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Münster (upm)
Der Bildungskongress bietet Lehrkräften neue Impulse aus der Wissenschaft.<address>© ZfL / Peter Grewer</address>
Der Bildungskongress bietet Lehrkräften neue Impulse aus der Wissenschaft.
© ZfL / Peter Grewer

"Begeisterung ist der Motor, der Lernen ermöglicht"

6. Münsterscher Bildungskongress: Prof. Dr. Christian Fischer über Bildungsgerechtigkeit und individuelle Förderung im Schulunterricht

Gute Bildungspolitik muss Chancengerechtigkeit für alle gewährleisten. Das gilt für Kinder mit Beeinträchtigungen genauso wie für Kinder mit besonderen Begabungen und Potenzialen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem sozialen Status. In Deutschland lag der Fokus lange fast ausschließlich auf leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern. Zentrales Ziel von individueller Förderung war es, schwächere Schüler an die Mittelmaßnorm heranzuführen und damit die klasseninterne Varianz der Leistungen zu verringern. Das ist ein durchaus lohnenswertes und richtiges Ziel. Dabei wurde allerdings vernachlässigt, dass auch (potenziell) leistungsstarke Schüler Herausforderungen brauchen, um ihre Fähigkeiten optimal entfalten zu können. Bildungsgerechtigkeit muss in diesem Sinne als umfassender Begriff verstanden werden, der sich auf alle fokussiert: auf Schüler mit Lernschwierigkeiten ebenso wie auf Schüler mit besonderen Talenten.

Eine große Herausforderung ist dabei der Lehrermangel. Gerade in inklusiven Kontexten ist eine Doppelbesetzung in einer Schulklasse sinnvoll. Auf breiter Basis ist das aber leider noch nicht realisierbar. Deshalb sind an dieser Stelle innovative Lernarchitekturen gefragt. Viele Schulen holen sich beispielsweise Unterstützung von ehemaligen Lehrkräften oder ehrenamtlichen (Lese-)Paten. Andere setzen stärkere Schüler als Tutoren ein, die schwächere Mitschüler unterstützen. Am Hochschulstandort Münster entwickeln Schulen in Kooperation mit der Universität innovative Unterstützungsformate, in denen Lehramtsstudierende ihre Praxisphasen absolvieren. Das ist für beide Seiten ein Gewinn.

Am Internationalen Centrum für Begabungsforschung verfolgen wir in der Begabungsförderung den Ansatz, das Lernangebot an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Dazu braucht es in erster Linie passende Formate wie beispielsweise Formen des selbstgesteuerten und forschenden Lernens. Das bedeutet, dass Kinder, die mehr Unterstützung seitens der Lehrer benötigen, diese auch erhalten, während leistungsstärkere Kinder entsprechende Freiräume für eigenständiges Arbeiten bekommen. Bertolt Brecht sagte einst: „Der Lehrer muss lernen, mit dem Lehren aufzuhören, wenn es Zeit ist. Das ist eine schwere Kunst.“ Bei interessensorientiertem Arbeiten an selbstgewählten Themen und Projekten sind Lehrkräfte nach anfänglicher Anleitung oft gar nicht mehr in großem Maße gefragt. Diese Zeit können sie stattdessen nutzen, um Schwächere zu fördern.

Im Rahmen der Förderinitiative „Leistung macht Schule“ war ich mit einer Kollegin der Universität Münster kürzlich in den USA. Dort haben wir Schulen in New York und Connecticut besucht, die nach diesem Modell arbeiten. Es war sehr beeindruckend zu sehen, mit welchem Engagement die Schüler – auch aus bildungsbenachteiligten Lagen – gearbeitet haben. In einigen Schulen in und um Münster gibt es ähnliche Projekte. Auch hier sehen wir, wie Schüler durch eigenverantwortliches Lernen über sich hinauswachsen. Im Bereich der Inklusion haben Lehrer dieses Modell bereits erfolgreich für Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf adaptiert. Begabungsförderung im Sinne einer potenzialorientierten Pädagogik kann also eine Pädagogik für alle werden. Zudem schafft sie Freiräume in Schulen, die letztlich die Lehrkräfte entlastet.

Neben dem Ziel, eine begabungs- und leistungsfördernde Lernkultur in den Schulen zu schaffen, verfolgt die Initiative „Leistung macht Schule“ vor allem das Ziel, individuelle Förderung im Regelunterricht zu verankern. Früher fand Begabungsförderung oft nachmittags in den Arbeitsgemeinschaften statt. Ein Junge sagte mir einmal dazu: „Eigentlich habe ich keine Lust, nachmittags zu denjenigen Personen zu gehen, die mich vormittags langweilen.“ Deshalb muss es das Ziel sein, den Regelunterricht so zu verändern, dass er differenziert alle Kinder unterstützt und die Stärkeren genauso in den Blick nimmt wie die Schwächeren. Begeisterung ist der Motor, der Lernen ermöglicht.

 

Christian Fischer ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Begabungsforschung/Individuelle Förderung. Er ist Vorstandsvorsitzender des Internationalen Centrums für Begabungsforschung, wissenschaftlicher Leiter des Landeskompetenzzentrums für Individuelle Förderung NRW und Mitorganisator des 6. Münsterschen Bildungskongresses.

 

 

Info: Der Bildungskongress

Der 6. Münstersche Bildungskongress vom 19. bis 22. September widmet sich mit Blick auf eine verbesserte Bildungsgerechtigkeit den Themen Begabungsförderung und Leistungsentwicklung. Veranstalter ist das Internationale Centrum für Begabungsforschung der WWU. Im Rahmen des Kongresses, zu dem rund 1000 Teilnehmer erwartet werden, kommen erstmals Lehrer und Wissenschaftler der Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ zu einem inhaltlichen Auftakt miteinander ins Gespräch. Schirmherrin ist Anja Karliczek, Bundesministerin für Bildung und Forschung.

 

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung „wissen|leben“ Nr. 5, 18. Juli 2018.

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