Miep Gies im Jahr 1987
Miep Gies im Jahr 1987
Geschichte - Personen A-Z

Hermine (Miep) Gies

*geb. 15. Februar 1909 in Wien - † 11. Januar 2010 in Hoorn (Provinz Nord-Holland) - Anne Frank-Vertraute

Die Frau, die zwischen 1942 und 1944 mit drei weiteren Helfern versucht hatte, die Familie Anne Franks und andere jüdische Verfolgte vor den Nationalsozialisten zu retten, bekam bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 regelmäßig zahlreiche Briefe von Lesern des Anne-Frank-Tagebuchs aus aller Welt. Besonders aufgrund der Veröffentlichung des Tagebuchs wurde Miep Gies, weit über die Grenzen des Landes hinaus, zu einer Symbolfigur von Widerstand und aktiver Mitmenschlichkeit im Zweiten Weltkrieg.

Miep Gies, die sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne ein Jahrhundertleben geführt hat, wurde 1909 als Hermine Santruschitz im Wien der späten Donaumonarchie geboren. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und wurde 1920 im Rahmen eines Projekts zur Unterstützung  an Unterernährung leidender Kinder ins niederländische Leiden (Provinz Süd-Holland) geschickt. Mit ihrer dortigen Gastfamilie, zu der sie ein inniges Verhältnis entwickelte und in der sie den Spitznamen ‚Miep‘ erhielt, zog sie 1922 nach Amsterdam. 1933 wurde sie Sekretärin in der Amsterdamer Filiale der deutschen Lebensmittel-Firma Opekta (Prinsengracht 263), deren Geschäftsführer Otto Frank, der Vater Anne Franks war. Es entstand eine enge Freundschaft zur Familie Frank.

Santruschitz, die der Politik der Nationalsozialisten von Anfang an ablehnend gegenüberstand, weigerte sich nach Einmarsch der deutschen Truppen in die Niederlande einer niederländischen NS-Frauenpartei beizutreten und sollte deshalb zur Rückkehr in ihr Heimatland Österreich, dessen Pass sie immer noch besaß, gezwungen werden. Ihre einzige Möglichkeit dieser Quasi-Abschiebung zu entgehen, lag in der Eheschließung mit einem niederländischen Staatsangehörigen. Am 16. Juli 1941 heiratete sie Jan Gies, der, wie sie, seit 1933 für Otto Frank in der niederländischen Opekta-Niederlassung tätig war. So wurde die Österreicherin Helene Santruschitz zur Niederländerin Miep Gies. Die Ehe mit Jan Gies dauerte 52 Jahre – bis zu seinem Tod im Jahr 1993.

Im Frühjahr 1942 – die Gefahren für die jüdische Bevölkerung der Niederlande zeichneten sich immer stärker ab – setzte Otto Frank Miep Gies von seinem Plan in Kenntnis, sich gemeinsam mit seiner Familie und einer weiteren jüdischen Familie im Hinterhaus an der Prinsengracht 263 zu verstecken. Er fragte sie, ob sie bereit sei, die Untergetauchten täglich mit Nahrungsmitteln und anderen Bedarfsgütern zu versorgen und sie willigte sofort ein. Miep Gies, Bep Voskuijl, Johannes Kleiman und Victor Kugler – allesamt Angestellte der Opekta – versorgten die vierköpfige Familie Frank, die dreiköpfige Familie Van Pels und den Zahnarzt Fritz Pfeffer über zwei Jahre lang mit Lebensmitteln, regelten finanzielle Aspekte und sorgten dafür, dass das Versteck im Hinterhaus niemandem bekannt wurde. Jan Gies konnte aufgrund seines Kontakts zur Stadtverwaltung und zum Widerstand lebenswichtige Lebensmittelmarken besorgen. Alle Beteiligten hofften, das Versteck bis zum Ende des Krieges aufrechterhalten und die jüdischen Bewohner so vor dem sicheren Tod retten zu können. 

Doch es kam alles anders. Am 4. August betraten Gestapobeamte unter der Leitung des SS-Oberscharführers Karl Silberbauer die Büroräume der Opekta und setzen zunächst alle beteiligten Helfer fest. Die Gesuchten und die Helfer Kleiman und Kugler wurden deportiert. Von den Untergetauchten überlebte nur Anne Franks Vater Otto, die beiden deportierten Helfer kehrten kurze Zeit später zurück: Kleiman wurde aus gesundheitlichen Gründen im September 1944 aus der Lagerhaft entlassen, Victor Kugler kehrte nach Kriegsende im Mai 1945 nach Amsterdam zurück. Bep Voskuijl hatte sich davonschleichen können. Miep Gies kam der Umstand zu Hilfe, dass es sich bei SS-Oberscharführer Silberbauer – ebenso wie bei ihr – um einen gebürtigen Wiener handelte, der seiner ‚Landsmännin‘, wie Miep Gies selber später aussagte, wohl ‚aus persönlicher Sympathie‘ erlaubte, im Büro zu bleiben, solange sie versprach, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. 

Nach der Entdeckung der Untergetauchten, die wahrscheinlich einem gezielten Verrat eines Unbeteiligten an die deutschen Stellen zum Opfer gefallen waren, gelang es Miep Gies, den Betrieb als provisorische Geschäftsführerin fortzuführen. Ab September 1944 übernahm der inzwischen aus der Haft zurückgekehrte Johannes Kleiman wieder die Geschäftsführung. Nach Kriegsende kehrte Otto Frank als einziger Überlebender der ehemaligen Bewohner des Hinterhauses zurück. Er verbrachte die nächsten Jahre bei Jan und Miep Gies bevor er 1952 in die Schweiz emigrierte. Das Tagebuch seiner Tochter Anne, das Miep Gies von der Deportation bis zu Otto Franks Rückkehr in ihrem Büroschreibtisch verwahrt hatte, wurde auf Drängen einiger Freunde Otto Franks veröffentlicht und erreichte noch im Erscheinungsjahr mehrere Auflagen. Miep Gies überwand ihre Ängste, es zu lesen, erst einige Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen.

1947 gab Miep Gies ihre Stellung bei der Opekta auf und widmete sich ganz dem Haushalt mit ihrem Mann Jan und Otto Frank. Im selben Jahr besuchten das Ehepaar Gies und Otto Frank die Schweiz, wo Frank zum ersten Mal seit Kriegsbeginn seine Mutter wiedersah. 1950 bekam das Ehepaar Gies einen Sohn – Paul. Die Familie besuchte Otto Frank nach seiner Emigration regelmäßig, bis zu seinem Tod 1980 in der Schweiz.

Miep und Jan Gies lebten gemeinsam bis zu Jans Tod im Alter von 87 Jahren im Jahr 1993. Die restlichen Jahre ihres Lebens verbrachte Miep Gies in ihrem Haus in Hoorn (Provinz Nord-Holland). Sie verstarb am 11. Januar 2010 100jährig und nach kurzer Krankheit in einem Pflegeheim in Hoorn.

Miep Gies wurde, ebenso wie Anne Frank und ihre Leidensgenossen, einem Millionenpublikum bekannt. Über 25 Millionen Menschen weltweit sollen das Tagebuch gelesen haben. Zudem gibt es vier Verfilmungen (1959, 1987 und zweimal 2001) desselben. Für ihr mutiges und selbstloses Engagement erhielt sie, die sich selbst nie als Heldin gesehen hat, zahlreiche renommierte Auszeichnungen: 1972 den Ehrentitel ‚Gerechte unter den Völkern‘ des Staates Israel (zusammen mit ihrem Mann), 1990 die Raoul-Wallenberg-Medaille  für außerordentliche Beiträge im Bereich der Menschenrechte, 1994 das Bundesverdienstkreuz I. Klasse der Bundesrepublik Deutschland und 1995 den niederländischen Verdienstorden ‚Ritter des Orden von Oranien-Nassau‘.  In zahlreichen Dokumentarbeiträgen erzählte sie ihre Erlebnisse mit der Familie Frank und das Versteck in der Prinsengracht und trat als Augenzeugin für die Geschichte der nationalsozialistischen Besatzungszeit und Judenverfolgung Rede und Antwort.

2011 wurde im zwölften Wiener Stadtbezirk Meidling ein Park nach Miep Gies benannt – er liegt nur wenige Schritte von dem Wohnhaus entfernt, in dem Miep Gies 1909 als Hermine Santruschitz das Licht der Welt erblickte. 

Autor: Christian Kuck
Erstellt: Oktober 2011