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Münster (upm/hd)
Musiktherapeut Rainer Edelbrock hilft Kindern mittels musikalischer Spiele dabei, auszudrücken, was sie beschäftigt und was sie sich wünschen.<address>© WWU - Peter Leßmann</address>
Musiktherapeut Rainer Edelbrock hilft Kindern mittels musikalischer Spiele dabei, auszudrücken, was sie beschäftigt und was sie sich wünschen.
© WWU - Peter Leßmann

"Ich möchte die Kinder nicht aufgeben"

Wie ein musiktherapeutisches Projekt an einem Brennpunkt-Kindergarten zur Dissertation führte

Der Anfang hätte gut schon das Ende sein können: Als Dr. Rainer Edelbrock, Lehrbeauftragter am Institut für Musikwissenschaft, seine Projektarbeit in einem Brennpunkt-Kindergarten begann, standen die Erfolgsaussichten schlecht. Der Musikpädagoge und -therapeut sollte mit Kindern aus sozial benachteiligten Verhältnissen musiktherapeutisch arbeiten, ihnen also mithilfe von Musik und Spielen ermöglichen, sich auszudrücken und zu entfalten. Soweit der Plan und die guten Absichten. Kurz zusammengefasst geschah aber dies: "Die Kinder dekonstruierten meine Vorhaben in kürzester Zeit und warfen sie mir mit einer Aggressivität um die Ohren, die ich bis dahin nicht kannte", erinnert sich Rainer Edelbrock, der zuvor in anderen Kindergärten erfolgreich gearbeitet hatte. Er dachte ans Aufgeben und äußerte dies in der Supervision mit Rosemarie Tüpker, Musiktherapie-Professorin an der WWU. "Sie sagte, dass die Kinder die Erfahrung, aufgegeben zu werden, nur zu gut kennen", betont Rainer Edelbrock. "Da wurde mir klar: Ich möchte diese Kinder nicht aufgeben." Also blieb er – letztlich ganze sieben Jahre, in denen er über das Projekt seine Doktorarbeit "Königskinder - Musiktherapie mit Vorschulkindern aus bedrohten Verhältnissen" schrieb. Die Gesellschaft für Kulturpsychologie zeichnete ihn jüngst mit dem "Ernst-E.-Boesch-Preis 2021" für Verdienste um die wissenschaftliche Kulturpsychologie aus.

Einige der Kinder hatten traumatische Migrationserfahrungen gemacht. Andere haben seelischen und körperlichen Missbrauch, Armut oder Gewalt erlebt. Allen sei ein starkes Gefühl des Fremdseins gemein gewesen. "Das bedeutet, dass die gesunde Selbstentwicklung bedroht war und damit auch das Selbstempfinden", erklärt Rainer Edelbrock. Das aggressive Verhalten gegenüber anderen Kindern, dem Therapeuten und den Musikinstrumenten sei nicht nur Ausdruck dieser gefühlten Bedrohung gewesen, sondern habe anfänglich auch alle musikalischen Spiele unmöglich gemacht. Den Fünf- bis Sechsjährigen fehlten entscheidende Entwicklungsschritte, sie konnten nicht miteinander teilen oder abwarten, bis sie an der Reihe waren. "Es herrschte Anarchie", erinnert sich der 46-Jährige. Das Verhältnis zwischen ihm und den Kindergartenkindern entwickelte sich langsam, "nicht wie in einem Hollywoodfilm, in dem sich plötzlich alles zum Guten wendet". Er habe lernen müssen, was die Kinder brauchten, um der Musiktherapie und ihren Strukturen zu folgen. "Sie forderten ein größeres Maß an Autorität, als ich es aus meiner eigenen Kindheit und als Musiktherapeut kannte." Indem Rainer Edelbrock seine innere Einstellung und seine äußere Haltung änderte, fand er einen Zugang zu den Kindern.

"Ein von mir erfundenes Begrüßungslied gab ihnen die Möglichkeit, auszudrücken, was sie gerade beschäftigte oder was sie sich wünschten", erzählt der Musiktherapeut. Dabei handelte es sich um konkrete Situationen, zum Beispiel, dass sie jemand geärgert hatte, oder um fantastische Vorstellung wie etwa Superman-gleich fliegen zu können. Rainer Edelbrock richtete die Stunden also nach den situativen Bedürfnissen der Gruppe aus. "Die Kinder forderten sehr stark Spiele mit märchenähnlichen Geschichten, also musikalische Rollenspiele, ein", erzählt Rainer Edelbrock. Diese Dynamik führte den Musiktherapeuten zu einer neuen Arbeitsmethode, die er zum Gegenstand seiner Doktorarbeit machte. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die Metapher eines Königreichs. Darin erscheinen verschiedene archetypische Orte und Figuren, die jeweils spezifische entwicklungspsychologische Themenfelder repräsentierten: der König, die Königin und Königskinder, der Hofnarr, der Wald oder das Schloss. "Ein Archetyp ist nicht das, was wir als kulturelle Handlung sehen, sondern die darunterliegende psychologische Struktur, die das Phänomen hervorbringt", erklärt der 46-Jährige. Deshalb seien Archetypen kulturübergreifend. "Bevor ich die archetypischen Strukturen der Rollenspiele erkannte, wunderte ich mich, warum Kinder aus verschiedenen kulturellen Hintergründen alle diese Bilder von Königen, Prinzessinnen oder Zauberern verstanden." In seiner Doktorarbeit habe er daraufhin Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie mit diesen archetypischen Strukturen in Verbindung gebracht. "Ich konnte zeigen, dass es sich bei der Arbeit mit Kindern aus bedrohten Verhältnissen um eine Form des Kulturerwerbs im tiefenpsychologischen Sinne handelte."

Eine zentrale Rolle nahm bei den Rollenspielen – zum Beispiel mit Handpuppen – stets der Hofnarr ein. Rainer Edelbrock forschte daher bei Carl Gustav Jung, dem Begründer der Analytischen Psychologie, nach. Der Psychiater hatte herausgefunden, dass es diesen Archetyp unter anderem schon bei alten indigenen Kulturen in nordamerikanischen Völkern gab. "Der Narr taucht überall auf der Welt auf. Er repräsentiert das anarchisch Unkultivierte im Menschen. Etwas, mit dem sich diese Kinder besonders identifizieren können", betont Rainer Edelbrock. Zwar sei der Narr auch bei anderen Kindern und Erwachsenen beliebt, aber es sei auffällig, wie sehr sich die Kinder aus dem Brennpunkt an dieser Figur abarbeiteten. "Der Narr schaut kindlich naiv auf die Welt, ist frei von kulturellen Prägungen, nie urteilend oder böse. Die Kinder haben ihn geliebt, gehasst, verprügelt und geheiratet." In seiner Doktorarbeit kommt Rainer Edelbrock zu dem Schluss, dass die Kinder durch die Auseinandersetzung mit Archetypen in Rollenspielen Wege fanden, ihre Gefühle auszudrücken. Sie seien mit der Zeit in der Lage gewesen, zu teilen und zu warten. Das seien wichtige Schritte eines tiefenpsychologisch verstandenen Kulturerwerbs: "Besonders begeistert war ich darüber, dass die Kinder letztlich ihre Empfindungen vermitteln, Dinge verhandeln und auf diese Weise demokratische Prozesse durchspielen konnten."

Autorin: Hanna Dieckmann

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 6. Oktober 2021.

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