I. Einführung
Nach dem Sturz des Kabinetts Balkenende II im Mai dieses Jahres dürfen die stimmberechtigten Niederländer am 22. November 2006 über die Sitzverteilung in der Zweiten Kammer entscheiden. Nach den Turbulenzen der letzten Monate, die letztendlich zum Austritt der linksliberalen D66 aus der Regierungskoalition und den vorgezogenen Neuwahlen geführt haben, könnte es im Herbst nun spannend werden, wenn die heiße Phase des Wahlkampfes beginnt. In den kommenden Wochen wird Jan Kanter die aktuellen Debatten im politischen Den Haag begleiten und in regelmäßigen Abständen zusammenfassen und kommentieren. In den ersten beiden Kapiteln des Dossiers werden die zentralen Themen sowie die Spitzenkandidaten der fünf wichtigsten Parteien vorgestellt.
Neuer Wahlkampf, alte Themen
Theo van Gogh hätte vermutlich innerlich gejubelt - und den Urheber des neuesten Wahlkampfthemas öffentlich kübelweise mit Hohn und Spott übergossen. Es scheint, als würden die Niederländer von dem Thema, das auch den 2004 ermordeten Regisseur in vielen seiner Kolumnen umtrieb, nicht loskommen. Jetzt gibt es also auch noch eine Scharia-Debatte. Ausgerechnet Justizminister Piet Hein Donner überlegte öffentlich, dass man, sollte sich eine Mehrheit der Bürger dafür aussprechen, die Scharia - den islamischen Rechtskodex - wohl in die Verfassung aufnehmen müsse. Vermutlich hat Donner es gar nicht so gemeint. Er suchte für einen sehr theoretischen staatsrechtlichen Diskurs über Freiheit und bürgerliche Rechte nur ein plastisches Beispiel. Dennoch ist naiv noch die freundlichste Umschreibung, die einem dazu einfällt. Die Reaktion in der Öffentlichkeit und erst recht beim dankbaren politischen Gegner fiel entsprechend amüsiert aus. Die üblichen Verdächtigen formulieren bereits wieder ihre Misstrauensanträge, die angesichts der politischen Tölpelhaftigkeit Donners eigentlich aus Prinzip ohne große Debatte vom gesamten Parlament insbesondere mit den Stimmen der eigenen Partei angenommen werden müssten.
Entlassung einer islamischen Lehrerin
Soweit wird es aber wohl nicht kommen. Der Vorgang, ernsthaft betrachtet, nicht viel mehr als eine spätsommerliche Posse, zeigt aber eines deutlich: Auch wenn die Niederländer noch so sehr versuchen, Normalität vorzuspielen, bleibt die Gesellschaft hochgradig erregt, ist der Mord an Theo van Gogh noch lange nicht verarbeitet. Das zeigt auch ein anderes Beispiel dieser Woche. Eine islamische Lehrerin wurde entlassen, weil sie sich weigerte, Männern die Hand zu geben. Die religiöse Verpflichtung zur Distanz gegenüber dem anderern Geschlecht war ihr zwar erst in diesem Sommer eingefallen, aber dennoch forderte sie dieses Recht auf Verweigerung mit Verve ein, beschwert sich nun zudem öffentlich über ihre Entlassung. Jetzt liegt der Fall erst einmal bei der Kommission für Gleichbehandlung. Die Schule beharrt auf ihrer Position, weil Lehrer schließlich eine Vorbildfunktion hätten und das Händeschütteln in der westlichen Kultur ein Zeichen von Respekt sei, welches die Schüler zu lernen hätten. Man darf gespannt sein, wie die Kommission entscheidet.
Immigration und Integration
Gut zwei Monate vor der Wahl bleiben die Themen Immigration und Integration sehr weit oben auf der Agenda öffentlicher Wahrnehmung - auch wenn die Parteien öffentlich etwas anderes zu signalisieren versuchen. Das Land weist dabei eine merkwürdige Zerrissenheit auf. Rita Verdonk, Beinahe-Spitzenkandidatin der VVD und Hardcore-Hardlinerin in Integrationsfragen wurde zeitweise mit über 20 Sitzen gehandelt, für den Fall, dass sie mit einer eigenen Liste zur Wahl antreten sollte. Gleichzeitig gewannen aber bei den Kommunalwahlen im Frühjahr beinahe in allen Städten genau die Parteien hinzu, die eher für das traditionelle, weltoffene und tolerante Land stehen. Vermutlich dürfte der Wahlausgang im November entscheidend davon abhängen, wie hoch die Fieberkurve in der Islam-/Integrationsfrage unmittelbar vor der Wahl steht.
Neuer Ministerpräsident?
Derzeit führt die sozialdemokratische PvdA in den meisten Umfragen mit rund zehn Sitzen recht deutlich vor VVD und CDA. Es scheint darauf hinauszulaufen, dass diese drei Parteien die Wahl unter sich ausmachen werden. Dass es für die PvdA zu einer Koalition mit SP und GroenLinks reicht, ist eher unwahrscheinlich. Gut möglich und in Den Haag schon reichlich spekuliert ist ein Bündnis von PvdA mit den (in den Niederlanden ohnehin eher arbeitnehmerfreundlichen) Christdemokraten. Das würde aber bedeuten, dass es beim prognostizierten Wahlausgang einen neuen Ministerpräsidenten geben würde. Der hieße dann nicht mehr Balkenende sondern Bos. Diese Rechenspiele setzen aber voraus, dass sich Wouter Bos ruhig verhält und nicht wie im Sommer massenweise potentielle Wähler mit dem Plan, den Rentnern ans Geld zu gehen, Wähler verprellt. Diese eine Idee stürzte seine Partei von Höhen kurz vor der absoluten Mehrheit auf Normalmaß. Eine weitere Unachtsamkeit könnte dann vier weitere Jahre Opposition bedeuten.
Spannende Verhandlungen
Rund zwei Monate vor den Wahlen verheißt eine Umfrage ganz besonders interessante Koalitionsverhandlungen. Wenn man dem Meinungsbild folgt, das rtl erstellte und das von den anderen Umfrageinstituten erheblich abweicht, könnte die Wahl mit folgendem Ergebnis abschließen: Demnach kommt die PvdA auf 39 Sitze, die CDA auf 34, die VVD auf 27, SP auf 24, ChristenUnie auf neun, GroenLinks auf fünf, PVV (Groep Wilders) ebenfalls auf fünf, EenNL auf drei, SGP auf zwei, D66 auf einen und die PVDD ebenfalls auf einen Sitz. Die anderen Institute sehen allerdings vor allem die SP nicht so weit vorne. Dort sind sowohl PvdA als auch CDA etwas stärker. Auch der ChristenUnie kommt laut rtl eine bedeutende Rolle zu. Den Politikredakteuren des Senders zufolge wäre die fundamentalistisch-religiöse Splitterpartei an allen tragfähigen Koalitionen beteiligt.
Zahlenspiele
Dennoch sind das alles vorerst amüsante Spekulationen, die allerdings geeignet sind, den Polit-Strategen der großen Parteien Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Der Vergleich mit den vergangeen Wahlen zeigt aber auch, dass Jan Marijnissen und seine SP so etwas wie eine drohend schwingende Keule des unzufriedenen Wählers sind: Bereits bei den vergangenen Wahlen lag der charismatische Sozialist in vielen Umfragen bei deutlich über 20 Sitzen und bekam am Wahltag dann doch nur neun Mandate. All diese Zahlenspiele und permanenten Umfragen sind aus einem Grund nicht völlig belanglos, wie man bisweilen denken könnte. Die Politik nimmt sie ernst und reagiert darauf - und das ist oft zumindest unterhaltsam.
Autoren: Jan Kanter und Maike Giesbert
Erstellt: September 2006