RECHT: EU-Gericht urteilt: Auslieferungen nach Polen dürfen nicht gestoppt werden
Luxemburg, SW/NRC/VK, 18. Dezember 2020
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem Urteil am Donnerstag entschieden, dass die Auslieferung polnischer Verdächtiger und Verurteilter eines Gerichtsverfahrens nicht durch die niederländische Justiz gestoppt werden dürfe. Diese hatte in den letzten Monaten, aus Sorge vor „strukturellen und fundamentalen Mängeln“ des polnischen Rechtsstaats, von einer Überführung der betroffenen Personen abgesehen.
Die Internationale Rechtshilfekammer des Gerichts in Amsterdam, die über alle Auslieferungen von Bürgern anderer Staatsangehörigkeit in den Niederlanden entscheidet, hatte die europäische Instanz aufgrund von Bedenken angerufen, dass ein fairer Prozess durch die bröckelnde Unabhängigkeit der Richter in Polen nicht mehr gewährleistet sei. Die konservativ-nationalistische Regierung hatte dort in den letzten Jahren umfassende Reformen durchgeführt, indem Gerichtspräsidenten ersetzt und Kritik äußernde Richter sanktioniert wurden, während man die Justiz auch im Allgemeinen einer Politisierung unterwarf. Deshalb wurden im Sommer die Auslieferungen nach Polen, die mit jährlich etwa 280 Personen etwa einen Drittel aller Fälle ausmachen, unterbrochen.
Die europäischen Richter kamen nun aber zum Entschluss, dass den Haftbefehlen anderer EU-Mitglieder grundsätzlich immer zu folgen sei, wenn die individuelle Prüfung des Falls kein anderes Ergebnis zulasse. Eine Weigerung zur Auslieferung sei nur dann erlaubt, wenn ein Verdächtiger einer „realen Gefahr unterlaufen wird, dass sein Recht auf einen ehrlichen Prozess verletzt wird.“ Nicht ganz unerheblich war das Urteil auch für die in Polen unabhängig gebliebenen Richter. Hätte der Gerichtshof die dortigen richterlichen Instanzen durch sein Urteil nicht mehr anerkannt, wären sie ebenfalls ihrer Möglichkeit beraubt worden, auf das EU-Gericht zurückzugreifen. Dies hatte allerdings den Reformprozess in ihrem Land in den letzten Jahren zumindest teilweise abbremsen können. Auch eine andere Folge bleibt indes aus: die Niederlande werden kein Zufluchtsort für polnische Kriminelle, was die EU-Richter als ein „großes Risiko“ einschätzten.
Damit bleibt der eigentliche status quo erhalten. Wenn ein Gericht eine Auslieferung unterbinden will, muss es beweisen, dass ein ehrlicher Prozess im Herkunftsland des Verdächtigen ausbliebe. Dies ist jedoch höchst kompliziert: durch den möglichen Gang durch höhere Instanzen ist die Einberechnung aller in Frage kommenden Gerichte nur schwerlich machbar. Hinzu kommt, dass Auskünfte von polnischer Seite zu niederländischen Fragen, nicht erst durch eine kürzlich getätigte Initiative des Justizministeriums, dürftig ausfallen oder gar nicht erfolgen.
Dass nun der Strom an Auslieferungen von Amsterdam aus wieder beginnt, ist damit aber noch nicht gesagt. Die Möglichkeit, individuelle Prüfungen anzustellen, gibt den Gerichten noch immer einen Spielraum. Die Verantwortlichen der Amsterdamer Justiz erklärten, das Urteil aus Luxemburg untersuchen zu wollen.