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Münster (upm/kk)
Prof. Dr. Jean-Pierre Bourguignon, Präsident des Europäischen Forschungsrats<address>© Europäischer Forschungsrat</address>
Prof. Dr. Jean-Pierre Bourguignon, Präsident des Europäischen Forschungsrats
© Europäischer Forschungsrat

„Europa besitzt ein wichtiges akademisches Erbe.“

Der Präsident des Europäischen Forschungsrats, Prof. Dr. Jean-Pierre Bourguignon, über die Rolle der europäischen Forschungspolitik

Die Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU) ist am Dienstag, 18. Juni, und Mittwoch, 19. Juni, Gastgeberin der jährlichen Bundestagung der "Kooperationsstelle EU der Wissenschaftsorganisationen" (KoWi). Rund 350 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik kommen in Münster zusammen, um über aktuelle Entwicklungen der europäischen Forschungspolitik und -förderung zu diskutieren. Aus diesem Anlass sprach Kathrin Kottke mit dem Präsidenten des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC), Prof. Dr. Jean-Pierre Bourguignon.

Sind Sie oft in Deutschland?

Ich bin regelmäßig in Deutschland. Erst vor kurzem war ich in Hessen, um dort unter anderem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst zu treffen. Ich war auch schon in vielen anderen Gegenden in Deutschland. Ich freue mich sehr, dass ich diesmal in Münster bin – in einer Stadt, die ich als Mathematiker bereits mehrmals besucht habe.

Deutschland spielt in der europäischen Forschung eine wichtige Rolle. Der Europäische Forschungsrat hat bereits mehr als 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an deutschen Einrichtungen mit ERC Grants gefördert. Es freut mich immer, wenn ich dieses Land besuche und mit eigenen Augen sehen kann, wie hier geforscht wird und wie die ERC Grants dabei geholfen haben, die Forschung qualitativ zu verbessern und neue Forschungsziele zu erreichen.

Der Europäische Forschungsrat fördert mit seinen Programmen sogenannte „Pionierforschung“. Welche Forschungsthemen oder Forschungsprojekte sind in der EU besonders stark vertreten?

Der ERC fördert alle Forschungsbereiche, angefangen von Physik und Ingenieurwesen über Lebenswissenschaften bis zu Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Gremien des ERC haben aus allen Bereichen überzeugende Projekte ausgewählt, und viele von ihnen sind interdisziplinär – auch dadurch stärkt der ERC die Forschung in Europa. Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: Mit dem „Event Horizon Telescope“ gelang es kürzlich, zum ersten Mal das Abbild eines schwarzen Lochs aufzunehmen. Dies gelang in einem weltweiten Verbund aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, an dem Personen beteiligt waren, die mit EU-Geldern gefördert wurden. Wir sind stolz darauf, dass darunter ein Team von drei ERC Grant-Empfängern ist.

Ich möchte die Arbeit einer italienischen Materialwissenschaftlerin hervorheben, die in Irland arbeitet und aus ihrer Grundlagenforschung heraus einige erfolgreiche Produkte entwickelt hat, die sich in verschiedenen Bereichen einsetzen lassen – angefangen von neuen Legosteinen und flexiblen Batterien bis zu einer besonderen Zusammensetzung für Formel-1-Reifen.

Sie sind seit 2014 Vorsitzender des „Scientific Council“ und außerdem ein erfolgreicher Wissenschaftler. Wie hat sich Ihrer Meinung nach die europäische Forschungslandschaft verändert – was sind die Zukunftsaussichten und die aktuellen Herausforderungen?

In den vergangenen zehn Jahren hatte der ERC einen großen Einfluss auf die europäische Forschungslandschaft. Der Erfolg des Ansatzes liegt darin, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ermuntert werden, ihre besten Ideen einzureichen und dass bei der Auswahl der Projekte die wissenschaftliche Qualität das einzige Auswahlkriterium ist. Der ERC gilt als wichtiger Maßstab und hat indirekt in vielen EU-Mitgliedsstaaten zu strukturellen Änderungen geführt. Etliche Länder haben Forschungsförderagenturen eingerichtet, die vom Modell des ERC inspiriert sind, und noch mehr Länder haben ihre Förderung so angepasst, dass sie der ERC-Förderung folgt oder sie ergänzt. Der Ansatz, mit den ERC-Geldern schwerpunktmäßig jüngere Forscherinnen und Forscher zu unterstützen, ist auch entscheidend: Zwei Drittel der Mittel gehen an den wissenschaftlichen Nachwuchs. Für sie bedeutet ein ERC Grant, schon viel früher wissenschaftlich unabhängig zu sein, als dies auf anderem Weg oft der Fall wäre. Dies hat nun Einfluss auf die wissenschaftliche Gemeinschaft in Europa. Darüber hinaus hat der ERC Europa geholfen, seine Position auf der Rangliste der Autoren der am meisten zitierten Aufsätze zu verbessern.

Viele europäische Wissenschaftler sind neidisch auf US-amerikanische Universitäten und die dortige Forschungslandschaft. Was hat Europa zu bieten, das es in den USA nicht gibt?

Europa hat für helle Köpfe viele Vorteile. Europa besitzt nicht nur ein wichtiges akademisches Erbe mit seinen renommierten Einrichtungen für Forschung und Lehre, einschließlich der ältesten Universitäten weltweit. Wir sind ebenso ganz vorne, was die Förderung der Spitzenforschung betrifft. Europa muss weiter für seine innersten Werte kämpfen wie Redefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Unsere kulturelle Vielfalt ist ein großer Vorteil, ebenso wie unsere bemerkenswerten Sozial- und Gesundheitssysteme – etwas, das Europäer zu oft als selbstverständlich betrachten.

ERC Grants gelten als herausragende Auszeichnung für exzellente wissenschaftliche Leistungen – manche sprechen sogar vom Europäischen Nobelpreis. Was ist das Besondere an einem ERC Grant?

Der Vergleich mit dem Nobelpreis passt nicht so recht, da wir bald 10.000 ERC Grants vergeben haben. Allerdings fördert der ERC Grant gewagte Projekte, die zu herausragender Forschung in Europa führen. Aus diesem Grund ist seine „Raison d'être“ – für Forschende, von Forschenden – entscheidend: Natur- und Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind als Mitglieder im unabhängigen Leitungsgremium, dem Scientific Council, die Hauptakteure. Das Peer Review-Verfahren wird von hochrangigen Wissenschaftlern aus allen Teilen der Welt durchgeführt. Und das Augenmerk des ERC liegt immer auf der wissenschaftlichen Qualität. Dadurch steigert der ERC Ansehen und Sichtbarkeit von führenden Forschern, die in Europa arbeiten, und hilft, herausragende Forscher zu gewinnen und in Europa zu halten.

Kennzeichnend für den ERC ist, dass er immer den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Initiative überlässt – die Förderung wird rigoros nach einem Bottom-up-Verfahren vergeben, ohne jegliche thematischen Prioritäten. Die kompetitiven Mittel des ERC fließen in die vielversprechendsten neuen Felder. Die Förderung ist sehr flexibel, und der Scientific Council des ERC versucht den bürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu halten.

Darüber hinaus ermöglichen ERC Starting Grants jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, ihre Karriere mit einem großen Maß an Freiheit anzuschieben.

Was würden Sie jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern raten, die in Europa eine Karriere in der Forschung planen? Und wie werden sie von der EU unterstützt?

Ich ermutige Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler in Europa sich darüber klarzuwerden, von welchen Forschungsgegenständen sie wirklich träumen. Auch wenn sie verschiedene Hindernisse zu bewältigen haben, denke ich, dass sie nicht aufgeben und sich mit weniger zufriedengeben sollten. Ich würde Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern raten, beim Einreichen ihrer Förderanträge an ihre Grenzen zu gehen und sich nicht davor zu scheuen, gewagte Forschungsideen zu präsentieren – denn das sind diejenigen, die möglicherweise wirklich etwas bewirken.

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