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Vielfalt oder Einheit: Im neuen Käte-Hamburger-Kolleg an der WWU beschäftigen sich die Forscher mit verschiedenen Rechtssystemen innerhalb eines geographischen Raums.<address>© Unsplash - Elena Mozhvilo</address>
Vielfalt oder Einheit: Im neuen Käte-Hamburger-Kolleg an der WWU beschäftigen sich die Forscher mit verschiedenen Rechtssystemen innerhalb eines geographischen Raums.
© Unsplash - Elena Mozhvilo

"Die Einheit im Recht ist nicht das einzig Gute"

Peter Oestmann über Inhalte und Ziele des neuen Käte-Hamburger-Kollegs

Die WWU hat seit dem 1. Juni erstmals ein Käte-Hamburger-Kolleg. Wissenschaftler aus der ganzen Welt werden unter Federführung der Historikerin Prof. Dr. Ulrike Ludwig und des Juristen Prof. Dr. Peter Oestmann zu „Einheit und Vielfalt im Recht“ forschen. Norbert Robers sprach mit Peter Oestmann über Inhalte und Ziele des Kollegs.

Jurist Prof. Dr. Peter Oestmann<address>© WWU - MünsterView</address>
Jurist Prof. Dr. Peter Oestmann
© WWU - MünsterView
Für manche juristische Laien klingt der Begriff von 'Vielfalt im Recht' nach Willkür. Zu Recht?

Nein, die Rechtsgeschichte zeigt, dass es oft verschiedene Rechtssysteme innerhalb eines geographischen Raums gab. Ein Glockengießer beispielsweise, der im 16. Jahrhundert gelebt hat, war Mitglied in einer Zunft mit deren eigener Gerichtsbarkeit. Er war zudem Bürger einer Stadt und Mitglied einer Kirchengemeinde mit deren jeweils eigenen Rechtsvorschriften. Wenn dieser Glockengießer etwas kaufen wollte, griff wiederum das römische Recht ein. Er unterlag also mehreren Rechtssystemen, die sich zudem in Teilen widersprachen.

Also ein Wirrwarr zu Lasten der Bürger …

… keineswegs. Die sogenannte Rechtsanwendungslehre war zwar ein Problem, weil es viele Regeln und ebenso viele Unsicherheiten gab. Auf der anderen Seite brachten diese Probleme für den Einzelnen auch Vorteile mit sich, die Historiker nennen das ,Justiznutzung‘. Diejenigen, die wussten, welche Regeln für sie günstig sind, pickten sich ebendiese heraus.

Das setzte allerdings voraus, dass man sich mit diesen verschiedenen Rechtssystemen auskennen musste.

Das stimmt. Man klagte gleichzeitig vor dem Gericht der jeweiligen Zunft, am Kirchen- und am Reichsgericht, um ein passendes Urteil zu bekommen. Dieses ,Forum-Shopping‘ gibt es noch heute. In internationalen Streitfällen sucht man sich die Gerichtsbarkeit aus, die für den Kläger am besten ist.

Aber sollte die Einheit im Recht im Sinne von Gleichheit vor dem Gesetz nicht das Ziel sein?

Historisch betrachtet, ist das wahr. Es gab lange Phasen, in denen die Einheit im Recht als Ideal galt. Das beste Beispiel dafür ist die Regierungszeit von Napoleon, in der er das Recht vereinheitlichen ließ. Schon die Revolution schaffte die Zünfte ab, und 1804 trat der ,Code civil‘ als einheitliches Zivilrecht in Kraft, das bald auch in anderen europäischen Ländern galt. Dieser Trend setzte in Deutschland erst nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 ein. Dieses Ideal - von der Vielfalt zur Einheit im Sinne einer Vereinheitlichung - zerbröselt im 20. Jahrhundert allerdings wieder.

Ist das Rechtssystem in Deutschland ein System der Einheit oder der Vielfalt?

Es gibt eindeutig den Versuch, das Recht in ein System zu packen, weil dies die Komplexität reduziert. Das ist aber schwierig, weil es beispielsweise im öffentlichen Recht die Überlagerung durch das Verfassungsrecht gibt. Zudem gibt es eine Vielzahl europäischer Richtlinien. In Kürze: Es gibt ein Rechtsideal, in dem man jede Rechtsfrage mit einer einzigen richtigen Antwort beantworten kann. Allerdings ist die Einheit nicht das einzig Gute. Unsere Bevölkerung ist mit Blick auf die vielen Nationalitäten und Religionen uneinheitlich. Man sollte daher nicht etwas gleich behandeln, was verschieden ist.

Besteht damit nicht doch die Gefahr, dass der Satz, wonach jeder vor dem Gesetz gleich ist, ausgehöhlt wird?

Nein, der Satz gilt nach wie vor in Deutschland. Es gibt eine rechtliche, aber keine tatsächliche Gleichheit. Die rechtliche Gleichheit hört dann auf, wenn die Unterschiede zu groß sind. Beispiel: Sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen so groß, dass Frauen nicht in Bergwerken arbeiten dürfen? Dagegen haben Frauen mit Erfolg geklagt.

Bewerten auch Sie die Weiterentwicklung der Europäischen Union als Versuch, ein europäisches Rechtssystem über die jeweils nationalen Rechtssysteme zu legen?

Nur teilweise. Es ist jedenfalls der Versuch, die Vielfalt zu begrenzen. Im bürgerlichen Recht bedeutet das beispielsweise, dass es einen europaweit gleichen Schutz für Verbraucher gibt, beispielsweise bei Internet-Käufen oder bei Urlaubsreisen. Im Erbrecht gibt es dagegen weiterhin große nationale Unterschiede.

Ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag dagegen ein Beispiel für die Installation eines weltweit geltenden Rechtssystems für die Ahndung von Kriegsverbrechen?

Ja und nein. Der Strafgerichtshof in Den Haag zeigt, dass es eine globale Überzeugung gibt, dass die Verletzung von bestimmten Menschenrechten nicht zu tolerieren ist. Viele Menschen werden diese Form von Vereinheitlichung sicher positiv bewerten. Andererseits ist die Mitgliedschaft im Strafgerichtshof freiwillig. Wenn Länder wie China, Russland oder die USA den Gerichtshof nicht unterstützen, mindert das natürlich dessen Schlagkraft.

Dieses Interview stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 16. Juni 2021.

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