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Münster (upm/nor)

Schnelle Privatisierung vor strafrechtlicher Aufklärung

Privatisierung der DDR-Betriebe: Erstmals liegt eine Analyse über Straftaten in der Treuhandanstalt vor

Es war eines der spannendsten Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte: die Privatisierung aller "Volkseigenen Betriebe" (VEB) der DDR nach der Wiedervereinigung. Von März 1990 bis Ende 1994 standen die Mitarbeiter der eigens gegründeten Treuhandanstalt (THA) vor der beispiellosen Aufgabe, 8490 VEB mit mehr als vier Millionen Beschäftigten nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen zu privatisieren oder notfalls stillzulegen - Millionen ehemalige DDR-Bürger waren von der Umstrukturierung betroffen.

Fast täglich gab es Berichte und Klagen über Fördermittelmissbrauch und Straftaten wie beispielsweise Bilanzfälschung, Unterwert-Verkauf oder Bestechung. Doch zumeist blieb es bei einer punktuellen Berichterstattung. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung liegt jetzt die erste wissenschaftlich fundierte Analyse über das Ausmaß der Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit der Privatisierung der DDR-Betriebe vor: Die Autoren des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts - Prof. Dr. Klaus Boers, Kriminologe an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, WWU-Rektorin und Juristin Prof. Dr. Ursula Nelles und der Konstanzer Kriminalwissenschaftler Prof. Dr. Hans Theile - haben zudem untersucht, inwieweit die Strukturen der Treuhandanstalt kriminelle Handlungen nicht nur ermöglicht, sondern möglicherweise sogar begünstigt haben.

Die Arbeit der Treuhandanstalt basierte auf dem noch von der Volkskammer der DDR am 17. Juni 1990 beschlossenen Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) in Verbindung mit dem Einigungsvertrag und dem Staatsvertrag vom 18. Mai 1990. Mit der Wiedervereinigung wurde sie eine bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts unter der Fachaufsicht des Bundesfinanzministeriums. Die Erlöse aus Privatisierungen betrugen bis Ende 1994 einschließlich der noch nicht gezahlten, aber vertraglich vereinbarten Beträge rund 60 Milliarden D-Mark. Ihnen standen Ausgaben von weit über 300 Milliarden Mark gegenüber. Die Schulden der Treuhand wurden am 1. Januar 1995 in den Erblastentilgungsfonds eingebracht.

Basis des 684 Seiten starken Buchs sind 76 mehrstündige Interviews mit Personen, die seinerzeit an der Privatisierung und der strafrechtlichen Aufarbeitung beteiligt waren - Politiker, Geschädigte, Staatsanwälte, Richter, Strafverteidiger, Beschuldigte und zahlreiche, zum Teil ehemals hochrangige Treuhand-Mitarbeiter. Der Tenor der Gespräche ist eindeutig: Während die Politik einen möglichst schnellen und geordneten ökonomischen Wandel im Blick hatte, war die Mehrzahl der Investoren auf einen schnellen Gewinn aus. "Und dieser Interessengegensatz", schreiben die Wissenschaftler, "begünstigte das Begehen von Straftaten."

Als nachteilig habe sich dabei vor allem erwiesen, dass die Bundesregierung der Treuhandanstalt "weitgehend freie Hand ließ". Auch mangelte es an internen Privatisierungs-Richtlinien. Ein 1992 von der THA-Leitung herausgegebenes "Privatisierungs-Handbuch" wurde "eher als unverbindlich" aufgefasst. Zudem gab es erhebliche Kontrolldefizite "als Folge des politisch gewollten Primats einer schnellen Privatisierung".

Zwar gab es mit der "Stabsstelle Besondere Aufgaben" eine unternehmensinterne Kontrollinstanz zur Eindämmung der Unternehmenskriminalität. Allerdings war diese Stabsstelle in der wichtigsten Privatisierungsphase zwischen Frühjahr 1991 und Frühjahr 1995 mit nur einem Staatsanwalt und einigen beurlaubten Polizisten besetzt. "Man kann daraus schließen", betonen die Buch-Autoren, "dass die Treuhandanstalt letztlich nicht an einer umfassenden strafrechtlichen Aufklärung verdächtiger Privatisierungen interessiert war." Mehr noch: Angesichts der Unmöglichkeit einer umfasssenden Sozialkontrolle habe sich die "Selektivität der Strafverfolgung zum zentralen Konzept" entwickelt.

Die Stabsstellen-Mitarbeiter bearbeiteten insgesamt 3661 strafrechtliche bedeutsame Vorgänge - einen Ermittlungs- oder Anzeigezwang gab es allerdings nicht. So erklärt sich auch die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaften damals mit 1426 weit weniger Ermittlungsverfahren einleiteten - zudem beruhten nur 30 Prozent dieser Verfahren auf Anzeigen der Treuhand-Stabsstelle. Mit der unternehmensinternen Strafverfolgung sollte vor allem in der weitgehend regellosen Anfangsphase der Privatisierungen die Grenze zwischen erlaubtem Risiko und strafbarem Handeln markiert werden. Zudem wollte die THA "mit dem Staatsanwalt im eigenen Hause" einer aufgebrachten Öffentlichkeit demonstrieren, dass man den kriminellen Machenschaften selbst entgegentreten konnte. "Es ging weniger darum", schreiben die Forscher, "das Strafrecht durchzusetzen, sondern im Kalkül der Treuhandanstalt war die Stabsstelle den unternehmenseigenen Zielen unterworfen."

Literatur-Hinweis: Boers, K., Nelles, U., Theile, H. (Hrsg.): Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Nomos-Verlag, 2010, 684 Seiten.

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