Annie M.G. Schmidt (1968)
Annie M.G. Schmidt (1968)
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Literatur - Personen A-Z

Annie M.G. Schmidt

* Kapelle, 20. Mai 1911 - Amsterdam, 21. Mai 1995 - Kinderbuchautorin

Die Oma der Nation

Annie M.G. Schmidt war die beliebteste Kinderbuchautorin der Niederlande. Sie wurde von allen nur „Annie“ genannt, die alte Dame mit der großen Brille. Annie, Hollands Knuffel-Oma schlechthin. Annie, die erfolgreichste Schriftstellerin der Niederlande und mehrfache Millionärin. Richtig hieß sie Anna M.G. Schmidt. Es gibt wohl kein Kind in den Niederlanden, welches nicht die Geschichten um Jip und Janneke, Dikkertje Dap, Pluk van de Petteflet oder Floddertje kennt. Pflichtlektüre im Kindergarten! Annie Schmidt war die niederländische Astrid Lindgren. Acht Jahre nach ihrem Tod hat die Journalistin Annejet van der Zijl versucht, ihr unbeschriebenes Leben in Worte zu fassen. Zwei Jahre arbeitete Van der Zijl an der Biografie, um den „Mythos Annie“ zurecht zu rücken. „Sie war keine Heldin, sondern ein normaler Mensch“, sagt die Autorin.

Ein gutes Händchen

Schmidt wurde als dritte Tochter in eine konservative Pfarrersfamilie geboren. Ihre Mutter legte Wert darauf, dass Anna keinen Umgang mit den einfacheren Nachbarskindern pflegte, sondern stattdessen im stillen Kämmerlein las. Für Anna war das nie Strafe, sondern Segen. Sie hatte schnell den Vorrat der Bibliothek in Capelle durchforstet und machte sich dann an die Bücher ihres Vaters. Anna war ihren Mitschülern immer weit voraus. Zur besten Freundin entwickelte sich ihre Mutter. Als Au-pair-Mädchen schrieb sie ihr jahrelang jede Woche zwei Briefe. Sie konnte sich noch nicht von ihr lösen. Der Abnabelungsprozess erfolgte später, als Anna als junge Frau nach Amsterdam zog und in der Kinderbibliothek „Nuts“ arbeitete. Nebenbei schrieb sie für die Tageszeitung Het Parool. Jetzt blühte sie auf, konzentrierte sich auf ihre Arbeit und begann mit Kindergedichten. Die sollte sie für die Kinderseite von Het Parool verfassen. Aber anfangs fand Annie keinen Zugang zur Jugendliteratur: „Ich könnte kotzen!“, schrieb sie in ihr Tagebuch, als sie zum ersten Mal im Kinderlesesaal von Nuts den „kleinen Biestern“ Geschichten vorlesen musste. Die anfängliche Abneigung wurde zur Passion. Sie merkte, dass sie ein gutes Händchen dafür hatte, Kinder an Literatur zu gewöhnen.

In der Tat, Annie M.G. Schmidt wird noch immer wegen ihres typischen Humors der 50er Jahre geliebt: Untertreibungen und Verniedlichungen, gepaart mit grotesken Gags. Annies Markenzeichen wurde der Kreuzreim, der sich durch alle Gedichte zieht. Dieser ist es auch, der ihr den internationalen Erfolg versagte: „Ihre Sprache ist so ur-niederländisch, dass in der Übersetzung jede Farbe verloren geht“, sagt Van der Zijl. Aus „Pluk van de Petteflet“ wird: „Pluk mit dem Kranwagen“. Die Melodie ist dahin, wirkt steif und hölzern. Gleichwohl bekam die Autorin dank Astrid Lindgren 1988 den „Nobelpreis für Kinderliteratur“, den Hans-Christian-Andersen-Preis. Schmidt revolutionierte die niederländische Kinderbuchliteratur: „Vers um Vers schuf sie ein Werk, welches an Kreativität und Sprachmusikalität unerreicht war“, schreibt Van der Zijl. Ihr erfolgreichstes Buch wird Jip und Janneke. Drei Millionen Mal verkauft. Sie schrieb die Reime „in der Redaktion, mit all dem Tumult um mich. Ich schrieb sie in fünf Minuten.“ Zeitlebens plagten Schmidt Komplexe. Annie wollte nicht nur lustige Paarreime dichten, sondern ernstes Schauspiel auf die Beine stellen. Das gelang ihr erst spät: Für ihren TV-Klassiker „Ja Zuster, Nee Zuster“ blieb die Nation zu Hause und sah allabendlich fern.

Dann fall doch tot um

Mit zunehmendem Alter stieg die Popularität von Annie, sie wurde selbstgerecht: "Man merkte, dass Annie nicht nur das liebe Fräulein war, sie war eine Königin“, heißt es. Wenn sie wütend war, beendete sie Telefonate oft mit „Dann fall doch tot um!“ Trotzdem, Annie blieb Oma der Nation. Dieses Bild verstärkte sich durch ihr Gebrechen. Annie wurde fast blind, konnte nicht mehr lesen und kaum gehen. Im Mai 1995 erkrankte sie an einer Lungenentzündung, am 21. Mai wurde sie tot aufgefunden. Neben ihr die typische Flasche Rotwein, zwei Packungen Camel-Zigaretten und eine leere Pillendose. Sie hatte sich das Leben genommen.

Interview mit Annejet van der Zijl

Annejet van der Zijl über Annie Schmidts Verhältnis zu den Deutschen, zu den Nazis, zu ihrer Mutter und zu ihrem Mann. Das unbekannte Leben einer öffentlichen Person. Hotel Les Grand in Amsterdam. Im Foyer sitzt eine Dame auf einer rustikalen Couch, blond, groß, schlank. Sie liest Zeitung, leise Musik umgibt sie. Sie heißt Annejet van der Zijl und ist die erfolgreichste niederländische Biografin. Mit ihrer Lebensgeschichte über Annie M.G. Schmidt, die im November 2002 erschien, hat sie einen sagenhaften Erfolg gelandet. In den ersten drei Monaten wurden 30 000 Bücher verkauft. Für die Niederlande unglaublich viel.

Gebbink: Frau Van der Zijl, jedes Kind in den Niederlanden kennt Annie M.G. Schmidt. Ganze Generationen sind mit ihren Büchern groß geworden. In Deutschland kennt man sie kaum.
Van der Zijl: Annies Arbeiten sind typisch holländisch. Ihre Sprache, ihr Humor. Das ist schwer zu übersetzen. Die Sendung "Ja zuster, nee zuster" zum Beispiel versteht man nur, wenn man ein Gefühl für das holländische Leben der 50er Jahre hat. Das unterschied sich von dem der Deutschen. Zudem haben ihre Gedichte selten eine gute Geschichte. Sie sind gespickt mit banalen Inhalten und werden erst großartig durch die Sprache.

Gebbink: Gleichwohl war Annie M.G. Schmidt oft in Deutschland und wurde durch deutsche Autoren beeinflusst.
Van der Zijl: Ja. Erich Kästner und Kurt Tucholsky waren für sie wichtig. Kurz nach dem Krieg war es in den Niederlanden nicht en vogue, deutsche Literatur zu lesen. Kästner und Tucholsky bildeten eine Ausnahme. Annies Band mit Deutschland war stark. Sie war in den 30er Jahren als Au-pair-Mädchen in Hannover und kam dort mit dem Nationalsozialismus in Berührung. Sie ging zwiespältig damit um. Sie hatte viele Freunde und Bekannte, die Nazis waren. Andererseits hat sie das Regime verabscheut. Den Kontakt zu ihren Freunden hat sie aber nie abgebrochen.

Gebbink: Nach dem Krieg hat sie sich als tapfere Widerstandskämpferin dargestellt.
Van der Zijl: Ja, das hat sie erfunden. Sie hat vieles erfunden, sonst hätte sie wahrscheinlich nicht so ein großes Werk erschaffen.

Gebbink: Eine besondere Beziehung pflegte Annie zu ihrer Mutter. Ihr schrieb sie Briefe, mit intimen Details. Das war ein sehr inniges Mutter-Tochter-Verhältnis.
Van der Zijl: Sie selbst sagte einmal, dass sie beschädigt aus ihrer Kindheit hervorgegangen ist. Sie hat ihr ganzes Leben versucht, an der Beziehung zur Mutter zu arbeiten. Später hat diese Beziehungslücke ihr Mann Dick van Duijn ausgefüllt, den sie abgöttisch geliebt hat. Dennoch war sie unglücklich und hat Selbstmord begangen.

Gebbink: Sie blieb eine Außenseiterin?
Van der Zijl: Das war ihr Problem. Sie wollte immer dazugehören. Sie hatte ein enormes Geltungsbedürfnis. Das lag auch daran, dass sie mit Kinderliteratur erfolgreich wurde und nicht mit Erwachsenentheater. Ihre Kindergedichte hat sie teilweise sogar verachtet. Das Bild der erfolgreichen, selbstbewussten und rebellischen Oma, welches die Medien mit zunehmendem Alter von ihr entworfen haben, ist völliger Quatsch. Annie war einfach eine unsichere Frau.

Der Text ist zudem erschienen in der NRZ vom 11.03.03.

Autor:
Andreas Gebbink
Erstellt: September 2004