Die Rolle der Religion für die Flüchtlingshilfe

Sozialethiker Karl Gabriel zur Auftaktstudie des Religionsmonitors 2017

Prof. Dr. Karl Gabriel
Prof. Dr. Karl Gabriel
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Über die Rolle der Religion für die Flüchtlingshilfe hat der Sozialethiker Prof. Dr. Karl Gabriel vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) gesprochen. Er äußerte sich darin zur Auftaktstudie des Religionsmonitors 2017 der Bertelsmann Stiftung, die soeben unter dem Titel „Engagement für Geflüchtete – eine Sache des Glaubens?“ erschienen ist. Es folgt das Interview im Originalwortlaut.

epd: Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge: Warum sind religiöse Menschen engagierter?

Karl Gabriel: Für dieses Ergebnis des Religionsmonitors, das auch dem Gros der sonstigen Forschung zu dieser Frage entspricht, lässt sich sicherlich kein einzelner Faktor verantwortlich machen. Auf einer ersten Ebene sind es religiöse Überzeugungen und Lebensdeutungen, die das Hilfehandeln für Menschen in Not hoch bewerten beziehungsweise zur religiösen Pflicht erklären. Allerdings reicht die religiöse Motivation und Verpflichtung zur Hilfe nicht immer über den Kreis der eigenen Religionsgemeinschaft hinaus. Eine zweite Ebene ist mit der in der Regel stärkeren Einbindung religiöser Menschen in Gemeinschaften und soziale Zusammenhänge angesprochen. Da religiöse Menschen im Schnitt sozial integrierter sind, liegen eine prosoziale Haltung und eine entsprechende Praxis bei ihnen näher. Insbesondere dort, wo die Religion eng mit ethnischer oder nationaler Identität verbunden ist, kann sie aber auch – wie wir aus vielen Beispielen wissen – menschenfeindliche Züge annehmen. Der Religionsmonitor hat Belege für die nachhaltige Bedeutung des religiösen Faktors für das Engagement für Flüchtlinge gefunden, aber keine Anhaltspunkte für eine religiös genährte Fremdenfeindlichkeit.

epd: Kirchen haben die Hilfe für Flüchtlinge auf ihre Fahnen geschrieben. Überrascht es Sie, dass der prozentuale Anteil von Muslimen fast doppelt so hoch sein soll als von Christen?

Karl Gabriel: Zunächst kann man davon ausgehen, dass die Ergebnisse der Realität entsprechen; jedenfalls gibt es keine Anhaltspunkte für Fehler in der Forschungsanlage und Durchführung der Studie, die zur Erklärung für das für manche überraschende Ergebnis herangezogen werden könnten. Ich glaube aber, dass das Ergebnis gar nicht so überraschend ist. Die Kirchen haben mit eindeutigen Stellungnahmen und Vorgaben von Anfang an für eine entschiedene Flüchtlingshilfe optiert und die Notlage der großen Zahl der Geflüchteten als Herausforderung ihrer eigenen Glaubwürdigkeit angenommen. In seltener Einmütigkeit zwischen Kirchenleitungen und großen Teilen der Christen an der gemeindlichen Basis wurde erreicht, dass – wie der Religionsmonitor zeigt – jeder fünfte Christ sich aktiv an der Flüchtlingshilfe beteiligt hat. Die Hilfe galt – das scheint mir ein wichtiger Aspekt zu sein – hauptsächlich den Mitgliedern des kulturell als Fremdreligion definierten Islam und hat zu heftigen Auseinandersetzungen nicht nur in bayrischen Kirchengemeinden geführt. Vielerorts kam es zu einer Scheidung der Geister. Da erscheint ein Mobilisierungsgrad von 21% als unerwartet hoch. Für die muslimische Bevölkerung in Deutschland ist die Situation in mehrfacher Hinsicht eine Entgegengesetzte: Ihre Hilfe gilt den Mitgliedern der Eigenreligion, nicht der Fremdreligion. Jeder Hilfeleistende kann mit hoher Wertschätzung in der eigenen Community rechnen. Hinzu kommt das Potential an kultureller und sprachlicher Kompetenz, das in die Waagschale geworfen werden kann. Wie nie zuvor lässt sich in der Flüchtlingshilfe zeigen, dass die Mehrheitsgesellschaft die Minderheit braucht, um ein zentrales Problem erfolgreich angehen zu können. Vor diesem Hintergrund wird die Zahl von 44% Mobilisierten nicht geringer, aber verständlicher.

epd: Wie sehen Sie die Chance auf gemeinsame Flüchtlingsprojekte der Religionsgemeinschaften?

Karl Gabriel: Nach den Ergebnissen des Religionsmonitors scheinen mir die Chancen für gemeinsame Flüchtlingsprojekte gut. Ich interpretiere die Ergebnisse des Religionsmonitors zunächst für die Christen so, dass in der Flüchtlingshilfe ein gemeinsames christliches Milieu jenseits der konfessionell geprägten traditionellen Milieus zu Tage tritt. Deshalb sind die Hauptträger des Flüchtlingsengagements auch nicht innerhalb des harten Kerns die traditionellen Gemeinden zu finden. Darauf macht auch die überraschend hohe Beteiligung der Jüngeren aufmerksam. Im Religionsmonitor gibt es auch Hinweise darauf, dass in diesem Milieu eine erstaunlich hohe Offenheit gegenüber anderen Religionen zu finden ist. Gleichzeitig scheint nach den Ergebnissen des Religionsmonitors eine ähnliche religiöse Offenheit auch im Milieu der islamischen Akteure in der Flüchtlingshilfe anzutreffen zu sein. Zieht man noch in Betracht, dass die christlichen und muslimischen Akteure in vielfacher Hinsicht voneinander abhängig sind und einander brauchen, ist der „Aufbau interreligiöser Netzwerke“, wie der Religionsmonitor anregt, wohl nicht ohne Chancen. Mit den islamfeindlichen Pegida-Christen gibt es auch eine sichtbare Gruppe, von der man sich gemeinsam abgrenzen kann.

Interview: Holger Spierig (epd)

Mit freundlicher Genehmigung des Evangelischen Pressedienstes (epd).