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Münster (upm)
Trotz Schulpflicht können rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Menschen nicht richtig lesen und schreiben.<address>© Janina Dierks - adobe.stock.com</address>
Trotz Schulpflicht können rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Menschen nicht richtig lesen und schreiben.
© Janina Dierks - adobe.stock.com

Wenn der einfachste Text ein Rätsel bleibt

Zum Welttag der Alphabetisierung gibt Prof. Dr. Rainer Brödel Einblicke in die Forschung

Seit Ende des 19. Jahrhunderts besteht in Deutschland Schulpflicht. Dennoch gibt es heute rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Menschen mit gravierenden Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Das zeigen repräsentative Studien. Für unser Schulsystem ist das kein gutes Zeichen, zumal drei Viertel dieser Gruppe der „gering literalisierten Erwachsenen“ einen Schulabschluss besitzen. Ein derartiger Untersuchungsbefund lässt aufhorchen und dürfte nicht zuletzt zu Rückfragen an das Schulsystem und Kultusverwaltungen veranlassen.

Da Deutschland ein Einwanderungsland ist, gibt es inzwischen verstärkt größere Gruppen, die nie eine Schule besucht haben. In diesem Falle wird mangels Lese- und Schreibkenntnisse von „primärem Analphabetismus“ gesprochen. Hingegen liegt „sekundärer Analphabetismus“ vor, wenn eine Schule zwar besucht wurde, aber die zunächst vorhandenen schriftsprachlichen Kenntnisse durch einen Prozess des Verlernens verloren gegangen sind. Und schließlich gilt noch „funktionaler Analphabetismus“ als ein gravierendes Problem. Dieses Phänomen liegt vor, wenn die schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen niedriger sind als diejenigen, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden, um den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Unzureichende Lese- und Schreibfähigkeiten stellen für die Betroffenen in vielen Lebensbereichen   ein Hindernis dar. Problematisch ist durchweg, dass ein niedriges Kompetenzniveau zu einem Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe führt. So wird der Zugang zu kulturellen Angeboten erschwert. Auch die Teilnahme am Vereinsleben stellt ein Problem dar, denn meist muss viel persönliche Kraft dafür aufgewandt werden, um mangelnde Lese- und Schreibfähigkeit zu kaschieren. Unter den Defiziten leidet das Selbstwertgefühl von Illitteraten und in Partnerschaften kommt es zu Belastungen. Gleichwohl sind es oft die Partnerin oder der Partner, welche im Alltag unterstützend und ausgleichend wirken.

Die Ursachen für Illettrismus sind vielfältig. Auch gesundheitliche Beeinträchtigungen kommen vor. So können etwa bei Schulkindern nicht erkannte Hör- oder Sehschwächen eine hemmende Rolle spielen. Überfüllte Schulklassen wirken kontraproduktiv und stehen einer Lernkultur der Ermutigung entgegen. Nicht zuletzt kann das häusliche Bildungsklima den Nährboden für lllettrismus liefern, denn in gering literalisierten Familien wird weniger vorgelesen. Es gibt selten Vorbilder, an denen sich Aufwachsende orientieren können. Zur Kompetenzarmut in bildungsfernen Familien trägt bei, wenn Tätigkeiten mit erforderlichen schriftsprachlichen Kompetenzen an besser gebildete Personen delegiert werden. Wer in derartigen Familien aufgewachsen ist, durchläuft häufig auch eine wenig erfolgreiche Schulzeit. Erst während der Ausbildung und im späteren Berufsleben kann es zu günstigen Schlüsselerlebnissen und zur Entwicklung bildungsbiografisch neuer Perspektiven kommen. Dann gilt es den Kreislauf an „sozialer Vererbung“ von Bildungsbenachteiligung, kultureller Marginalisierung und beruflicher Stagnierung zu durchbrechen.

Für die sozialstrukturelle Verteilung von Illettrismus ist kennzeichnend, dass Arbeitslose häufig als gering literalisiert gelten. Empirische Studien belegen, dass die Befürchtungen und Sorgen hinsichtlich eines Arbeitsplatzverlustes mit geringer werdenden Lese- und schriftsprachlichen Kompetenzen signifikant zunehmen. Gering Literalisierte können zwar auch einen Computer mit Internetzugang haben, aber ihr Anteil unter den aktiven PC-Nutzern ist relativ gering. Zudem leben sie häufiger in einem Single-Haushalt. Damit entbehren sie vieler alltäglicher Korrektur- und Ermutigungschancen.

Prof. Dr. Rainer Brödel<address>© privat</address>
Prof. Dr. Rainer Brödel
© privat
Das Kursangebot vieler Volkshochschulen, aber auch das von kirchlichen Bildungsanbietern ist mit zielgruppenspezifischen Förderstrukturen auf Bildungsinteressierte vorbereitet, die eine zweite Chance suchen. So wird vielerorts ein niedrigschwelliges Kursangebot zur nachholenden  Alphabetisierungs- und Grundbildung im Erwachsenenalter vorgehalten. Auch die Förderung des Sprach- und Leseerwerbs im familialen Kontext steht auf der Agenda. Vor allem in größeren Volkshochschulen gibt es inzwischen ein nach „Alpha-Levels“ beziehungsweise nach Fähigkeits- und Lernständen differenziertes Kursangebot für Erwachsene. Unabdingbar sind zielgruppengerechte Beratungsangebote, die in Kommunen, Volkshochschulen und auch in Beschäftigungsbetrieben bestehen können.

Autor Prof. Dr. Rainer Brödel ist Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaft der WWU und beschäftigt sich unter anderem mit Alphabetisierungsforschung bei Erwachsenen.

 

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung „wissen|leben“ Nr. 5, 10. Juli 2019.

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