GESUNDHEIT: Ärzte bekommen mehr Ermessensspielraum bei Euthanasie an Demenzkranken
Den Haag, SW/NRC/VK, 20. November 2020
Die Hürden für eine Euthanasie an Demenzerkrankten werden in den Niederlanden herabgesetzt. Ärzten wird zukünftig eine größere Entscheidungsgewalt darüber eingeräumt, ab wann dem Todeswillen des Patienten nachzukommen ist. Der Neuregelung geht ein Urteil des obersten niederländischen Gerichtshofs vor.
Den neuen Leitfaden für Mediziner machten die regionalen Prüfungskommissionen für Euthanasie am Donnerstagabend bekannt. In ihm sind vier Reformen mit angepassten Beurteilungskriterien enthalten, die Ärzten mehr Kompetenzen bei der Sterbehilfe zuschreiben.
Eine schriftliche Willenserklärung des Patienten muss so nicht mehr juristisch eindeutig sein. Das Dokument, in dem die Person aufgrund ihres aussichtlosen und untragbaren Leidens um die Beendigung ihres Lebens bittet, kann in manchen Fällen in unterschiedlicher Art und Weise interpretiert werden. Der Medikus erhält nun aber die Möglichkeit, „alle Umstände“ der Situation mit einzubeziehen und beispielsweise auch die Belange der Angehörigen in seine Entscheidung zu integrieren. Er fällt das Urteil darüber, inwieweit die Lebensqualität des Einzelnen beeinträchtigt ist.
Kurz vor dem letzten Akt hat der Mediziner darüber hinaus nicht weiter die Pflicht, den dementen und willensschwachen Erkrankten um ein mündliches Einverständnis zu bitten. „So ein Gespräch ist sinnlos, weil bei einem solchen Patienten das Verständnis für solche Themen fehlt“, heißt es in dem Leitcode der Prüfungskommissionen. Anschließend daran ist der Arzt schließlich auch berechtigt, seinem Patienten ein Schlafmittel vor der Euthanasie zu verabreichen, ohne eine Willensbekundung einzuholen. Die Voraussetzung hierfür ist es aber, dass ein unruhiges oder aggressives Verhalten der Person zu erwarten ist.
„Ärzte brauchen sich nun weniger Sorgen zu machen, dass sie sich mit einer Euthanasie eine Schlinge um den Hals legen“, sagt der Vorsitzende der fünf Prüfungskommissionen, Jacob Kohnstamm. Im Falle der ehemaligen Pflegehausmedizinerin Marinou Arends reagierte das Aufsichtsorgan Kohnstamms noch anders. 2016 führte sie eine Sterbehilfe an einer Patientin aus, die die Prüfungskommission negativ beurteilte, weshalb Arends im Folgenden des Mordes beschuldigt wurde und erst in letzter Instanz durch den Hohen Rat, das oberste niederländische Gericht, im April dieses Jahres freigesprochen wurde.
Die Causa durchlief die Medien auch unter dem Namen „Kaffee-Euthanasie“, weil Arends ihrer Patientin Schlafmittel in deren koffeinhaltiges Getränk mischte, um Widerstand der dementen Frau gegen die tödliche Infusion zu verhindern. Die später Angeklagte befürchtete, dass ihre Patientin den Vorgang nicht mehr als ihrem ursprünglich Willen entsprechend einordnen würde. Diese hatte ihren letzten Wunsch zuvor in einer schriftlichen Erklärung festgehalten, die von Arends als Rechtfertigungsgrundlage für ihr Handeln genutzt wurde. Das Gerichtsurteil bewog die Prüfungskommissionen zum nun erfolgten Umdenken und der Anpassung ihres Leitfadens.