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Das Banner galt seit dem Ersten Weltkrieg als verschollen.<address>© Franses Gallery, London</address>
Das Banner galt seit dem Ersten Weltkrieg als verschollen.
© Franses Gallery, London

Das Banner von Péronne – ein Politikum

Unnachgiebig und gewieft: WWU-Historiker identifiziert historischen Wandteppich als eine in Kriegszeiten verschollene Stickerei

Echte Geschichten liegen auf der Straße, besagt eine alte Journalisten-Weisheit. Im Fall von Dr. Daniel Stracke war es der Flur im Institut für vergleichende Städtegeschichte (IStG) an der Universität Münster. Dort begann vor mehr als zehn Jahren die langwierige und zum Teil geheimnisumwobene Recherche des Historikers und wissenschaftlichen Mitarbeiters. Sie führte schließlich zum Fund des historischen Banners von Péronne, das seit dem Ersten Weltkrieg verschollen war. In einer zähen Recherche gelang es Daniel Stracke unter anderem, den Renaissance-Wandteppich der Gemeinde Péronne in der nordfranzösischen Picardie zuzuordnen und den weiteren Weg des Banners aufzudecken.

Das Stück, das Daniel Stracke zunächst nur auf einem Foto sah, zeigt eine historische Belagerungsszene einer Stadt in Vogelperspektive. Das Textil aus der frühen Neuzeit ist aufwändig gestaltet mit Seidenstickereien, durchsetzt von Gold- und Silberfäden. Man ahnt, dass es in einem bedeutungsvollen Zusammenhang entstanden sein muss.

Der Fortgang der Geschichte ruht zwar derzeit wieder, weil Fragen nach den widrigen Wegen des Banners in Kriegszeiten bislang unbeantwortet blieben. Aber Daniel Stracke möchte helfen, Licht ins Dunkel zu bringen und vielleicht sogar den Bürgern in Péronne ein Stück ihres kollektiven Gedächtnisses zurückzugeben. „Es ist mittlerweile ein Politikum geworden.“ Die Arbeit des Geisteswissenschaftlers kommt nah an die eines Detektivs heran. „Bei Daniel Strackes Forschungen kamen wissenschaftliche Beharrlichkeit und Kompetenz sowie die Sammlungen und Recherchemöglichkeiten unseres Instituts zusammen“, sagt IStG-Leiterin Dr. Angelika Lampen. „Besonders schön ist es, dass das gelöste Rätsel im 50. Jahr unserer Institutsgründung publik wird.“

Die aufwändige Provenienzforschung hatte mit besagtem Foto des Textils begonnen, das ein älterer Mann vor rund zehn Jahren in das münstersche An-Institut der WWU trug. Sein Sohn, ein Londoner Antiquitätenhändler mit westfälischen Wurzeln, hatte das historische Stoffstück bei einer Auktion erstanden, wusste aber weder, um welche Stadt noch welches Ereignis es sich bei der Belagerung handelte. Auch der genaue Wert des Banners war nicht auszumachen.

In einem kleinen französischen Buch fand Dr. Daniel Stracke den entscheidenden Hinweis auf die Herkunft der Stickerei: den charakteristischen Turm von Péronne.<address>© WWU - MünsterView</address>
In einem kleinen französischen Buch fand Dr. Daniel Stracke den entscheidenden Hinweis auf die Herkunft der Stickerei: den charakteristischen Turm von Péronne.
© WWU - MünsterView
Daniel Stracke kam auf dem Flur mit dem Herrn ins Gespräch. Dieser erzählte ihm von Erwerb des Stücks anonym aus Privatbesitz. Als er das Foto betrachtete, wusste er zumindest sofort, dass es sich um ein „außergewöhnliches Stück“ handelt. In seinem Eifer als Geschichtswissenschaftler und neugieriger Mensch legte er mit seiner Suche in der Bibliothek des Instituts los. „Die Sammlungen des Instituts mit historischen Karten und Stadtansichten zum Vergleichen sowie einer Fülle an Literatur waren der perfekte Startpunkt für mich. Dass ich hier den entscheidenden Durchbruch machen würde, hätte ich allerdings nicht gedacht.“

Aufgrund vieler übereigneter Nachlässe verfügt die WWU-Einrichtung über Literatur und Karten, die keine andere Bibliothek in Münster hat. Den entscheidenden Hinweis fand der 46-Jährige schließlich in einem kleinen französischen Buch. Darin sind Rathäuser aus dem Mittelalter beschrieben und deren Belfriede („Beffrois“). „Diese mit Rathäusern verbundenen oder freistehenden Wach- und Glockentürme waren von den Niederlanden bis nach Nordfrankreich ein Ausdruck der bürgerlichen Macht im Spätmittelalter“, erklärt Daniel Stracke. In dem kleinen Architekturführer „Hôtel de ville et Beffrois. Nord de la France“, fand er schließlich den charakteristischen Turm, den er von der Stickerei kannte: Es war der Belfried von Péronne.

Nach der Verortung des Banners ging es um die Datierung, die Geschichte der Entstehung der Stickerei und ihr Schicksal. Beim Blick in weitere Geschichtsbücher machte Daniel Stracke die Szene auf dem Banner als Belagerung Péronnes durch König Karl V. aus, dem ab 1530 regierenden, letzten römisch-deutschen Kaiser aus dem Geschlecht der Habsburger. Nachdem ihn dessen damaliger Rivale, der französische König Franz I., verjagt und Péronne 1536 zurückerobert hatte, wurde der Wandteppich Jahre später als Zeichen des Sieges für eine Dankesprozession angefertigt.

Genau 380 Jahre später verschwand das Banner während des Ersten Weltkriegs aus dem von Granaten getroffenen Museum im Rathaus. Die Stadt lag gerade unter deutscher Besatzung. Daniel Stracke ließ das keine Ruhe. Schließlich las er in alten Publikationen vom Vorwurf, das Museum sei geplündert worden. Könnte es sich bei dem Stück um Beutekunst handeln? Für ihn war dies der Anlass, weiter zu forschen, denn der Kunsthändler, in dessen Besitz es sich befand, wollte Beweise sehen.

Zunächst reiste der Wissenschaftler privat nach Péronne und fand tatsächlich im Weltkriegsmuseum „Historial“ ein vergilbtes Vorkriegsfoto mit dem Banner an der Wand. „Das ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass das Stück vor dem Krieg im Rathaus war.“ Zugleich wurde ihm bei dem Gedanken fast schummerig, möglicherweise einen historischen Kunstraub aufgedeckt zu haben. Zumindest reichte es zunächst, um den neuen Besitzer von der Provenienz zu überzeugen und davon, dass die Stickerei nach Péronne gehört.

Im Frühjahr 2019 reiste Daniel Stracke schließlich zur Kunstmesse TEFAF nach Maastricht. Dort sind jedes Jahr die weltweit größten und bedeutendsten Galerien und Kunsthandlungen vertreten. Von London aus wurde das Banner dort zum ersten Mal nach 100 Jahren wieder öffentlich gezeigt, und dort machte der Münsteraner seine Erkenntnisse publik. Es sorgte für Interesse und Anerkennung. Auch Gemeindevertreter aus Péronne waren eingeladen, aber niemand kam. Kein Interesse? Weit gefehlt. Die Nachricht vom Auftauchen des Kulturguts war dort bereits durch die Instanzen gegangen. Mittlerweile beschäftigt der Fall die französischen Ministerien für Kultur und Justiz.

Autorin: Juliane Albrecht

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, Mai 2020.

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