Englisch zu formulieren. Dabei hilft die Lehrkraft den S*S, Parallelen zu den Erstsprache(n) zu erkennen und unterstützt die S*S so, einen individuellen Zugang zur Fremdsprache Englisch zu ermöglichen.

     

    Implementierung von lebensweltlich relevanten Sprechanlässen

    Die größte Herausforderung für die Förderung kommunikativer Sprechkompetenzen im frühen Fremdsprachenunterricht ist die Schaffung lebensweltlich relevanter Sprechanlässe (Diehr & Frisch, 2008). Lehrpersonen erarbeiten gemeinsam mit den S*S formelhafte Sätze und chunks, die über die classroom phrases hinausgehen, und die dann in konkreten und lebensnahen Situationen erprobt werden können.
    Bestehende oder neu eingeführte Rituale und Formeln unterstützen eine gezielte kommunikative Ausrichtung von Situationen (z.B. question time). Der Einsatz phrasischen Vokabulars erleichtert Kommunikation und Verständnis und stellt so auch eine Prävention von S*S-Überforderung dar. Anstelle von Erwartungen formaler Korrektheit liegt der Fokus auf kommunikativer Interaktion.
    Die Lehrperson realisiert Sprechsituationen, welche von den S*S als relevant und lebensnah empfunden werden. Die Lernsituationen evozieren einen genuine purpose, welcher die S*S intrinsisch zur Kommunikation in der Fremdsprache motiviert. Sie nutzen bekannte phrases und chunks, die sie in kommunikativen Kontexten nicht nur lautlich reproduzieren, sondern auch zur Interaktion nutzen. Gestellte Aufgaben verfolgen nicht nur linguistisch-instruktive Ziele (Erwerb einer grammatischen Form), sondern greifen vor allem Neigungen und Interessen der S*S auf (Gewinnen eines Spiels / Lösen eines Rätsels) (Pinter, 2015).
    Um relevante Sprechanlässe zu realisieren, ermöglicht die Lehrperson den S*S durch das Lernarrangement in Kleingruppen oder Paaren in direkte Kommunikation untereinander zu treten. Die unterrichtliche Interaktion bietet S*S nicht nur Gelegenheit zu Ein-Wort Sätzen, sondern auch zu spontanem eigenständigem Sprachgebrauch, ohne sie zu überfordern.

     

    Output Scaffolding

    Die Vielfalt individueller Bedürfnisse bei S*S erfordert ein großes Maß an innerer Differenzierung im frühen Englischunterricht (Böttger, 2010). Die Lehrperson schafft daher eine Umgebung, in der alle S*S auf Hilfsmittel zurückgreifen können, um den für sie jeweils nächsten Schritt ihrer Sprechentwicklung zu tun. Die Hilfsmittel funktionieren dabei als Gerüst für das spätere eigenständige Handeln der S*S. Sie sind differenzierend angelegt und bieten dem Lernstand der S*S entsprechend sowohl Herausforderungen als auch Unterstützung an.

    1. Vorerfahrungen nutzen
    Der Fremdsprachenerwerb junger Lerner*innen weist noch große Ähnlichkeiten zum Erwerb der Erstsprache(n) auf. Die Lehrkraft nutzt diese Parallelen, um den S*S einen individuellen Zugang zur Fremdsprache Englisch zu ermöglichen.

    2. Adaptivität (soft scaffolds)
    Die Lehrperson evaluiert geplante Scaffolding-Maßnahmen während des Unterrichts und passt diese spontan und flexibel an Schwierigkeiten und Äußerungen der S*S an.

    3. Bereitstellung von Hilfsmitteln (hard scaffolds)
    Die ausgewählten Scaffolding-Maßnahmen unterstützen S*S beim selbstständigen Sprachgebrauch und ermöglichen späteres eigenständiges Handeln. Hierzu zählt z.B. auch die Bereitstellung sprachlicher Mittel durch externe Medien wie Poster, Bildkarten und interaktive Lerntrainer.

    4. Kollaborative Arbeitsprozesse
    Für die sprachliche Interaktion ist es wichtig, dass die Lernenden bereits früh an die Interaktion in der Zielsprache gewöhnt werden. Dies umfasst allgemeine sprachliche Routinen für das Aushandeln von Arbeitsprozessen, Interaktionstechniken (turn-and-talk) und -strategien sowie eine klare Rollenverteilung in den Sprachhandlungen.

    5. Genre-basiertes Scaffolding
    Das Textsortenwissen für die mündliche Interaktion wird bereits im frühen Fremdsprachenlernen angebahnt und umfasst textsortenspezifische Konventionen wie z.B. sprachliche Mittel, Strukturen und Strategien (Türmann, 2012). Diese werden den S*S bewusst gemacht und dienen als Hilfe für die Textproduktion.

     

    Sprechförderliche Lernumgebung

    Der Englischunterricht mit jungen Lernenden profitiert stark von der hohen Motivation der S*S für das Lernen von Fremdsprachen. Eine Kernkompetenz für angehende Englischlehrer*innen liegt also im konstruktiven und motivierendem Umgang mit den natürlich aufkommenden Fehlern im Sprachlernprozess (Keßler, 2007). Sie schaffen eine spannungsarme, positive Lernumgebung, die das Experimentieren mit Sprache und die daraus resultierenden Fehler zulässt und als Lerngelegenheiten wahrnimmt (Böttger, 2010). Schüler*innen haben keine Angst, sich ggf. fehlerhaft in der Zielsprache zu äußern.
    Durch den Einsatz chorischer Sprechübungen und Kleingruppenaktivitäten ermöglicht die Lehrperson den S*S, ihre Sprechkompetenzen zunächst in geschützten Räumen aufzubauen. So werden alle S*S ohne Angst vor individuellen Fehlern zum Sprechen animiert.
    Die erfolgreiche interaktive Kommunikation der S*S steht im Mittelpunkt des Englischunterrichts. Auch wenn die Lehrperson sprachlich-formale Fehler aufgreift und korrigiert, um Fossilization zu vermeiden, würdigt sie kommunikative Erfolge der S*S. Im Vordergrund der Kommunikation stehen meaning und fluency, während form und accuracy von untergeordneter Bedeutung sind.
    Durch Corrective Feedback (z.B. durch Recasts) hilft die Lehrperson den S*S dabei, Fehler selbst zu entdecken und zu korrigieren. Ihr Feedback validiert Lernerfolge, anstatt Defizite zu betonen. S*S haben ein Bewusstsein für ihre Kompetenz und Fähigkeiten und profitieren nicht von grundlosen Ermunterungen und Validierungen durch die Lehrkraft.
    Die S*S werden angeregt, ihre eigenen Sprechleistungen selbst einzuschätzen und Stärken und Schwächen zu identifizieren. Hier ermutigt die Lehrkraft die S*S bspw. in einem language loop, eigenen Fehler zu verbessern und auch eventuell vorhandene Sprechängste zu formulieren. So können S*S eine höhere Lernerautonomie erreichen und Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess entwickeln.

     


     

    Literatur:

    Böttger, H. (2010). Englisch lernen in der Grundschule (2nd ed.). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Diehr, B., & Frisch, S. (2008). Mark their words: Sprechleistungen im Englischunterricht der Grundschule fördern und beurteilen. Braunschweig: Westermann.

    Jäger, A. (2012). Die Förderung kommunikativer Kompetenzen im Englischunterricht der Grundschule. In: Böttger, H. (Ed.): Englisch: Didaktik für die Grundschule (pp. 112-122.) Berlin: Cornelsen Verlag.

    Keßler, J.-U. (2007). Kindgemäßer Englischunterricht – aber wie? In H. Böttger (Ed.), Fortschritte im frühen Fremdsprachenlernen (pp. 70–80).

    Pinter, A. (2015). Task-Based Learning with Children. In J. Bland (Ed.): Teaching English to young learners: Critical issues in language teaching with 3-12 year olds (pp. 113–125). London and New York: Bloomsbury Academic.

    Türmann, E. (2013). Scaffolding. Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch, (126), pp. 2–8.

     

    Weiterführende Literatur:

    Brush, Thomas A., & Saye, John W. (2002). A Summary of Research Exploring Hard and Soft Scaffolding for Teachers and Students Using a Multimedia Supported Learning Environment. The Journal of Interactive Online Learning, 1(2), pp. 1–12.

    Enever, J. (2015). The Advantages and Disadvantages of English as a Foreign Language with Young Learners. In J. Bland (Ed.): Teaching English to Young Learners: Critical Issues in Language Teaching with 3-12 Year Olds (pp. 13–29). London and New York: Bloomsbury Academic.

    Frisch, Stefanie. (2019). Spoken lnteraction—Zu den Besonderheiten des dialogischen Sprechens. Grundschule Englisch, Sammelband Sprechen, pp. 10–13.

    Hammond, J., & Gibbons, Pauline. (2001). What is Scaffolding? In Scaffolding: Teaching and learning in language and literacy education (pp. 12–26). PETA, Primary English Teaching Association.

    Kersten, S. (2015). Language Development in Young Learners: The Role of Formulaic Language. In J. Bland (Ed.): Teaching English to young learners: Critical issues in language teaching with 3-12 year olds (pp. 129–145). London and New York: Bloomsbury Academic.

    Lightbown, P.M. & Spada, N. (2013): How Languages are Learned. Oxford: Oxford University Press.

     


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  • 1. Klasse Anfangsunterricht Mathematik

    Analyseschwerpunkt 1. Klasse Anfangsunterricht Mathematik

    Fach Bildungswissenschaften (Psychologie)

    Philip Hörter, Christina Gippert & Manfred Holodynski

     

    Das schulische Lernen beginnt für Kinder im Anfangsunterricht, in dem sie in den ersten Schulwochen elementare Kompetenzen und Verhaltensweisen entwickeln und ausbauen (Hellmich, 2010). Dabei werden sie an die Prozesse des sozialen und selbstregulierten Lernens herangeführt, um in einer neuen Klassengemeinschaft mathematisches Verständnis weiter zu entwickeln. Jedoch sind sie keine Lernanfänger und Lernanfängerinnen, sondern verfügen über diverse Vorerfahrungen aus den Phasen frühkindlicher Bildung (Lorenz, 2002; Hasemann & Gasteiger, 2014). Diese kindlichen Vorerfahrungen aufzugreifen und weiterzuentwickeln, auf individuellen Wegen Selbstverantwortung zu fördern, ein Lernen in Sinnzusammenhängen zu ermöglichen, sowie Fehler als Lernanlässe und Prozesskontrolle zu verstehen, gehören nicht nur im Anfangsunterricht zu Qualitätsmerkmalen des Fachunterrichts (Steinweg, 2010). Im ko-konstruktiven Lernen trägt so der Mathematikunterricht zu allgemeinen Zielen wie Problemlösen, Argumentieren, Kommunizieren und Modellieren bei, indem er intellektuelle Grundfertigkeiten wie Vergleichen, Klassifizieren, Analogisieren, Generalisieren und Spezialisieren fördert (Schipper, 2009). Im Mittelpunkt des Anfangsunterrichts stehen dabei Zahlen und Operationen. Aufbauend auf dem Verständnis von Mengen werden Zahlvorstellungen kardinal, ordinal und relational, anhand des Erwerbs der Zahlwortreihe, des Umgangs mit Zahldarstellungen (E-I-S-Prinzip) und der Zahlzerlegung (Anteil-Ganzes-Konzept), entwickelt, die letztlich in die Grundrechenfertigkeiten der Addition und Subtraktion überführt werden. (Hasemann & Gasteiger, 2014)
    Ein solches, fachlich anspruchsvolles Lernen in einem äußerst heterogenen Umfeld zu ermöglichen, verlangt von der verantwortlichen Lehrperson ein hohes Maß an Organisation und Prozesssteuerung (Gold & Holodynski, 2011). Gerade mit Blick auf einen Umgang mit Störungen und effiziente Lernzeitnutzung konnte gezeigt werden, dass im mathematischen Anfangsunterricht die Klassenführung der Lehrperson ein wesentliches Qualitätsmerkmal ist (Gabriel, 2014). In Anlehnung an Kounin (1976/2006) und Doyle (1986) lässt sich die Klassenführung in Prozess- und Strukturorientierung unterscheiden. Auf Ebene des Prozesses beziehen sich Aktivitäten der Lehrperson auf Regulation des Unterrichts und Aufrechterhaltung einer günstigen (d.h. störungsarmen) Lernumgebung, was sich durch Aspekte des Monitorings und Schwungs ausdrückt. Langfristig zielen Maßnahmen des Klassenmanagements auf die Etablierung einer Unterrichtsstruktur, in der wiederkehrende Verhaltensweisen oder Prozeduren routiniert und Regeln internalisiert sind. Dadurch entstehen Lerngemeinschaften, die präventiv auf Störungen wirken und in denen unmittelbare Interventionen reduziert werden, sodass die effektive Lernzeit maximiert wird. Studien konnten dabei zeigen, dass gerade zu Beginn das Einführen und Implementieren von Regeln, Kommunizieren von Erwartungen, explizites Einüben von Prozeduren bedeutsam sind (Emmer et al., 1980; Bohn et al., 2004; Ophardt & Thiel, 2017).

    Die Videos der Reihe „Anfangsunterricht“ (Analyseschwerpunkt 1. Klasse Anfangsunterricht) können demnach - insbesondere längsschnittlich - unter folgenden Fragestellungen beispielhaft analysiert werden:

    • Welche Regeln sind in den ersten Stunden erkennbar? Wie werden diese von der Lehrperson eingeführt oder durchgesetzt?
    • Welche Abläufe werden mit zunehmendem Aufenthalt in der Lerngemeinschaft etabliert?
    • Gelingt es den Lernenden im Sinne des selbstregulierten Lernens schrittweise mehr Verantwortung für die eigenen Lernprozesse zu übernehmen?
    • Wie werden nach und nach die Ziffernschreibweisen und Zahlvorstellungen aufgebaut?
    • Ab wann lassen sich Gespräche unter den Lernenden erkennen, in denen Konzepte sozial-geteilt verhandelt werden?

    Darüber hinaus bieten sich für die Videos der Reihe „Anfangsunterricht“ auch die Analyseschwerpunkte der Klassenführung und der kognitiv aktivierenden Lehr-Lern-Kultur an, wenn Maßnahmen der Lehrperson in den Blick genommen werden, die zur Steigerung der Unterrichtsqualität beitragen: Gruppenmobilisierung, Regeldurchsetzung, Aktivierung von Vorerfahrungen, Etablierung einer Fehlerkultur, Anregung von Diskussion und Metakognition, konstruktives Lob, und vieles mehr.

     


     

    Literatur:

    Bohn, C. M., Roehrig, A. D. & Pressley, M. (2004). The first days of school in the classrooms of two more effective and four less effective primary-grades teachers. The Elementary School Journal, 104 (4), 269-287.

    Doyle, W. (1986). Classroom organization and management. In M. C. Wittrock (Ed.), Handbook on research on teaching (3 ed., S. 392-431). New York, NY: Macmillan.

    Emmer, E. T., Evertson, C. M. & Anderson, L. M. (1980). Effective classroom management at the beginning of the school year. The Elementary School Journal, 80 (5), 219-231.

    Gabriel, K. (2014). Videobasierte Erfassung von Unterrichtsqualität im Anfangsunterricht der Grundschule. Klassenführung und Unterrichtsklima in Deutsch und Mathematik (Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie). Kassel: kassel university press.

    Gold, B. & Holodynski, M. (2011). Klassenführung. In E. Kiel & K. Zierer (Hrsg.), Unterrichtsgestaltung als Gegenstand der Praxis. (S. 133-151). Baltmannsweiler: Schneider.

    Hasemann, K. & Gasteiger, H. (2014). Anfangsunterricht Mathematik (3., überarb. u. erw. Aufl.). Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum.

    Hellmich, F. (2010). Einführung in den Anfangsunterricht. Stuttgart: Kohlhammer.

    Kounin, J. S. (1976/2006): Techniken der Klassenführung. Stuttgart: Klett.

    Lorenz, J. H. (2002). Mathematisches Vorwissen im Anfangsunterricht. Grundschule, 34(5), 24–26.

    Ophardt, D. & Thiel, F. (2016). Klassenmanagement als Basisdimension der Unterrichtsqualität. In M. Schwer (Hg.), Lehrer-Schüler-Interaktion (S. 245-266). Wiesbaden: Springer VS.

    Schipper, W. (2009). Handbuch für den Mathematikunterricht an Grundschulen. Braunschweig: Schroedel.

    Steinweg, A. S. (2010). Einschätzung der Qualität von Lehr-Lernsituationen im mathematischen Anfangsunterricht – ein Vorschlag. JMD, 32, 1–26.

     


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  • Gemeinsames Lernen im inklusiven Mathematikunterricht der Grundschule

    Analyseschwerpunkt: Gestaltungsprinzipien für gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht der Grundschule

    Fach Mathematik

    Prof. Dr. Karina Höveler, Franziska Tilke, Heike Buddenberg

    Inklusiver Mathematikunterricht sollte neben individuellen Phasen auch gemeinsame Lernsituationen umfassen (u. a. Häsel-Weide & Nührenbörger, 2021; Korff, 2018; Prediger & Buró, 2021), um sozial-interaktive Lernprozesse und dadurch strukturelles Lernen zu ermöglichen (Miller, 1986; Nührenbörger & Schwarzkopf, 2010). Gleichzeitig sollten die individuellen Voraussetzungen aller Lernenden berücksichtigt werden und eine gezielte Förderung gewährleistet sein (Breuker et al., 2019).

    Zur Gestaltung entsprechender Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht führen Breuker et al. (2019) sonderpädagogische und fachdidaktische konzeptionelle Überlegungen zu fünf Leitlinien zusammen: „Den fachlichen Gegenstand und die individuellen Lernvoraussetzungen berücksichtigen“ (S. 318), „Mathematiklernen als aktiv-entdeckenden Prozess verstehen“ (S. 318), „Lernangebote mit natürlicher Differenzierung einsetzen“ (S. 318), „Adaptive Lernbegleitung und Unterstützung anbieten“ (S. 319) sowie „Lernprozesse diagnosegeleitet beobachten und gestalten“ (S. 319).

    Korten (2020) fokussiert die gelingende Anregung fruchtbarer kooperativer Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht und formuliert u. a. folgende zielführenden Gestaltungsmerkmale: „Strukturfokussierende adressatengerechte Impulse“ (S. 351), „Situativität und Allgemeinheit“ (S. 351), „Darstellungswechsel ermöglichen“ (S.  350) sowie „strukturfokussierende Kontexteingrenzung“ (S. 349).

    Die folgenden Gestaltungsprinzipien für gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht der Grundschule sind in den Videovignetten analysierbar:

    Gemeinsame Aufgabe

    Ein differenzsensibel angelegter Mathematikunterricht, in dem alle Kinder an einem gemeinsamen Lerngegenstand arbeiten, benötigt substantielle Aufgaben, „die ein aktives Erkunden mathematischer Einsichten [des Basisstoffs] auf unterschiedlichen Niveaus und auf unterschiedliche Weise einfordern sowie das interaktive Darstellen, Erörtern und Begründen von mathematischen Zusammenhängen ermöglichen“ (Breuker et al., 2019, S. 318). Diese Aufgaben sind eingebettet in Lernumgebungen, die folgenden Merkmalen entsprechen: Alle erhalten das gleiche sowie inhaltlich ganzheitliche, hinreichend komplexe Lernangebot, das eine Bearbeitung auf unterschiedlichen Niveaustufen und Lösungswegen erlaubt und soziales Lernen von und miteinander nahelegt (Krauthausen & Scherer, 2016). Korten (2020) ergänzt die Designprinzipien „Strukturfokussierende Kontexteingrenzung“ (S. 349) sowie „Situativität und Allgemeinheit“ (S. 351) und verweist auf eine niedrige Einstiegsschwelle.

    Im Rahmen der Videoanalyse lassen sich folgende der oben beschriebenen Kriterien für eine mündlich oder schriftlich gestellte gemeinsame Aufgabe beobachten, wobei eine gemeinsame Aufgabe – je nach Stellung in der Lerneinheit – nicht alle Kriterien gleichzeitig erfüllt:

    Alle Lernenden erhalten das „gleiche Lernangebot“ (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 50) mit einer „niedrige[n] Einstiegsschwelle“ (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 53), d. h. dass es die Aufgabe durch das Anknüpfen an Vorkenntnissen ermöglicht auch auf elementarer Ebene mathematisch tätig zu sein. Durch anspruchsvollere Aufgaben werden gleichzeitig Herausforderungen – sogenannte „‘Rampen‘ für Leistungsstarke“ (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 53) – geschaffen. Die Aufgabe bietet ausreichend „Diskussionsbedarf“ (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 53), so dass sich die Lernenden über ihre in der individuellen bzw. kooperativen Phase gewonnenen Erkenntnisse austauschen (Krauthausen & Scherer, 2016). Durch Situativität und Allgemeinheit ermöglicht die gemeinsame Aufgabe gleichzeitig eine konkret-situative und zunehmend allgemeinere Auseinandersetzung mit dem Inhalt in Hinblick auf die individuellen Ziele und verschiedenen Zugänge der Kinder (Korten, 2020).

    Darstellungsvernetzung ermöglichen

    Für eine adaptive Lernbegleitung und Unterstützung ist u. a. „das Nutzen von Veranschaulichungen und Arbeitsmitteln“ (Breuker et al., 2019, S. 319) zentral. Diese Darstellungen müssen miteinander vernetzt werden, was „die Tätigkeiten Unterscheiden, Übersetzen, Wechseln, Zuordnen, in Beziehung setzen zwischen bzw. von unterschiedlichen Darstellungen“ (Wessel, 2015, S. 69) umfasst, wobei das Beziehungherstellen die entscheidende Tätigkeit ist (Wessel, 2015). Für die Darstellungsvernetzung ergeben sich basierend auf Kuhnkes Unterscheidung der Darstellungsebenen (Bilder, sprachliche Symbole, mathematische Symbole, Handlungen mit Material) (Kuhnke, 2013) die folgenden Kategorien:

    Intermodale Vernetzung: Die Lehrperson bzw. die Lernenden setzen die Darstellungen verschiedener Darstellungsformen (z. B. Bild – sprachliche Symbole, Bild – Handlung mit Material, Handlung mit Material – mathematische Symbole, ...) in Beziehung

    Intramodale Vernetzung: Die Lehrperson bzw. die Lernenden setzen die Darstellungen innerhalb einer Darstellungsform (z. B. Bild 1 – Bild 2, ...) in Beziehung

    (Kuhnke, 2013; Wessel, 2015).

    Entsprechende Vernetzungen schaffen einen Anknüpfungspunkt zur Diskussion von heterogenen Zugängen und Deutungen (Korten, 2020).

    Im Rahmen der Videoanalyse lässt sich beobachten, ob die Lehrende bzw.- die Lernenden verschiedene Darstellungen in Beziehung setzen (intermodal oder intramodal vernetzen).

    Forschermittel

    Neben der Auswahl der Aufgabe ist es nach Breuker et al. (2019) wichtig, „dass die formulierten Erkenntnisse der Schülerinnen und Schüler an Beispielen und Darstellungen verdeutlicht werden, sodass möglichst viele Lernende die Chance haben, diese nachzuvollziehen und davon zu profitieren“ (S. 320). Forschermittel, zu denen sowohl nonverbale Darstellungsmittel (z.B. Wendeplättchen, Dienes-Material, Rechenstrich) als auch Strukturierungen (z.B. farbige Markierungen, eingekreiste Elemente, Hervorhebungen mit Pfeilen) zählen, helfen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Sie dienen sowohl als ‚Instrument‘, um Entdeckungen zu machen und Erkanntes (erneut) zu fokussieren, als auch als ‚Dokument‘, um Erkanntes festzuhalten sowie es sich und anderen zu erklären (Selter, 2017).

    Im Rahmen der Videoanalyse lässt sich beobachten, ob die Lehrende bzw. die Lernenden Forschermittel zum Markieren von Auffälligkeiten bzw. zum Erklären von Zusammenhängen nutzen.

    Strukturfokussierende und lösungsprozessunterstützende Impulse

    „Verbale oder nonverbale didaktische Impulse seitens der Lehrenden werden situationsangemessen … gegeben …, um seitens der Kinder u. a. mathematische Beschreibungen, Erklärungen, Begründungen und Argumentationen … herauszufordern, die Anzeichen für eine fruchtbare Interaktion und für einen Lernprozess sein können“ (Korten, 2020, S. 351). Diese Impulse fokussieren mathematische Strukturen und Muster und fordern „zum genauen Hinschauen, Erklären, Hinterfragen, Entdecken und Reflektieren“ (Korten, 2020, S. 351) auf. Impulse der Lehrenden können aber auch den Lösungsprozess des Kindes fokussieren und so „zum Reflektieren des eigenen Lösungsweges anregen“ (Schütte, 2002, S. 18) und „zum Entwickeln eines Lösungsplans führen“ (Schütte, 2002, S. 18).

    Im Rahmen der Videoanalyse lässt sich beobachten, ob die Lehrende die Lernenden situationsangemessen u.a. „zum genauen Hinschauen, Erklären, Hinterfragen, Entdecken und Reflektieren“ (Korten, 2020, S. 351) auffordert und ihre Impulse dabei auf die mathematischen Strukturen und Muster fokussiert (strukturfokussierende Impulse) oder ob sie Impulse gibt, die zum Nachdenken über eigene Denk- und Lösungsprozesse auffordern und zum Entwickeln eines Lösungsplans führen (lösungsprozessunterstützende Impulse).

    Kooperatives Lernen

    Kooperatives Lernen findet immer dann statt, wenn die Lernenden aufgabenbezogen interagieren und ihre Beziehung symmetrisch ist (Hähn, 2021). Hähn (2021) unterscheidet mit der „kooperativ-solidarische[n]“ (S. 325) und der „latent-kooperativen Lernsituation“ (S. 328) zwei verschiedene kooperative Situationen.

    Kooperativ-solidarisches Lernen beinhaltet, dass die Lernenden

    sich gemeinsam mit einer reichhaltigen Aufgabe auseinandersetzen und dabei mathematische Ideen entwickeln, diskutieren und ggfs. weiterentwickeln (Inhaltsaspekt) sowie

    beide an der Situation partizipieren (Beziehungsaspekt)

    (Hähn 2021 in Anlehnung an Wocken).

    Dabei kann die inhaltliche Verantwortung der Lernenden für die mathematische Idee unterschiedlich groß sein und sich auch in nonverbalen Handlungen zeigen (Hähn, 2021).

    In der latent-kooperativen Lernsituation partizipiert einer der Lernenden als ‚stiller Beobachter‘ rezeptiv, kann hinterher die mathematische Idee aber alleine reproduzieren bzw. in einem anderen Kontext anwenden (Hähn, 2021).

    Im Rahmen der Videoanalyse lässt sich Letzteres nicht nachvollziehen, so dass sich nur die kooperativ-solidarische Lernsituation dadurch beobachten lässt, dass die Lernenden aufgabenbezogen interagieren und – ggf.  auch nonverbal durch Handlungen – wechselseitig aufeinander Bezug nehmen, indem sie Fragen stellen, eigene Ideen und Entdeckungen äußern, Ideen Anderer hinterfragen und sie ggfs. weiterentwickeln und/oder begründen.

    Literatur

    Breuker, T., Freesemann, O., Häsel-Weide, U. , Moser Opitz, E., Nührenbörger, M. & Wittich, C. (2019). Fördern im inklusiven Mathematikunterricht im Spannungsfeld zwischen gemeinsamen Lernsituationen und gezielter Förderung. Zeitschrift für Heilpädagogik 70., 2019, 316-326.

    Hähn, K. (2021). Partizipation im inklusiven Mathematikunterricht. Analyse gemeinsamer Lernsituationen in geometrischen Lernumgebungen. Springer Spektrum.

    Häsel-Weide, U., & Nührenbörger, M. (2021). Inklusive Praktiken im Mathematikunterricht. Empirische Analysen von Unterrichtsdiskursen in Einführungsphasen. ZfG, 14, 49–65. https://doi.org/10.1007/s42278-020-00097-1

    Korff, N. (2018). Inklusiver Mathematikunterricht in der Primarstufe: Erfahrungen, Perspektiven und Herausforderungen (3. unveränderte Auflage). Schneider Verlag Hohengehren.

    Korten, L. (2020). Gemeinsame Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht: Zieldifferentes Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand des flexiblen Rechnens in der Grundschule. Springer Fachmedien.

    Krauthausen, G., & Scherer, P. (2016). Natürliche Differenzierung im Mathematikunterricht. Konzepte und Praxisbeispiele aus der Grundschule. Kallmeyer in Verbindung mit Klett.

    Kuhnke, K. (2013). Vorgehensweisen von Grundschulkindern beim Darstellungswechsel. Eine Untersuchung am Beispiel der Multiplikation im 2. Schuljahr. Springer Spektrum.

    Miller, M. (1986). Kollektive Lernprozesse - Studie zur Grundlegung einer soziologischen Lerntheorie. Suhrkamp.

    Nührenbörger, M., & Schwarzkopf, R. (2010). Die Entwicklung mathematischen Wissens in sozial-interaktiven Kontexten. In C. Böttinger, K. Bräuning, M. Nührenbörger, R. Schwarzkopf, & E. Söbbeke (Hrsg.), Mathematik im Denken der Kinder. Anregungen zur mathematikdidaktischen Reflexion (S. 73-81). Klett-Kallmeyer.

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  • Individualisierte Orthographievermittlung in heterogenen Gruppen

    Analyseschwerpunkt: Problemlöseprozesse im Rechtschreibunterricht

    Fach Deutsch

    Anne Berkemeier, Svenja Völkert, Necle Bulut, Laura Deepen & Yvonne Elger

    Individualisierung und Digitalisierung im sprachanalytischen Rechtschreibunterricht

    Die Wortschreibung im Deutschen basiert in erster Linie nicht auf unzusammenhängenden und daher einzeln auswendig zu lernenden Regeln, sondern unterliegt größtenteils graphematischen Prinzipien, die zu einer überschaubaren Anzahl an Verschriftungsregeln zusammengefasst werden können. Diese wiederum sind schließlich für alle Wörter desselben Schreibprinzips gültig. Ein moderner und möglichst effektiver Rechtschreibunterricht macht sich diese sprachstrukturellen Gesetzmäßigkeiten für die Vermittlung zunutze. Wie eine solche sprachanalytische Vermittlung gelingen kann, die ein individualisiertes Lernen und Lehren erlaubt, soll anhand von Videoaufnahmen einer Unterrichtseinheit gezeigt werden, in der ein neues Konzept zur Rechtschreibung zum Einsatz kommt: Mithilfe des auf Arbeiten von Röber (2009) und Bredel (2010) basierenden Instruments der sogenannten Silbenkette (Berkemeier 2019) erlernen Schüler*innen einen Großteil der Wortschreibungsprinzipien selbstgesteuert und werden dazu befähigt, eigene Schreibungen selbst zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Eine besondere Rolle kommt hierbei dem Einbezug digitaler Arbeitsformate zu, die der Entlastung sowohl auf Seiten der Lernenden als auch der Lehrenden dient. Die Lernenden erhalten durch eine Reihe von kurzen, zielgruppenspezifischen Erklärvideos (Berkemeier/Völkert/Bulut 2020) in Kombination mit digital zu bearbeitenden Anschlussaufgaben und einem Lösungsheft einen individuellen Zugang zu den Materialien und können sich so die Funktionsweise der Silbenkette und die verschiedenen orthographischen Regeln sukzessive und in ihrem eigenen Tempo erarbeiten. Die Erklärvideos und Übungsaufgaben können beliebig oft wiederholt werden, was der Lehrkraft Freiraum verschafft, die Schüler*innen im Sinne einer Lernbegleitung individuell zu unterstützen. Die Übungsaufgaben dienen in erster Linie der Einführung der orthografischen Regeln und dem Umgang mit dem Instrument. Ziel ist, dass sich die Lernenden so früh wie möglich mit ihren eigenen Schreibungen auseinandersetzen und lernen, diese mithilfe der Silbenkette möglichst selbstständig zu korrigieren.

    Aufbau und Funktionsweise des Instruments Silbenkette

    Die Silbenkette ist eine strukturierte Schreibhilfe, mithilfe der alle Wortschreibungsphänomene des silbischen und morphologischen Prinzips vermittelt, geübt und korrigiert werden können. Gemäß dem silbenanalytischen Prinzip spielt die Nutzung der Zweisilbigkeit hierbei eine große Rolle: Die Vermittlung und das Einüben der Wortschreibung geschieht durch zwei Varianten der Silbenkette (s. Abb. 1), in die die einzelnen Buchstaben eingetragen werden. Welche der beiden Silbenkettenvarianten gewählt werden muss, hängt vom Stammvokal des Wortes ab. Wörter mit gespanntem/langem Stammvokal und offener Hauptsilbe wie Rasen, Biene, Schreiben werden in die durch das Zeichen ▬ visualisierte Silbenkette eingetragen, Wörter mit ungespanntem/kurzem Stammvokal und geschlossener Hauptsilbe wie Kinder, Schriften, Kette werden in die durch das Zeichen • visualisierte Silbenkette eingetragen.

    (Abbildung 1)
    Gespannte und ungespannte Silbenkette mit Beispieleinträgen
    © Svenja Völkert

    Damit das Instrument korrekt angewendet werden kann, ist die Wahl der richtigen Silbenkette sehr wichtig und stellt grundsätzlich den ersten, notfalls korrigierbaren Arbeitsschritt dar. Die beiden äußeren Rahmen der Silbenketten dienen als Visualisierung der Zweisilbigkeit und als Markierung der Hauptsilbe (fettgedruckter Rahmen). Die weißen Kästchen sind für den Eintrag von Konsonantengraphem(verbindung)en, die grauen Kästchen für den Eintrag von Vokalgraphem(verbindung)en gedacht. Um die dem Material zugrundeliegende orthographieinhärente Systematik hervorzuheben, ist der Eintrag der beiden Reduktionsvokalgrapheme (inkl. möglicher konsonantischer Endränder) bereits enthalten. Die beiden Mundbilder geben den Hinweis darauf, dass die dazugehörigen Phoneme grundsätzlich ungespannt sind. Die gestrichelte Linie im Reduktionssilbenfeld wurde von Bredel (2010) übernommen und markiert die Wortstammgrenze. Der Hinweis „st/sp?“ im ersten Kästchen ist bereits von Anfang an sichtbar, die entsprechende Schreibregel wird jedoch erst später eingeführt. Die beiden Kernelemente des Materials werden um weitere Komponenten ergänzt. Hierzu gehören zwei Prüfstreifen, die in Kombination mit den Silbenketten verwendet werden und jeweils zur Herleitung oder Prüfung von Wortschreibungen dienen, indem sie die verschiedenen Verschriftungsregeln abbilden. Für die Aufdeckung von Auslautverhärtungen dient eine zusätzliche Anlegekarte, die an das fragliche Wort angelegt werden kann. Die Prüfstreifen und die Anlegekarte spielen im Kontext der zu diesem Analyseschwerpunkt gehörigen Unterrichtsvideos und Videoclips noch keine Rolle, weshalb auf die genaue Funktionsweise dieser hier nicht weiter eingegangen wird. Zur Einführung der genannten Kernelemente wurden rund 20 Erklärvideos erstellt, mit deren Hilfe die Verwendung des Instruments und die verschiedenen orthographischen Markierungen erläutert werden. Die Erklärvideos schließen jeweils mit einer aus mehreren Übungswörtern bestehenden Anwendungsaufgabe ab, die mit einem Lösungsheft eigenständig kontrolliert werden kann. Ergänzt wird das Material noch um einen Dokumentationsbogen für die Gesamtgruppe, auf dem die Lehrkraft den jeweiligen Stand der Lernenden eintragen kann.

    Handhabung des Materials

    Im Idealfall arbeiten in der Einführungsphase immer zwei Kinder zusammen an einem Tablet (das für dieses Rechtschreibkonzept verwendete Programm Explain everything funktioniert leider nur am iPad, nicht an Tablets anderer Hersteller. Alternativ stehen PowerPoint- und PDF-Versionen zur Verfügung). In den sich jeweils an die Erklärvideos anschließenden Übungsreihen erscheinen mittels Bild und Audio nacheinander verschiedene Begriffe, die in die (passende) Silbenkette einzutragen sind. Dabei trägt ein Kind das jeweilige Wort in die Silbenkette ein, das andere Kind überprüft die Schreibung mithilfe des dazugehörigen Lösungsheftes. Der Vorteil der Partnerarbeit liegt insbesondere in der verstärkten Reflexionsmöglichkeit der Beteiligten, die sich durch anschließende Rechtschreibgespräche ergeben kann. Um sicherzustellen, dass (richtig) kontrolliert wird, kann eine knappe Tischvorlage zum Einsatz kommen, die eine systematische Vorgehensweise beim Kontrollieren vorschlägt und beispielsweise daran erinnert, darauf zu achten, ob die richtige Silbenkette ausgewählt wurde. Die Entscheidung, in welche der beiden Silbenkettenvarianten das zu schreibende Wort eingetragen werden muss, mag für Erwachsene oder ältere Lernende mit bereits fortgeschritteneren Schrifterfahrungen banal erscheinen, ist für Lernende im Anfangsstadium des Schrifterwerbs (Schuleingangsphase) jedoch meistens schwierig, weshalb sie hier Unterstützung benötigen. Diese bietet das Silbenkettenmaterial in Form von verschiedenen Proben bzw. Strategien (s.u.). Weil eine Strategie allein nicht zwangsläufig hinreichend für eine erfolgreiche Entscheidungsfindung ist und weil sich bei den Lernenden individuell unterscheiden kann, welcher Zugang zur Vokalphonemunterscheidung für sie am besten funktioniert, werden die Lernenden an unterschiedliche Strategien herangeführt. Für alle u.g. Strategien gilt, dass das Wort standardnah, aber möglichst „natürlich“ auszusprechen ist, also nicht überlautiert werden darf, wie es oft von Lehrenden in der Schuleingangsphase angeleitet und dann von den Kindern übernommen wird. Mit Überlautung ist im Gegensatz zu einer deutlichen Explizitlautung eine überdeutliche Artikulation von Wörtern (z.B. [te:lle:ʀ] statt [tɛlɐ] oder [ze:he:n] statt [ze:ɘn]) gemeint. Auf dieser Grundlage können keine korrekten Entscheidungen bzgl. der distinktiven Merkmale Länge und/oder Gespanntheit getroffen werden. Durch entsprechende Tischvorlagen können die Lernenden an die unterschiedlichen Strategien erinnert werden. Zu den Strategien, an die die Lernenden herangeführt werden, zählen die folgenden:

    Überprüfung der Gespanntheit

    Aufgrund der guten physischen Nachvollziehbarkeit stellt die Unterscheidung zwischen den Merkmalen gespannt und ungespannt im Silbenkettenmaterial eine wichtige Strategie dar.  Anhand von entsprechenden Artikulationsbewegungen wird in den Erklärvideos anschaulich gezeigt, wie man muskuläre Spannung an den Lippen und Wangen sehen und ertasten und somit entscheiden kann, welche Silbenkettenversion zu verwenden ist. Das Prinzip der Gespanntheit wird zusätzlich an einem Gummiband demonstriert, welches von den Lernenden ebenfalls zu Hilfe genommen werden kann. Die Überprüfung der Gespanntheit von Vokalphonemen kann oftmals hilfreich sein, jedoch gibt es auch Fälle, in denen diese Strategie nicht unbedingt weiterhilft, weil sich die entsprechenden Vokalphoneme im Merkmal Gespanntheit kaum bis gar nicht unterscheiden, wie es z.B. bei [a:] und [a] sowie [ɛ:] und [ɛ] der Fall ist.

    Überprüfung der Länge

    Das Unterscheidungsmerkmal Vokallänge ist das im Grundschulunterricht wohl am meisten verbreitete Merkmal – u.a. deshalb, da es auf alle Vokalphonempaare zutrifft. Neben dem Höreindruck kann die Feststellung, ob ein Vokalphonem lang oder kurz ist, mithilfe von passenden Gesten unterstützt werden. Im Silbenkettenmaterial werden die Kinder etwa dazu aufgefordert, auszutesten, ob eine kurze Klatsch- oder eine eher langsame Streichbewegung zur Silbe passt. Das Problem bei dieser Probe besteht darin, dass das Merkmal Vokallänge nicht ganz unabhängig vom Sprechtempo ist und die wahrgenommene Länge im isoliert gesprochenen Wort von der tatsächlichen (also im Kontrast zum zur Opposition stehenden Vokalphonem) abweichen kann.

    Überprüfung des Silbenendes der Stammsilbe (Silbenschwingen)

    Das Silbenschwingen ist eine mithilfe von einer Handgeste unterstützte, lautsprachliche Silbensegmentierung. Das Wort wird vom Lernenden silbisch getrennt gesprochen und die Hand beschreibt währenddessen in der Luft zwei Bögen, wobei jeder Bogen für eine Silbe steht. Das Silbenschwingen zielt darauf ab, offene von geschlossenen Silben zu unterscheiden. Dies geschieht, indem der Fokus nach dem Schwingen der ersten Silbe auf den Silbenrand dieser ersten Silbe gelegt wird, um herauszufinden, ob diese erste Silbe mit einem Vokal- oder einem Konsonantenphonem endet. Die Probe ist bei vielen Wörtern sinnvoll und aufschlussreich, hilft bei Wörtern mit doppeltem Konsonantengraphem wie Wasser, rennen oder Kappe jedoch nicht weiter, da es sich bei dem jeweiligen doppeltem Konsonantengraphem um ein Silbengelenk handelt. Dieses gehört zu beiden Silben, sodass das Wort lautsprachlich gesehen nicht in zwei einzelne Silben segmentiert werden kann, da die beiden Konsonantengrapheme nur einem einzigen Phonem entsprechen. Darüber hinaus verlangt diese Strategie über sehr gute Wortdurchgliederungsfähigkeiten, was sie zu einer vor allem für Anfänger*innen anspruchsvollen Strategie macht.

    Überprüfung der Kästchenanzahl (Probeweiser Silbenketteneintrag)

    Bei dieser Strategie wird das Wort probeweise in eine der beiden Silbenketten eingetragen, um aufzudecken, ob das Wort in die ausgewählte Silbenkette passen kann. Wörter mit gespanntem/langem Stammvokal haben für die ungespannte Silbenkette einen Buchstaben zu wenig, sodass ein Kästchen freibleibt und Wörter mit ungespanntem/kurzem Stammvokal haben einen Buchstaben zu viel, sodass die Anzahl der Kästchen nicht ausreicht. Das Problem am probeweisen Silbenketteneintrag besteht darin, dass es absolute Sicherheit bei der Anwendung der Regeln zur korrekten Buchstabenverteilung voraussetzt, da ein falscher Eintrag sonst u.U. als korrekt interpretiert werden könnte. Dies gilt vor allem für Wörter mit Konsonantengraphemverdopplung, wenn diese fälschlicherweise mit nur einem Konsonantengraphem in die gespannte Silbenkette werden und trotzdem als korrekt empfunden werden.

    Beobachtungsschwerpunkte in den Videoaufnahmen

    In der in den Videos gezeigten Unterrichtsphase stehen Problemprozessanalysen im Fokus, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der inhaltlichen Verwendung des Materials, (Recht)schreibprozessen und entsprechenden Reflexionsmechanismen stehen. Dies gilt insbesondere für die Übungsphasen in Partnerarbeit. Die Klassengespräche der Plenumsphasen stehen zunächst weniger im Vordergrund. Der Analyseschwerpunkt Problemlöseprozesse lässt sich in vier bedeutsame Teilprozesse aufteilen, aus denen verschiedene Beobachtungsleitfragen abgeleitet werden können:

    Bestimmung der passenden Silbenkette

    Im Kern geht es bei diesem Teilprozess um die oben thematisierten Strategien zur Identifizierung des Stammvokals, mit deren Hilfe die Silbenkettenbestimmung vorgenommen werden kann. Zunächst ist wichtig, ob die Auswahl der passenden Silbenkette spontan oder mithilfe einer der Strategien erfolgt, außerdem, ob die Entscheidung selbstständig oder mithilfe des Partners getroffen wird. Falls Strategien zum Einsatz kommen, stellen sich folgende Fragen: Wird nur eine oder werden mehrere Strategien verwendet? Welche Strategien werden (bevorzugt) verwendet? Werden die Strategien korrekt angewendet und stellen sie folglich eine tatsächliche Hilfe dar?

    Eintrag des Wortes in die Silbenkette

    Bei diesem Teilprozess geht es darum, zu analysieren, ob und wie die verschiedenen Herausforderungen beim Eintragen eines Wortes in die Silbenkette gemeistert werden und wie mit Fehlern bzw. sich offenbarenden Problemen umgegangen wird. Falls die passende Silbenkette ausgewählt wurde, stellt sich zunächst die Frage, ob der Eintrag feldkonform, also gemäß aller Regeln für die Buchstabenverteilung erfolgt ist. Ist dies der Fall, geht es darum, zu beurteilen, ob der Eintrag orthographisch korrekt ist. Falls keine orthographische Korrektheit gegeben ist, gilt es, zu analysieren, um welche Art von Fehler es sich handelt. Hierbei sind folgende Fragen zentral: Wurde das Wort vollständig durchgliedert oder wurden Buchstaben ausgelassen? Wurden für die einzelnen Laute die jeweils korrekten Phoneme und (im Sinne einer lautgetreuen Schreibung) schließlich die korrekten Grapheme ermittelt? Wurden bereits bekannte orthographische Regeln (z.B. für [i:]) beachtet? Wurde das korrekte Reduktionsvokalgraphem unterstrichen? Und schließlich ist auch nicht unerheblich, ob der Eintrag selbstständig oder mithilfe des Partners vorgenommen wurde.

    Überprüfung mithilfe des Lösungshefts

    Bei diesem Teilprozess geht es um den korrekten Abgleich mit dem Lösungsheft. Zunächst ist festzustellen, ob der Worteintrag durch den Lernpartner überprüft wird. Ist dies der Fall, stellt sich die Frage, ob dieser lediglich wissensbasiert (anhand der eigenen Einschätzung) oder mithilfe des Lösungshefts prüft. Falls das Lösungsheft zurate gezogen wird, kann evtl. noch beobachtet werden, ob beim Abgleich auf alle Komponenten des Silbenketteneintrags geachtet wird (Richtige Silbenkette, Feldkonformität, Korrektes Unterstreichen).

    Lernunterstützung durch die Lehrkraft

    Bei diesem fakultativen Teilprozess geht es um die Intervention der Lehrkraft im Rahmen der Partnerarbeit. Hierbei stellt sich grundsätzlich die Frage, welche lernunterstützenden Maßnahmen die Lehrkraft zu welchem Zeitpunkt anbietet und ob die Maßnahmen sich im jeweiligen Fall lernförderlich (im Sinne von verständnisfördernd) auswirken oder im Sinne der Aufgabe eher lösungsorientiert sind und darauf abzielen, die Weiterarbeit zu ermöglichen.

    Literatur:

    • Berkemeier, Anne (2019): Schrift- und Orthographievermittlung in vielfältigen Lerngruppen – Ein Theorie-Praxis-Band mit kompatiblen Instrumenten für alle Schulstufen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
    • Berkemeier, Anne/ Völkert, Svenja/ Bulut, Necle (2020): Materialien zur Einführung der Silbenkette. Verfügbar unter: https://sprachdidaktik.uni-muenster.de/silbenkette/
    • Bredel, Ursula (2010): Der Schrift vertrauen. Wie Wörter und ihre Strukturen entdeckt werden können. Praxis Deutsch, 221, 14 – 21. Hannover: Friedrich Verlag.
    • Röber, Christa (2009): Die Leistungen der Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen – Grundlagen der silbenanalytischen Methode – ein Arbeitsbuch mit Übungsaufgaben. Baltmannsweiler: 2. Aufl. Schneider Hohengehren.