Henriette Presburg
*Nimwegen, 20. September 1788 - † Trier, 30. November 1863 - Mutter Karl Marx'
2018 stand im Zeichen des 200. Geburtstags des vermutlich größten und einflussreichsten Philosophen Deutschlands: Karl Marx. Kein Wunder, dass sich im selben Jahr die Regale der Buchhandlungen mit Biografien über Marx und Neuauflagen seiner Schriften füllten. Trotz des Marx-Hypes in jenem Jahr ist wenig bekannt, dass der geistige Vater des Kommunismus Halbniederländer war. Seine Mutter Henriette Presburg stammte nämlich aus Nimwegen und blieb zeit ihres Lebens mit der Verwandtschaft in den Ost-Niederlanden eng verbunden. Wer aber war die Frau, die einem der kontroversesten Denker des 19. Jahrhunderts 1818 im preußischen Trier das Leben schenkte?
Geboren wurde Henriette Presburg am 20. September 1788 in Nimwegen als Tochter einer jüdischen Familie. Sie war das zweitälteste der fünf Kinder von Nanette Salomon Cohen und Isaac Heymans Presburg. Der Vater arbeitete als Textilhändler in Nimwegen und engagierte sich in der jüdischen Gemeinde. Der Nachname des Vaters deutet übrigens darauf hin, dass er Wurzeln in der Slowakei hatte. Denn der Name Presburg, den die Familie 1812 offiziell annahm, ist die germanisierte Form für die slowakische Hauptstadt Bratislava. Mutter Nanette stammte hingegen aus Amsterdam. Henriette genoss eine jüdische Erziehung und sprach Jiddisch als Muttersprache. Deutsch sollte sie bis zu ihrem Lebensende nie richtig beherrschen und nur mit großer Mühe sprechen und schreiben können.
Am 22. September 1814, nur zwei Tage nach ihrem 16. Geburtstag, heiratete Henriette Presburg den elf Jahre älteren preußischen Anwalt Heinrich Marx. Die Eheschließung fand nach jüdischem Ritus in Nimwegen statt. Die Heirat wurde jedoch nicht aus Liebe geschlossen, sondern aus finanziellen Gründen arrangiert. Henriette trug fortan den Nachnamen des Ehemanns und zog nach Trier an der Mosel. Die Mitgift, die Henriette in die Ehe einbrachte, zeugte vom Wohlstand der Händlerfamilie Presburg. 8.100 Gulden – umgerechnet 4.500 preußische Taler –, 68 Bettlaken, 69 Tischdecken, 200 Servietten und 118 Handtücher, kurzum: Alles, was Henriette mit nach Trier brachte, wurde genauestens aufgelistet. Die Marxens zählten mit ihrem Vermögen zur Oberschicht der Provinzstadt; vom echten Reichtum waren sie aber dennoch weit entfernt.
Henriettes jüngere Schwester, Sophie Presburg, blieb dagegen in den Niederlanden und heiratete Lion Philips. Aus diesem Zweig der Familie Presburg entsprang der gleichnamige Elektronikkonzern, der heutzutage Umsätze in Milliardenhöhe erzielt. Noch immer wird die Kapitalistenfamilie Philips ungern auf das familiäre Band mit dem Kommunisten Karl Marx angesprochen. Dennoch scheint es wohl Ironie des Schicksals zu sein, dass sich die Ursprünge eines großen, kapitalistischen Konzerns und des Kommunismus dasselbe Elternhaus in Nimwegen teilten.
Henriette und Sophie waren ein ungleiches Schwesternpaar. Während Henriette als „einfach“, gar „primitiv“ oder „ohne Entwicklung“ bezeichnet wird, galt Sophie als intelligente Frau, die sich in mehreren Sprachen verständigen konnte und auch ihre Briefe fehlerfrei verfasste. Henriette kommunizierte mit ihren Verwandten dagegen in einem Niederländisch, das von Germanismen und deutschen Ausdrücken durchsetzt war. Offenbar reichten nach den vielen Jahren in Preußen ihre Niederländischkenntnisse kaum noch für eine fehlerfreie Korrespondenz aus. Henriettes geringe Bildung war offenbar dem Umstand geschuldet, dass ihr als Jüdin der Besuch einer nichtjüdischen Schule in Nimwegen verwehrt blieb. Bildung war zur damaligen Zeit ohnehin in erster Linie Männersache. Ihr aber nur aufgrund ihrer schlechten Rechtschreibung Dummheit zu bescheinigen, griffe zu kurz: Henriettes Tochter Emilie beschrieb ihr „Mütterchen“ bei einem Klinikaufenthalt 1883 als „klein, zart und sehr intelligent.“
Karl Marx wuchs in einem liebevollen Elternhaus auf. In Trier kümmerte sich Henriette mit Inbrunst um ihre Familie. Sie wird als bescheidene und stets um ihre Familie besorgte Mutter, als „einfache, gutmütige Seele, der Typus einer Hausfrau, ohne besondere geistige Gaben“ beschrieben. Mit ihrem Ehemann Heinrich bekam Henriette neun Kinder. Zwei von ihnen starben bereits im Kindesalter. Karl war damit faktisch der älteste Sohn, denn sein Bruder Moritz starb 1819 mit nur drei Jahren.
Als Karl 1818 geboren wurde, waren die Marxens noch eine jüdische Familie. Weil Vater Heinrich aber im katholischen Trier wegen seines Glaubens keine Zulassung als Anwalt erhielt, musste die Familie zum Christentum konvertieren. Diesen Schritt gingen zur damaligen Zeit viele Juden in Trier, da der geltende Code Napoléon, der Juden Gleichberechtigung versprach, nach dem Wiener Kongress 1815 wieder abgeschafft wurde. Den Juden in Preußen war es durch die Rechtsreform verboten, in den Staatsdienst einzutreten. 1820 machte Heinrich Marx den Anfang und trat zum Protestantismus über; vier Jahre später wurden die Kinder getauft. Mutter Henriette aber wurde erst im November 1825 Christin. Zu groß war ihre Scheu, den Vater, der sich als Vorbeter der jüdischen Gemeinde in Nimwegen betätigte, zu enttäuschen.
Über das weitere Leben der Henriette Presburg ist vergleichsweise wenig bekannt. 1853 wollte sie mit Tochter Emilie nach Zaltbommel auswandern, wo sich der Großteil der niederländischen Verwandtschaft niedergelassen hatte. Diesen Entschluss, so vermutet der Historiker Jan Gielkens, fasste Henriette wohl aufgrund der geplanten Emigration der Tochter Louise, die im südafrikanischen Kapstadt heiratete. Warum aus dem Plan letztlich nichts wurde, ist unbekannt. Dennoch blieb der Kontakt in die Niederlande ungehindert bestehen. Nach dem Tod von Heinrich Marx im Jahre 1838 ließ Henriette alle Geldgeschäfte über ihren Schwager Lion in Zaltbommel laufen. Trotz ihrer vergleichsweise geringen Bildung verstand Henriette es, mit Geld umzugehen und klug mit ihrem Vermögen zu wirtschaften. Ihr Sohn, der Ökonom Karl, chronisch pleite und ständig auf der Suche nach Einnahmen, musste sich also beim Onkel in den Niederlanden melden, wann immer er Geld brauchte. Karls Versuche, Vorzahlungen des Erbes zu erhalten, lehnte Henriette fortwährend ab. Nur den Erlass älterer Schulden gestand die Mutter zu.
Nicht ohne Grund: Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn war kein gutes. Während Karl für Vater Heinrich aufgrund seiner Begabung der Liebling der Familie war, konnten sich Henriette und ihr Sohn kaum füreinander erwärmen. Gegenüber dem SPD-Gründer Ferdinand Lassalle attestierte Karl seiner ungebildeten Mutter mit gewissem Zynismus einen „feinen esprit“ sowie eine „unerschütterliche[.] Charaktergleichheit.“ In seinen Briefen an den Weggefährten Friedrich Engels sprach Karl weitaus abschätziger über Henriette, die er „die Alte“ zu nennen pflegte. Als Engels Ehefrau, die Irin Mary Burns, überraschend starb, bekennt Karl zudem, er hätte sich lieber den Tod der eigenen Mutter gewünscht als das plötzliche Versterben der jüngeren Mary. 1843 überwarf sich Karl dann mit seiner Familie. Seinem Freund Arnold Ruge schreibt er mit Zorn und Verbitterung: „[S]olange meine Mutter lebt, [habe ich] kein Recht auf mein Vermögen.“
Zwanzig Jahre später starb Henriette Marx am 30. November 1863 in Trier. Sie wurde 75 Jahre alt. Als Karl vom Tod der Mutter erfuhr, reagierte er kühl auf die Nachricht. Anfang Dezember 1863 fand der Trauergottesdienst für Henriette in Trier statt. Sie wurde auf dem protestantischen Friedhof begraben. Mutter Henriette hinterließ den vier übriggebliebenen Kindern ein stattliches Erbe. Karls Anteil wurde zum Großteil zur Schuldentilgung bei Onkel Lion verwendet.
Autor: Sebastian Fobbe
Erstellt: 2019