|
Münster (upm/nor)
Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Ewald Terhart wird am 12. Juli um 13 Uhr in der Schloss-Aula in den Ruhestand verabschiedet.<address>© WWU / Peter Leßmann</address>
Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Ewald Terhart wird am 12. Juli um 13 Uhr in der Schloss-Aula in den Ruhestand verabschiedet.
© WWU / Peter Leßmann

„Jetzt ist es auch gut gewesen“

Das letzte Interview vor dem Ruhestand: Erziehungswissenschaftler Prof. Ewald Terhart über Bildungspolitik, Föderalismus und Willkür-Entscheidungen

42 Jahre nach seinem Diplom in Erziehungswissenschaft und 35 Jahre nach der Übernahme seiner ersten Professur geht einer der bekanntesten deutschen Schulpädagogen in den Ruhestand: Am 12. Juli findet die Verabschiedungsfeier für Prof. Dr. Ewald Terhart in der Schloss-Aula statt. Im Interview mit Norbert Robers gibt er Einblicke in die Anfänge seiner Karriere, bewertet die Schulpolitik der Länder und schildert seine Ruhestands-Ideen.

Was ist Ihr erster Gedanke, wenn Sie jetzt an Ihren bevorstehenden Abschied denken?

Ganz ehrlich? Dann dieser: Jetzt ist es auch gut gewesen. Ich bin, streng genommen, sogar seit Beginn meines Studiums im Wintersemester 1971 mit der Erziehungswissenschaft verbunden. In diesen Jahrzehnten hat sich die Disziplin enorm verändert, so dass es immer gleichzeitig interessant und anstrengend gewesen ist und weiterhin ist. Aber gleichwohl: Jetzt ist es gut, dass ich mich verabschieden kann.

Woher rührte Ihr großes Interesse an Erziehungswissenschaft und speziell an Schulpädagogik?

Mit meinem Elternhaus hatte es jedenfalls nichts tun – Universität und Ähnliches spielte bei uns im bäuerlichen Westmünsterland keine Rolle. Mein Interesse entwickelte sich zu Ende meiner Schulzeit. Ich muss sagen, dass ich immer gerne zur Schule gegangen bin. Ich hatte das Gefühl, dass sie mir die Welt eröffnet. Dieses Interesse an Schule hat sich dann im Studium verdichtet. So empfinde oder deute ich es jedenfalls nachträglich – es gab jedenfalls keine Art von Erweckungserlebnis.

Sie kennen Universitäten seit über 40 Jahren. Was hat sich im Wesentlichen verändert?

Alle Abläufe sind mittlerweile stark von Rechtsfragen und administrativen Regularien dominiert. Das war vor Jahrzehnten viel einfacher. Aber ich will gleich die andere Seite der Medaille hinzufügen: Das frühere System war wesentlich anfälliger für persönliche Einflüsse und für die Willkür einzelner Personen. Heute sind alle Prozesse viel objektiver, reglementierter und kontrollierter – dafür aber auch langsamer. Sie sehen: Wie bei vielen Dingen im Leben gibt es auch dabei Licht und Schatten.

Apropos einzelne Personen: Wie beurteilen Sie die heutigen Karrieremöglichkeiten in der Wissenschaft?

Auch hier gilt: Der Einfluss und die Willkür einzelner, vermeintlich großer Ordinarien ist zurückgedrängt worden. Heute zählen objektive Leistungen wie verschiedene Indexe oder die Drittmitteleinnahmen. Das hat enorme Verschiebungen mit sich gebracht, die ich – im Vergleich mit den früheren Verhältnissen – insgesamt positiv beurteile. Auf der anderen Seite ist das System sehr mechanisch geworden, weil es oft nur noch um quantitative Größen wie etwa die Zahl der Aufsätze oder Poster und die Höhe der Drittmittel geht.  Schließlich: Auch der Abbau des dauerbeschäftigen wissenschaftlichen Mittelbaus hat die Arbeit an den Hochschulen verändert. Heute weiß man Positionen wie die der Akademischen Räte wieder neu zu schätzen, weil man erfahren hat, dass es nur mit Professoren und befristeten Mitarbeitern insbesondere in der Selbstverwaltung und der Lehre nicht funktioniert.

Die Schulpolitik spielt fast in jeder Familie eine mehr oder weniger große Rolle. Besonders kritisch wird dabei die Tatsache diskutiert, dass dieses Politikfeld den Bundesländern obliegt und somit sehr unterschiedlich gestaltet wird. Halten Sie das für gut oder schlecht?

So gefragt, fällt mir jede Antwort schwer. Grundsätzlich halte ich das System für richtig im Sinne von tragbar. Es ist im Moment und wohl auch in Zukunft nicht grundsätzlich änderbar. Mit einem wichtigen Zusatz: Ich würde den Anteil der Absprachen zwischen den Ländern erhöhen, um damit die Vereinheitlichung zu fördern. Eine Abschaffung des Föderalismus zu fordern halte ich dagegen für zwecklos – dazu wird es meiner Meinung nach nicht kommen.

Was könnte beziehungsweise sollte man beispielsweise stärker vereinheitlichen?

Mein Paradebeispiel ist das große bildungspolitische Streitthema, das seit Jahrzehnten gärt: die Entwicklung der Schulformen, die auf die Grundschule folgen. Für mich steht aufgrund der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung fest, dass wir auf ein zweigliedriges System zulaufen: das Gymnasium und eine Schulform, die alle Bildungsgänge anbietet, wie immer man diese Form dann auch nennt. Alle Länder sollten es sich deswegen zum Ziel setzen, eine solche Struktur zu erreichen. Ein weiteres Beispiel sind die Lehramtsausbildungen, die in den Bundesländern sehr unterschiedlich sind. Auch hier sollte man stärker vereinheitlichen.

Sind Sie, diese beiden Punkte betreffend, optimistisch?

Zu Punkt eins: ja. Zu Punkt zwei: nein. Denn bisher hat die Politik immer mit Schnellschüssen auf die Entwicklungen reagiert: Werden Lehrer gebraucht, senkt man die Standards – gibt es zu viele Lehrer, hebt man sie an. Dieser Zyklus scheint sich mittlerweile verewigt zu haben, obwohl demographische Entwicklungen gut vorherzusagen sind. Aber die Politik reagiert gerne erst dann, wenn die Hand auf der Herdplatte bereits qualmt.

Teilen Sie also den Eindruck, dass Schulpolitik ein beliebter „Spielball“ der Politik ist?

Eindeutig. Und dieses Verhalten ist ja auch irgendwie logisch. Es ist allein die Bildungs- und Schulpolitik, in der die Bundesländer im Verhältnis zum Bund das Sagen haben. Da leben sie sich aus, indem sie beispielsweise fünf neue Leistungspunkte in der Lehrerausbildung erfinden oder verschieben. Toll! Auf der anderen Seite ist die Wucht aus der länderpolitischen Bildungspolitik nahezu verschwunden…

…diese beiden Beobachtungen scheinen aber nicht zusammenzupassen...

Doch. Denn in den 60er oder 70er Jahren gab es vergleichsweise wesentlich gravierendere Streitthemen und Entscheidungen. Es ging um die Frage der aktiven Gestaltung der Schulstruktur. Die Bildungspolitiker haben jedoch gelernt, dass sie damit ihre eigene Karriere gefährden und halten sich deswegen heute mit großen und systemrelevanten Entscheidungen eher zurück. Die meisten Politiker trauen sich keine scharfen Entscheidungen mehr zu, weil sie wissen, wie viel Macht die Eltern haben, und weil sie aus der Vergangenheit klug geworden sind. Ihr Motto lautet daher heute: den Ball lieber etwas flacher halten und den Elternwillen intensiv einzubeziehen.

Halten Sie das für richtig? Denn man könnte es auch als politische Feigheit auslegen…

Das stimmt. Aber ich halte es für nachvollziehbar und auch begründbar. Denn was soll es nutzen, wenn ich sehenden Auges in einen Konflikt mit der Elternschaft laufe, der dann auch noch auf dem Rücken der Schüler ausgetragen wird? Eine solche doktrinäre Politik wird am Ende immer scheitern. 

Auch die Lehrerbildung unterlag großen Schwankungen. Was hat sich auf diesem Feld in 35 Jahren verändert?

Vor allem die Aufmerksamkeit für dieses Thema, die in den vergangenen 15 bis 20 Jahren deutlich gestiegen ist. Das hing vor allem mit den Pisa-Studien und den folgenden Bildungs-Debatten zusammen. Auch die Universitäten betrachten die Lehrerbildung nicht mehr wie früher als fünftes Rad am Wagen. Früher haben bundesweit einzelne Präsidenten oder Rektoren dieses Feld mehr oder weniger abschätzig behandelt, das würde sich heute niemand mehr trauen.  Auch sind die Studiengänge viel strukturierter als früher…

… was nicht wenige Beobachter als Verschulung der Universitäten kritisieren.

In dieser Pauschalität stimmt der Vorwurf einfach nicht. Zudem sind auch unsere Studenten auf einer Schule, nur eben auf einer hohen Schule. Ein bisschen Verschulung beziehungsweise Strukturierung schadet daher nicht. Früher gab es viel mehr Beliebigkeit im Angebot – für Studierende wie Lehrende. So mancher Dozent bot einfach das an, was ihm am besten gefiel. Ein Polemiker hat dies einst als ,organisierte Verantwortungslosigkeit‘ bezeichnet – da war etwas dran.  

War Hochschullehrer für Sie, rückblickend betrachtet, der Traumberuf?

Ganz sicher, es ist ein toller, ein wunderbarer Beruf, und ich kann mir auch keinen besseren vorstellen – zumindest nicht für mich. Wenn ich es mir richtig überlege, bin ich in diesen Beruf eher reingerutscht. Ich hatte natürlich auch sehr viel Glück. Meine Karriere startete zu einer Zeit, als das Wissenschaftssystem und auch die Erziehungswissenschaft noch wuchsen, und man mit starkem Engagement und entsprechender Selbstdisziplin gute Karrierechancen hatte.

Früher war in Sachen Karriere also alles besser?

Natürlich kann man auch dies nicht pauschal beantworten. Ich gehöre zu der ersten Gewinner-Generation der Bildungsexpansion, die den Großteil der Plätze im System besetzt haben. Die Nachfolgegeneration hatte es bereits deutlich schwerer. Heute gilt zudem, als Nachwuchswissenschaftler möglichst hyperaktiv zu sein, weil man schließlich weiß, dass der Kollege von nebenan ebenfalls mindestens genauso hyperaktiv ist. Ein solches System hat starke Anpassungszwänge zur Folge. Wer heute besonders kreativ sein will, der muss damit rechnen, dass es ihm nicht unbedingt gedankt wird.

Bei Ihnen ist nun also bald Schluss mit der Hyperaktivität. Wie muss man sich Ihren Ruhestand vorstellen?

Ich werde sicher etwas mehr als bisher reisen. Und beruflich kann ich weiterhin lesen, schreiben, forschen und Arbeiten betreuen – ich kann also die schönen Seiten meines Berufs weiter genießen: lesen, schreiben, vortragen, in überregionalen Kommissionen mitarbeiten, begutachten und so weiter.  Je nach Bedarf und mit Zustimmung des Instituts werde ich jeweils in den Wintersemestern Lehre anbieten. Auf die aus meiner Sicht  unangenehmen Seiten des Universitätsbetriebs kann ich dagegen gerne verzichten: langweilige Sitzungen, endlose und wirre Aushandlungsprozesse zwischen den Interessengruppen und Entscheidungsebenen, zahllose mündliche Prüfungen – diese langen Prüfungsperioden waren wirklich manchmal intellektuell zermürbend. Jetzt kann ich mir die Rosinen aus meinem Beruf rauspicken. Und wissen Sie was: Ich kann ja auch nichts anderes…

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 4, 20. Juni 2018

Links zu dieser Meldung