Klang und Kommunikation im Hinduismus

Religionswissenschaft aus Münster wird international rezipiert

Prof Dr Annette Wilke
Prof. Dr. Annette Wilke
© Hanspeter Schiess

Die Forschungsarbeiten der Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Annette Wilke vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ zum Stellenwert des Klangs im Hinduismus werden international gewürdigt und fortgeführt. Mit der Studie „Sound and Communication“ hat die Forscherin eine neuartige Kulturgeschichte Indiens vorgelegt, in der sie die Sprachpraxis und die rituelle Umsetzung hinduistischer Texte untersucht. Die Grundlagenarbeit gilt als wegweisend in der Hinduismus-Forschung und steht im November im Mittelpunkt eines Panels der Jahrestagung der renommierten American Academy of Religion (AAR). Indologen, Religionswissenschaftler und Theologen wollen mit Wilkes Erkenntnis weiterarbeiten, dass im Hinduismus das erklingende Wort stets wichtiger sei als das geschriebene. Die Forscherin des Exzellenzclusters ist bei dem Panel am 20. November 2016 als Respondentin beteiligt. Die Jahrestagung der AAR findet vom 19. bis 22. November in San Antonio in Texas in den USA statt.

Die Studie, die Annette Wilke 2011 gemeinsam mit dem Indologen und Musiker Oliver Moebus unter dem Titel „Sound and Communication. An Aesthetic Cultural History of Sanskrit Hinduism“ (Klang und Kommunikation. Eine ästhetische Kulturgeschichte des Sanskrithinduismus) veröffentlicht hat, arbeitet die kulturelle Wertigkeit der Sonalität, der Klanglichkeit, heraus. Die Forscherin plädiert dafür, Religionswissenschaft als „Kulturhermeneutik“ zu betreiben, die sich nicht auf einzelne Aspekte wie die Analyse von Textinhalten oder die Beschreibung bestimmter Rituale beschränkt, sondern den gesamten kulturellen Kontext in den Blick nimmt.

„Wenn wir Europäer an Texte denken, denken wir an das geschriebene Wort, an Inhalte, Aussagen, Lehren, aber nicht an Klänge oder Rituale“, erläutert die Religionswissenschaftlerin. Im Unterschied dazu sei der Hinduismus „eine ausgeprägte Performanzkultur, in der das gesprochene und klingende Wort und nicht der geschriebene Text das Hauptmedium ist.“ Zwar sei stets auch der Inhalt traditioneller Texte von Bedeutung, so Wilke. „In der gelebten Praxis werden Sakralliteraturen aber nicht nur reflektiert und neu gedeutet, sondern auch liturgisch gestaltet und – gerade im Hinduismus – auswendig gelernt, deklamiert, rezitiert, gesungen, getanzt und dramatisch aufgeführt.“ Die Texte werden nach den Worten der Wissenschaftlerin so zum Ereignis und schaffen gemeinsame Erfahrungsräume für die Vortragenden und Hörenden.

Klang als effektives und sinnliches Speichermedium

Die internationale Hinduismus-Forschung greift bei der AAR-Jahrestagung mit dem Panel „Sounding the Sacred: Sound and Text in Hindu Traditions“ (Das klingende Heilige: Klang und Text in Hindu-Traditionen) diese Arbeiten auf und weitet sie aus. So referiert der Indologe Dr. Finnian Moore Gerety von der Harvard University über die Klanglichkeit der heiligen Silbe „OM“ in vedischen Texten. Der Mitorganisator des Panels vertieft damit ein Thema, das die Buchautoren in zwei Kapiteln kurz behandeln. Weitere Fallstudien zu verschiedenen hinduistischen Texttraditionen überprüfen den Wert, den eine Untersuchung der Klanglichkeit hat, und demonstrieren die Lebendigkeit dieses theoretischen Modells.

Der Stellenwert der Sprachpraxis wird der Forscherin zufolge auch daran deutlich, dass der Veda, die älteste Sakralliteratur Indiens, bis in die Neuzeit ausschließlich als mündlicher Kanon unverändert überliefert wurden. „Höchste Präzision, was die korrekte Aussprache betrifft, war gefordert“, erläutert Wilke. „Klang war hier nicht nur ein präziseres und effektiveres Speichermedium als die Schrift, sondern bestärkte auch sinnlich-ästhetisch-emotionale Aneignungsprozesse.“ Mit einer rituellen Rezitation des Sanskrit-Alphabetes werde sogar die Sprache selbst als Gottheit verehrt, erläutert die Forscherin.

„Keine Dingwahrnehmung ohne Sprachlichkeit“

Wilke schlägt den Bogen zur westlichen Kultur, wenn sie hervorhebt, „dass die indischen Sprachtheoretiker dabei quasi als Nebenprodukt den linguistic turn der westlichen Philosophie Jahrhunderte vorwegnahmen.“ Während westliche Gelehrte erst im 20. Jahrhundert die Abhängigkeiten zwischen Sprache und Wirklichkeit kritisch in den Blick nahmen, stellte der indische Dichter Bhartrhari schon etwa 1500 Jahren früher fest: „In dieser Welt gibt es keine Dingwahrnehmung ohne Sprachlichkeit [und unsere] gesamte Wahrnehmung erscheint von Sprache durchzogen.“

Die Jahrestagung der AAR bringt Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen zusammen, die sich mit Religionen oder religiösen Phänomenen beschäftigen. Die AAR hat nach eigenen Angaben etwa 9.000 Mitglieder in Nordamerika und weltweit. Im Vorfeld der Jahrestagung ist Prof. Dr. Annette Wilke außerdem zur Tagung der „Study of Religion as an Analytical Discipline Workshop“ (SORAAAD) eingeladen, die am 18. November ebenfalls in San Antonio/Texas stattfindet. Sie wird auch dort ihre Thesen zur Klanglichkeit im Hinduismus zur Diskussion stellen. Am Excellenzcluster „Religion und Politik“ leitet die Religionswissenschaftlerin das Projekt C2-20 „Globaler Hinduismus – Die Chinmaya Mission in Indien und weltweit“. (ill/vvm)

Hinweis: Wilke, Annette/ Moebus, Oliver: Sound and Communication. An Aestehtic Cultural History of Sanskrit Hinduism, Berlin/New York: de Gruyter 2011, xxiv, 1112 Seiten, inkl. 1 Musik-CD, ISBN 978-3-11-018159-3, 159,95 Euro.