„Bemerkenswerte Bandbreite“

Doktoranden präsentieren ihre Arbeiten beim zweiten „Tag der Graduiertenschule“

Tag-der-graduiertenschule-2

Julia Krul stellte ihre Forschungen zu Kulten in der südbabylonischen Stadt Uruk vor.

Von spätbabylonischen Kulten bis zur Moral bei Kant, von den ersten Jahrhunderten des Islam bis zum Böckenförde-Diktum: Der zweite „Tag der Graduiertenschule“ am Exzellenzcluster hat eine Bandbreite an Themen, Epochen und Fächern eröffnet. Acht Doktorandinnen und Doktoranden stellten ihre Forschungsprojekte im Spannungsfeld von Religion und Politik vor. Politik-, Religions- und Islamwissenschaftler kamen ebenso zu Wort wie Soziologen, Historiker und Philosophen. Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger vom Cluster-Vorstand würdigte das große Spektrum an Forschungsgegenständen und Methoden der Dissertationsprojekte als „bemerkenswert und nicht selbstverständlich“.

Der Sprecher des Exzellenzclusters, Mediävist Prof. Dr. Gerd Althoff, richtete sich an die Nachwuchswissenschaftler mit den Worten: „Die Präsentation der eigenen Arbeit ist ein wichtiger Moment im Leben eines Wissenschaftlers.“ Auf fachliche Kritik, die am Cluster in freundlicher, konstruktiver Atmosphäre geäußert werde, reagiere ein Forscher am besten mit „Gelassenheit und produktiver Unruhe“. „Denn am wenigsten kommt man weiter, wenn man nur gelobt wird.“ Die Vorträge mündeten in lebhafte Diskussionen zwischen den Doktoranden und anderen Cluster-Mitgliedern verschiedenster Disziplinen.


Tag-der-graduiertenschule-4

Prof. Dr. Gerd Althoff, Kathrin Nieder, Kristina Thies und Matthias Hoesch (v.l.)

© bhe

Religionswissenschaftler Klaus Brand skizzierte in seinem Vortrag Forschungen über den „Mesmerismus“ und dessen Darstellung in Texten des 19. Jahrhunderts. Die von Franz Anton Mesmer (1734-1815) begründete alternative Heilmethode, die er selbst auch als animalischen Magnetismus bezeichnete, ordneten die Zeitgenossen unterschiedlichen Feldern zu: Für manche war sie Wissenschaft und Medizin, für andere Religion oder Philosophie. Später entstanden daraus Geistheilungstheologien wie die „Christian Science“, aber auch „radikale politische Theorien“ zur französischen Revolution sowie psychologische Behandlungstechniken wie die Hypnose. Klaus Brand untersucht die Beschreibungen des Mesmerismus nach den Kategorien „Fakten und Fiktionen“.

Den Islam in Einklang mit der Moderne bringen

Islamwissenschaftler und Germanist Alsayed Alrahmany sprach über die vermeintliche Unvereinbarkeit islamischer und westlicher Werte und wie liberale Muslime ihr mit einer so genannten Koranhermeneutik begegnen. Der ägyptische Wissenschaftler plädierte für eine philosophische Hermeneutik, die über die Koranauslegung hinausgeht, um noch weitere islamische Wissenschaftsdisziplinen miteinzubeziehen, vor allem die kanonische Wissenschaft "Usul al-Fiqh" (wortwörtlich: Grundlagen des Verstehens), die als islamische Methodologie des Verstehens und Normfindens dient.  Eine solche Verstehenstheorie würde laut Alrahmany die Interpretationsspielräume erweitern und den Islam in Einklang mit der Moderne bringen.

„Wovon handelt eigentlich das ‚Böckenförde-Diktum‘?“, fragte Philosoph Tim Reiß. Unter diesem Stichwort werde in politischen Diskursen über Staat und Religion häufig folgender Satz des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde zitiert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Es sei aber unklar, so Reiß, was der Satz genau bedeute, und inwiefern er etwas mit dem Verhältnis von Staat und Religion zu tun habe. Nach Einschätzung des Doktoranden lassen sich in Böckenfördes Aufsatz, dem der Satz entstammt, ganz verschiedene und widersprüchliche Auslegungen finden. Reiß sprach auch darüber, inwiefern Böckenfördes Problembeschreibung davon absehe, dass der „freiheitliche“ Staat zugleich ein demokratischer Staat ist oder sein sollte.


Tag-der-graduiertenschule-1

Besucher des Tags der Graduiertenschule im Gespräch.

© bhe

Mit Matthias Hoesch kam ein weiterer Philosoph zu Wort. Er befasste sich mit Recht und Moral bei Immanuel Kant. „Trotz einer schwer zu fassenden Fundierung des Rechts in der Moral begründete Kant einen unbedingten Vorrang des positiven Rechts vor allen normativen Anforderungen an das Recht“, sagte Hoesch. Aus dieser Konzeption ergebe sich eine moralische Verpflichtung auf das positive Recht, sodass der „moralisch gute Untertan“ zugleich ein „lenksamer Untertan“ sein müsse. Weil sich die moralische Verpflichtung auf das Recht dem Recht selbst jedoch entziehe, so der Wissenschaftler, müsse die Konzeption des bürgerlichen Gemeinwesens durch die eines ethisches Gemeinwesens ergänzt werden. „Das ist für Kant nur als Kirche denkbar.“

Dimensionen der Toleranz

Soziologin Zehra Ergi sprach über türkischstämmige Jugendliche in Deutschland, deren „soziale, kulturelle und politische Identitätsbildung“ sie in ihrem Promotionsprojekt untersucht. Dazu führt sie Einzelinterviews mit 16- bis 25-Jährigen, die in Städten mit einem hohen Migrationsanteil leben. In ihrer Untersuchung geht sie davon aus, dass sich die Identitätsbildung dieser Jugendlichen in einer komplexen Wechselwirkung mit ihrer Herkunftsfamilie, der Gruppe ihrer Gleichaltrigen und der Mehrheitsgesellschaft vollzieht. Diese Annahme decke sich mit den bisherigen Ergebnissen ihrer Datenauswertung. Am Beispiel zweier junger Frauen, die zu Beginn ihrer Pubertät das Kopftuch anlegten, zeigte Ergi, dass die Jugendlichen diese religiöse Praxis als Normalitätsentwurf ihrer Herkunftsfamilien übernehmen und damit den Übergang ins Erwachsensein verbinden. Die Reaktionen von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft setzten jedoch bei den Jugendlichen Reflexionsprozesse in Gang, die ihre Identitätsbildung maßgeblich prägten. Ergi zeigte an den Fallbeispielen auf, wie unterschiedlich die Jugendlichen solche Kontrasterfahrungen verarbeiten und in ihre Identität integrieren: Zum einen können ausgrenzende Praktiken der Mehrheitsgesellschaft zu einem Gefühl der Desintegration führen, zum anderen kann sich dadurch ein „dritter Raum“ bilden, in dem eine individuierte Identitätsbildung möglich wird.

Auch Soziologe Nils Friedrichs befasste sich mit Fragen der religiösen Vielfalt. Er unterschied methodisch vier Dimensionen von „Toleranz“ gegenüber fremden Religionen:  Ablehnung, bedingte Duldung, Respekt und Wertschätzung. Diese testete er anhand einer Bevölkerungsumfrage des Exzellenzclusters über religiöse Vielfalt auf ihre empirische Gültigkeit und kam zu einem positiven Ergebnis. Anschließend stellte er Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Formen der Toleranz und der Religiosität her. Als besonders tolerant zeigten sich dabei Menschen, die eine aus verschiedenen religiösen Traditionen zusammengesetzte, „synkretistische Religiosität“ pflegen. „Auch haben eher solche Menschen Verständnis für andere Religionen, denen ihre eigene Religiosität wichtig ist“, sagte Friedrichs.

Der Vortrag von Althistorikerin Julia Krul führte ins alte Mesopotamien, genauer in die südbabylonische Stadt Uruk auf dem Gebiet des heutigen Irak. Hier gab es etwa 250 vor Christus eine bislang ungeklärte Verschiebung der religiösen Kulte. Die Stadtgöttin Ischtar bekam Konkurrenz von dem ebenso alten Gott Anu. Eins der erhaltenen Zeugnisse über die „neuen alten“ Rituale, die mit dieser Rückbesinnung einhergingen, steht im Mittelpunkt von Kruls Dissertation. Sie hat ihre Quelle – eine Tontafel aus der Sammlung im Louvre – aus der Keilschrift ins Englische neu übersetzt. Geschildert wird darin ein Nachtritual, in dem bestimmte kultische Handlungen wie Tieropfer, Gesänge oder das Entzünden von Feuern zur Ehre des Gottes Anu ausgeführt werden, sobald bestimmte Sterne am Himmel zu sehen waren. Laut Krul spricht jedoch auch einiges dafür, dass der erneuerte Anu-Kult die Verehrung von Ischtar gar nicht verdrängt habe, sondern dass beide Gottheiten parallel verehrt wurden.

Der „religionspolitische Konsens“ in der Bundesrepublik

Sven Speer befasste sich mit der Ausbreitung des „religionspolitischen Konsenses“ in der Bundesrepublik. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es noch große Unterschiede zwischen evangelisch und katholisch dominierten Bundesländern gegeben. Erstere traten für eine größere Distanz von Staat und Religion ein, letztere etablierten eine enge staatliche Kooperation mit den Kirchen und gaben sich religiöse Fundamente. Mit der Zeit habe sich aber ein weitgehender Konsens zwischen den evangelischen und katholischen Ländern entwickelt, der schließlich auch auf die nichtchristlichen ostdeutschen Bundesländer übergegriffen habe. Speer zeigte die Entwicklung anhand von Landesverfassungen, Staatskirchenvorträgen und Konkordaten auf. (vvm/bhe)