Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Forschungsbericht 2001-2002
 
Sonderforschungsbereich 496
Symbolische Kommunikation und
gesellschaftliche Wertesysteme vom
Mittelalter bis zur französischen Revolution

Salzstr. 41
48143 Münster
Sprecher: Prof. Dr. Gerd Althoff
 
Tel. (0251) 83-2 79 14/3
Fax: (0251) 83-2 79 11
e-mail: sfb496.sekretariat@uni- muenster.de
www: http://www.uni-muenster.de/sfb496
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Forschungsschwerpunkte 2001 - 2002

Sonderforschungsbereiche
Sonderforschungsbereich 496 - Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution
Teilprojekt A1/Prof. Dr. Hagen Keller


Urkunde und Buch in der symbolischen Kommunikation
mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften und Herrschaftsverbände

Das Teilprojekt untersucht die symbolische Dimension von Handlungen, in deren Mittelpunkt Schriftdokumente stehen. Beispiele sind einerseits die herrscherliche Privilegierung, andererseits der Umgang mit für eine Gemeinschaft konstitutiven Büchern wie dem Statutencodex bzw. der Sammlung ihrer Rechte oder einer die Zugehörigkeit fixierenden "Matrikel". Symbolische Kommunikation, in deren Rahmen bedeutsames Schriftwerk "inszeniert" wurde, war im öffentlichen Leben des Mittelalters fast allgegenwärtig. Die oft ausführlichen Texte haben die Forschung weitgehend übersehen lassen, daß derartige "Schriftmonumente" zugleich in den Kontext einer für den Zusammenhalt eines Verbandes konstitutiven Interaktion gehören. Diese Interaktion "veröffentlicht" die Werte, Normen und Ordnungsvorstellungen, auf die das Handeln mittels der Schrift bezogen ist. Das Teilprojekt untersucht diese Zusammenhänge am Beispiel der zwei Großgattungen "Urkunde" und "Codex" und erfasst damit einerseits herrschaftliche, andererseits genossenschaftliche Strukturen.

Im Berichtszeitraum wurden die bereits im Jahr 2000 begonnenen Arbeiten zur Privilegienvergabe im fränkischen und im römisch-deutschen Imperium sowie zur Amtseinführung des Podestà in den italienischen Stadtkommunen (13./14. Jahrhundert) fortgeführt. Die Fruchtbarkeit der Fragestellung wurde an Beispielen aus dem nordalpinen Raum verifiziert.Für die Privilegienvergabe im Früh- und Hochmittelalter illustrierten weitere Fallstudien, wie der kommunikative Kontext der Vergabe auf den Inhalt und den formalen Aufbau der überlieferten Dokumente zurückwirkte. Ausgehend von herausragend dokumentierten Einzelfällen ließ sich nachweisen, in welchem inszenatorischen Rahmen die Übereinkünfte erzielt wurden, die in der Urkunde festgehalten sind. Auf der anderen Seite erlaubte die systematische Erfassung von Informationen zu Ort, Datum und Anlass der Urkundenausstellung sowie der Übergabe am Altar, die religiöse Einbindung des herrscherlichen Handelns im Akt der Privilegierung präzise zu erfassen.

Diese Beobachtungen ermöglichten es, grundsätzlich die Frage nach der visuellen Kultur der Ottonenzeit aufzuwerfen. Die Tatsache, dass zeichenhafte Elemente in der Erstellung und Übergabe von Herrscherdiplomen zunehmend an Bedeutung gewannen, ordnet die Privilegierung in eine Tendenz der Zeit ein, grundlegende Sachverhalte sichtbar darzustellen und in zum Teil hoch komplexen Bildsymbolen zu verdichten. Das Sichtbarmachen religiöser und politischer Ansprüche des Herrschers in den Medien des Zeremoniells und des Schriftstücks gewinnt daher an Signifikanz als Indikator für einen grundlegenden Wandel der Kommunikations- und Wahrnehmungsmodi vom karolingischen zu römisch-deutschen Reich.

Die Studien zur Amtseinführung des neuen Podestà in den italienischen Stadtkommunen konnten abgeschlossen werden. Zum einen wurde die fundierende Bedeutung dieses Ablaufs für die rechtliche Strukturierung der Kommune aufgezeigt. Nur durch diesen Akt symbolischer Kommunikation gewann das schriftlich fixierte Recht Geltung, weil es in ein Gefüge wechselseitiger Eide des Podestà, der Amtsträger der Kommune und der Bürger eingebunden wurde. Zugleich konnte der Einzug des Podestà als spezifische Ausformung eines Herrscheradventus interpretiert werden, in dem sich die ambivalente Stellung eines befristet und an explizite Regeln gebundenen Stadtoberhaupts in den modifizierten Formen europäischer Herrschaftsrepräsentation artikulierte. Trotz der raschen Bedeutungszunahme des Mediums Schrift behielt also symbolische Kommunikation in den italienischen Stadtkommunen ihre zentrale Bedeutung.

Weitere Arbeiten nehmen den nordalpinen Bereich des Spätmittelalters in den Blick. Am Beispiel der Regierung des Basler Bischofs Johann von Venningen (1458 - 1478) zeichnet sich eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen dem Stadtherrn und seiner Gemeinde ab. Die Inszenierung von und der Umgang mit fundierenden Schriftstücken belegen die zentrale Rolle, die der Bischof zumindest in der symbolischen Kommunikation in seiner Stadt auch noch im 15. Jahrhundert spielte. Die Gründung der Basler Universität wurde zugleich in das Panorama europäischer Universitätsgründungen eingeordnet. Weitere Fallstudien befassen sich mit spätmittelalterlichen Herrscherprivilegien und Privaturkunden im westfälischen Raum. Die Fruchtbarkeit des Ansatzes, nach dem Verhältnis zwischen symbolischer Kommunikation und Schriftlichkeit zu fragen, konnte also auf verschiedenen Feldern nachgewiesen werden. Immer deutlicher tritt zutage, dass symbolische Kommunikation nicht durch Schriftlichkeit abgelöst wurde, sondern dass sie sich zu einer synchronen Multimedialität zusammenfanden, die über alle Entwicklungen der Schriftkultur hinweg das gesamte Mittelalter prägte.

Projektdauer:

seit 01.01.2000

Beteiligte Wissenschaftler:

Hdoz. Dr. Th. Behrmann, Dr. Ch. Dartmann, Prof. Dr. H. Keller (Leiter), Hdoz. Dr. Th. Scharff, Ch. F. Weber, P. Worm M. A.; mit Einzelbeiträgen H. Beyer M. A., W. Treseler, Dr. B. Weifenbach

Veröffentlichungen:

Behrmann, Th.: Zeichen und Zeremoniell auf hansischen Versammlungen, in: V. Henn (Hg.), Die hansischen Tagfahrten zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Trier 2001, S. 109-124

--,: Zum Wandel der Fürstenanrede im Spätmittelalter, in: G. Althoff (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 51), Stuttgart 2001, S. 291-317

Beyer, H.: Urkundenübergabe am Altar. Zur liturgischen Dimension des Beurkundungsaktes bei ottonisch-salischen Schenkungen, in: Frühmittelalterliche Studien 37, 2003 (im Druck)

Dartmann, Ch.: 'Herrschereinzüge' in den italienischen Stadtkommunen, in: P. Johanek, A. Lampen, R. Schweers, G. Tscherpel (Hgg.), Adventusstudien (im Druck)

--,: Schrift im Ritual. Der Amtseid des Podestà der italienischen Stadtkommunen auf den geschlossenen Statutencodex, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (im Druck)

--,: Schiedsgerichtsbarkeit und die gütliche Beilegung von Konflikten in Westfalen: das Beispiel der Abtei Liesborn, in: Westfälische Forschungen 2003 (im Druck)

Keller, H.: Die Einsetzung Ottos I. zum König (Aachen, 7. August 936) nach dem Bericht Widukinds von Corvey, in: M. Kramp (Hg.), Krönungen. Könige in Aachen - Geschichte und Mythos. Katalog-Handbuch zur Ausstellung, Mainz 2000, 1, S. 265-273

--,: Die Siegel und Bullen Ottos III., in: A. Wieczorek - H.-M. Hinz (Hgg.), Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie. Handbuch zur Ausstellung, Stuttgart 2000, 2, S. 767-773

--,: Das 'Edictum de beneficiis' Konrads II. und die Entwicklung des Lehnswesens in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, in: Il feudalismo nell'alto medioevo (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto medioevo 47), Spoleto 2000, S. 227-261

--,: Das neue Bild des Herrschers. Zum Wandel der 'Herrschaftspräsentation' unter Otto dem Großen, in: B. Schneidmüller, St. Weinfurter (Hgg.), Ottonische Neuanfänge, Mainz 2001, S. 189-211

--,: Oddo imperator Romanorum. L'idea imperiale di Ottone III alla luce dei suoi sigilli e delle sue bolle, in: H. Keller, W. Paravicini, W. Schieder (Hgg.), Italia et Germania. Liber Amicorum Arnold Esch, Tübingen 2001, S. 163-189

--,: Die Ottonen, München 2001

--,: Otto der Große urkundet im Bodenseegebiet. Inszenierungen der 'Gegenwart des Herrschers' in einer vom König selten besuchten Landschaft, in: J. Petersohn (Hg.), Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters (Vorträge und Forschungen 54), Stuttgart 2001, S. 205-245

--,: Die Kaiserkrönung Ottos des Großen. Voraussetzungen, Ereignisse, Folgen, in: M. Puhle (Hg.), Otto der Große, Magdeburg und Europa. Katalog zur Ausstellung, Magdeburg 27. August - 2. Dezember 2001, 1, Mainz 2001, S. 461-480

--,: Ritual, Symbolik und Visualisierung in der Kultur des ottonischen Reiches, in: Frühmittelalterliche Studien 35, 2001, S. 21-57

--,: Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht, Darmstadt 2002

--,: Oralité et écriture, in: J.-C. Schmitt, O. G. Oexle (Hg.), Les tendances actuelles de l'Histoire du Moyen Age en France et en Allemagne (Histoire ancienne et médiévale 66), Paris 2002, S. 127-142

--,: Le responsabilità del singolo e l'ordinamento della communità. Trasformazioni di valori sociali nel XII secolo, in: G. Constable u. a. (Hg.), Il XII secolo: la 'renovatio' dell'Europa cristiana (Annali dell'Istituto italo-germanico. Quaderno 62), Bologna 2003 (im Druck)

--,: Schriftgebrauch und Symbolhandeln in der öffentlichen Kommunikation: Aspekte des gesellschaftlich-kulturellen Wandels vom 5. bis 13. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 37, 2003 (im Druck)

--,: Ch. Dartmann: Inszenierungen von Ordnung und Konsens. Privileg und Statutenbuch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften, in: G. Althoff (Hg.), Zeichen - Rituale - Werte. Sinnschichten und Deutungsstrategien symbolisch vermittelter Wertevorstellungen, Internationale Tagung des SFB 496 in Münster, 22. - 25. Mai 2002 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB 496, 3) (im Druck)

Scharff, Th.: Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2002

--,: Öffentliche Schuldbekenntnisse mittelalterlicher Herrscher und ihre Darstellung in der zeitgenössischen Historiographie, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 32 (= Heft 126: Bekenntnisse, hg. von W. Haubrichs), 2002

--,: Stigmatisierung als Zeichen der Reintegration. Zur Markierung von Körper und Kleidung im mittelalterlichen Inquisitionsverfahren, in: Th. Lentes (Hg.), Körpermarken - Bildermarken (in Druckvorbereitung)

Treseler, W.: Lothar III. und die Privilegien des Klosters Monte Cassino. Symbolische Kommunikation während des Konflikts zwischen Kaiser und Papst im Jahr 1137, in: Frühmittelalterliche Studien 35, 2001, S. 313-328

Weber, Ch. F.: Formation of Identity and Appearance of North-Italian Signorial Families in the 14th Century, in: C. Beattie, A. Maslakovic (Hgg.), Managing Power, Wealth and the Body: The Christian Household in Medieval Europe c. 850-1550 (York Household Series), Turnhout 2003 (im Druck)

--,: Ces grands privilèges. The Symbolic Use of Written Documents in the Foundation and Institutionalization Processes of Medieval Universities, in: History of Universities 18, 2003 (im Druck)

--,: Schriftstücke in der symbolischen Kommunikation zwischen Bischof Johann von Venningen (1458-1478) und der Stadt Basel, in: Frühmittelalterliche Studien 37, 2003 (im Druck)

Weifenbach, B.: Freiheit durch Privilegien und Schutz durch Reliquien. Überlegungen zur spätmittelalterlichen Inszenierung reichsstädtischer Freiheit anläßlich des Besuchs Karls IV. in Dortmund, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte (im Druck)

Worm, P.: Beobachtungen zum Privilegierungsakt am Beispiel einer Urkunde Pippins II. von Aquitanien, in: Archiv für Diplomatik 48, 2003 (im Druck)

--,: Karolingische Rekognitionszeichen. Die Kanzlerzeile und ihre graphische Ausgestaltung auf den Herrscherurkunden des achten und neunten Jahrhunderts, Diss. phil. masch., Münster, Univ., 2002

 
 

Hans-Joachim Peter
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Datum: 2003-11-12