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Münster (upm)
Viereinhalb Wochen war Prof. Dr. Traugott Roser auf dem alten Jakobsweg unterwegs. In allen Orten erhalten Pilger Stempel für ihren Pilgerpass. So weisen sie am Ende des Weges nach, dass sie die Strecke tatsächlich zurückgelegt haben, um ihre offizielle Pilgerurkunde zu bekommen. Die Jakobsmuschel ist das wichtigste Erkennungszeichen der Pilger.<address>© WWU - MünsterView</address>
Viereinhalb Wochen war Prof. Dr. Traugott Roser auf dem alten Jakobsweg unterwegs. In allen Orten erhalten Pilger Stempel für ihren Pilgerpass. So weisen sie am Ende des Weges nach, dass sie die Strecke tatsächlich zurückgelegt haben, um ihre offizielle Pilgerurkunde zu bekommen. Die Jakobsmuschel ist das wichtigste Erkennungszeichen der Pilger.
© WWU - MünsterView

"Jeder Pilger weint einmal – vor Glück"

Der evangelische Universitätspfarrer Traugott Roser berichtet über seine Erfahrungen beim Wandern des Jakobswegs

Ein Forschungsfreisemester ist eine feine Sache. Man kann sich zum Beispiel Zeit nehmen, um ein wissenschaftliches Projekt ordentlich vorzubereiten. Ich als Wissenschaftler mit Schwerpunkt „Spiritual Care“ beschäftige mich mit Seelsorge in schwierigen Lebensphasen. Da lag es nahe, mich dem Thema dort zu nähern, wo sich gegenwärtig viele Menschen mit ihrer Spiritualität auseinandersetzen: auf dem alten Jakobsweg, dem „Camino Francés“, in Nordspanien. Ich marschierte also los, einer „grounded theory-Methodik“ im wortwörtlichen Sinn folgend: Theoriebildung durch Bodenverhaftung und Feldbeobachtung, aber ohne vorab formulierte Hypothese. Und Vor-annahmen musste ich so oder so verwerfen. Aber der Reihe nach.

Die Bodenhaftung liegt in der Natur der Sache. Wer mit neuen Wanderstiefeln marschiert, weiß, dass er mit den Gliedmaßen mit unmittelbarem Bodenkontakt methodisch sauber arbeiten muss. Also ließ ich mir Einlegesohlen passgenau anfertigen, da meine (zu Reisebeginn) etwas über 90 Kilogramm Körpergewicht den Füßen einiges abverlangen. Das tägliche Einschmieren der Füße mit Hirschtalg sorgt für weitere Belastbarkeit. Einmal vergaß ich das morgendliche Ritual und holte mir prompt eine üble Blase, die drei Tage lang für einen schmerzhaften und „unrunden“ Gang sorgte.

Hypothese 1: übervölkerter Weg?

Eine der Vorannahmen war, dass der Jakobsweg seit Hape Kerkelings Bestseller „Ich bin dann mal weg“ von Pilgern übervölkert ist. Tatsächlich steigen die Zahlen seit Jahren kontinuierlich an. 2018 waren über 320.000 Menschen unterwegs. Den größten Anteil haben die Spanier (45 Prozent), gefolgt von Italienern und Deutschen (jeweils rund acht Prozent). Von überbevölkert oder gar Massenströmen von Pilgern kann man übrigens nicht sprechen. Bei frei wählbaren Tagestouren verläuft es sich. Es gibt Etappen, auf denen man kaum einen anderen Menschen sieht. Neue Hypothese: Den Jakobsweg geht man allein, aber man ist nie allein.

Hypothese 2: nur religiös Motivierte?

Meine zweite Vorannahme war, dass vor allem religiöse Menschen diesen in der Frömmigkeitsgeschichte des Christentums so wichtigen Weg gehen. An einem der ersten Tage meinte ein Mitpilger: Wer nach Jerusalem pilgert, findet Gott. Wer nach Rom pilgert, findet die Kirche. Wer nach Santiago pilgert, findet sich selbst. Auf dem Weg begegnete ich neben Christen auch Buddhisten, Juden und Muslimen. In meinen fieldnotes (man könnte es Tagebuch nennen) habe ich Folgendes vermerkt:

Viele der Pilgernden eröffnen ihre Erzählungen mit der Selbstauskunft, sie seien nicht religiös. Religiös ist dann gleichbedeutend mit „kirchlich verbunden“. Einer sagte: „christlich, aber nicht katholisch“, er war aus Italien – wenn wundert das, wenn man nur den Vatikan vor Augen hat. Die Kirche hat sogar die Pilger*innen verloren. Auf dem Camino kann man schon nachvollziehen, warum das so ist. Man kommt an vielen beeindruckenden Kirchen vorbei, nur ein Teil davon ist geöffnet. Kerzen anzünden kann man nur elektronisch, die LED-Lämpchen leuchten dann hinter einem Plexiglaskasten. Zur Andacht lädt das nicht ein. In kaum einer der Kirchen gibt es ein geistliches Angebot. Glück hat man, wenn es am Abend mal eine Messe gibt. Dabei sind täglich zwischen 100 und 200 Pilger in den Orten. Und vielen ist das Herz schwer oder geht das Gemüt vor Glück über. Viele Kirchen ignorieren den steten Strom aus aller Welt. Ein Stempel im Pilgerpass reicht als spirituelles Angebot nicht aus, den kriegt man in jeder Kneipe.

Hypothese 3: Tränen gehören dazu?

Zu den Vorannahmen gehörte auch, wie ich in jedem Buch zum Jakobsweg vorher las, dass jeder irgendwann einmal auf diesem Weg weint. Das mag man sich erklären als Resultat der körperlichen und/oder der psychischen Anstrengungen. An manchen Tagen geht es über bis zu 1400 Höhenmeter auf und ab, für Flachlandpilger ist das durchaus eine Herausforderung. Manche Füße, Schienbeine und Schultern sind entsprechend arg geschunden und schmerzen erheblich. Tränen können auch Resultat der gnadenlos zermürbenden Auseinandersetzung mit sich selbst sein. Wer in der kargen Hochebene Meseta stundenlang allein und ohne Schatten auf einer geraden Schotterpiste seinen Gedanken hinterherhängt, mag auf die eine oder andere Untiefe in der eigenen Biografie stoßen. Irgendeinen Grund muss es ja haben, dass der Camino früher als Bußleistung verordnet wurde.

Der alte Jakobsweg führt von Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich durch Nordspanien bis nach Santiago de Compostela und ist rund 800 Kilometer lang.<address>© WWU - Designservice</address>
Der alte Jakobsweg führt von Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich durch Nordspanien bis nach Santiago de Compostela und ist rund 800 Kilometer lang.
© WWU - Designservice
Am Ende der 800 Kilometer hat man so ziemlich alles durchgearbeitet, wofür man zu Hause ein Jahr Analyse und Supervision bräuchte. Auch das kann zum Heulen sein. Meine Erfahrung war aber vielmehr, dass ich permanent von Schönheit überwältigt wurde.

Das klingt ein wenig kitschig, aber so ist es: Ich war überwältigt von der Schönheit der Landschaften und der Städte mit ihren grandiosen Kulturgütern. Am schönsten aber sind die Menschen, die gastfreundlichen Hospitalleros, die Einheimischen, wenn sie auch dem 125. Pilger am Tag noch „Buen camino!“ zurufen und mit Wasser, Weintrauben und frisch gebackenen Pfannkuchen versorgen. Ein Mitpilger sagte: „Zu Hause, aus der Zeitung und dem Radio höre ich so viel Negatives. Hier lerne ich nur gute Menschen kennen.“ Da können einem schon die Tränen kommen. Neue – religionspsychologisch zu verifizierende – Hypothese: Jeder Pilger weint mindestens einmal, und zwar vor Glück.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 29. Januar 2020.

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