Nachrichten Juni 2017
UMWELT: Der Aufstand der Tierärzte: "Das ist kein Tierwohl"
Den Haag. SB/NRC 28. Juni 2017.
Zwischen 2013 und 2015 filmte und dokumentierte der Tierarzt Thiadrik Blom den Alltag in niederländischen Schlachthäusern. Obwohl die Niederlande international als Führungsland mit hohen Standards in diesem Sektor gelten, zeigen die Bilder erschreckende Regelverstöße am laufenden Band. Was die Sache besonders pikant macht: Die staatliche Behörde, der Blom unterstellt ist, versetze den kritischen Tierarzt nach jeder Beanstandung, ohne das Fehlverhalten der Schlachthofbetreiber zu belangen. Nun haben 70 Tierärzte eine Denkschrift unterschrieben, in der sie ihre Solidarität mit Blom ausdrücken und für einen fundamentalen Wandel bei der Massentierhaltung plädieren.
„Die niederländische Massentierhaltung (auf nl.: intensieve veehouderij) wird häufig als vorbildhaft für den Rest der Welt bezeichnet. Unsere Produktionsmethoden sind effizient und dem Tierwohl wird mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht als in anderen Ländern. Aber dass es irgendwo anders auf der Welt schlechter ist, ist noch lange kein Grund zur Zufriedenheit. Es gibt absolute Mindestbestimmungen für das Wohl der Tiere und nicht mal denen wird in unserer gängigen Tierhaltungspraxis entsprochen. Als „Führungsland“ und als einer der großen Produzenten von Fleisch und Milchprodukten sollten die Niederlande mit Bezug auf Nachhaltigkeit und das Tierwohl nach einer Vorbildfunktion streben. Deswegen plädieren wir für einen fundamentalen Wandel der Massentierhaltung.“
Unter diesem abschließenden Satz der gestern veröffentlichten Denkschrift stehen 70 Unterschriften von niederländischen Tierärzten. Sie sind der Meinung, dass der eingeschlagene Weg des billig produzierten tierischen Massenguts nicht nur das Umwelt- und Klimaproblem verschärft, sondern auch das Wohl der Tiere untergräbt. Das Tier werde an die massenhafte Haltung angepasst und nicht andersrum. Die Ärzte prangern an, dass gesetzliche Regelungen in der täglichen Praxis nicht eingehalten würden. So sei es Usus, dass Tiere auf zu engem Raum gehalten würden, dass sie zu ihrer „eigenen Sicherheit“ verstümmelt würden und dass häufig die Betäubung vor der Tötung nicht richtig ausgeführt werde.
Die Kritik der Ärzte richtete sich dabei allerdings nicht primär gegen die Fleischproduzenten, sondern gegen die eigene Zunft. Denn viele Tierärzte, die dafür sorgen sollen, dass die Regelungen zum Tierwohl eingehalten werden, machten sich durch ihr Stillschweigen und ihre Duldung zum Komplizen der Billigproduzenten. Denn ohne ein Attest vom Tierarzt dürfen viele der verbotenen Praktiken (wie zum Beispiel das Kupieren von Schweineschwänzen) nicht durchgeführt werden. In der Praxis wird dieses Attest allerdings häufig standardmäßig ausgestellt. Die Tierärzte, die ihre Unterschrift unter der Denkschrift geleistet haben, betonen, dass für einen Tierarzt nur das Tierwohl entscheidend sein dürfe – finanzielle Interessen, Arbeitsplätze, der internationale Absatzmarkt und eine wachsende Weltbevölkerung, die nach billigen tierischen Produkten verlange, fielen nicht unter die Verantwortung eines Tierarztes: „Wir als Berufsgruppe müssen uns für das Tier einsetzen. Wir dürfen nicht länger schweigen, sondern wir müssen Widerstand leisten gegen die heutigen Praktiken bei denen jährlich Millionen von Tieren unter erbärmlichen Umständen gehalten, transportiert und geschlachtet werden.“
Der Hintergrund ist, dass der Fleischsektor wirtschaftlich stark umkämpft ist: „In diesem Sektor zählt aufgrund des Drucks vom Markt jede Sekunde. Supermärkte kämpfen um jeden Zehntel-Cent. Allzu kritische Tierärzte sind daher auf den Schlachthöfen nicht gern gesehen. Sie sind schlecht fürs Geschäft und viele Tierärzte haben sich den Gesetzen des Marktes gefügt und das nicht unbedingt so leichtfertig, wie es sich hier lesen mag. Hans Baaij, Direktor von der Stichting Varkens in Nood, sagt, dass kritische Tierärzte sogar schon von Drohungen berichtet haben. Außerdem würden die Beanstandungen durch den NVWA (Nederlandse Voedsel en Warenautoriteit) oft nicht verfolgt.
Aber wie kommt das? Schließlich wäre genau das die Aufgabe der NVWA. Ein genauerer Blick auf die Organisation kann hier Aufschluss geben. Die NVWA entstand Anfang 2012 durch eine Fusion aus der „Voedsel- en Waren Autoriteit“ (VWA), dem Algemeen Inspectiedienst (AID) und dem Plantenkundige Dienst (PD). Durch Lobbyismus innerhalb des Sektors wurde die Aufsicht im Agrarsektor und nicht innerhalb der „Volksgezondheit“ untergebracht. Kritiker bemängeln, dass sich hier die engen Bande zum kommerziellen Agrarsektor zeigten. Im Laufe der Jahre hat die Politik nämlich einige ihrer gesetzlichen Kontrollaufgaben an den Sektor outgesourct. Bereits 2013 hatte die damals politisch Verantwortliche Edith Schippers (VVD) konstatiert, dass „die NVWA im Moment nicht in der Lage sei, ihre Aufgaben angemessen zu erfüllen.“ Dabei ist die Kritik an der NVWA schon viel älter. Bereits seit 30 Jahren taucht sie sowie ihre Vorgängerinnen immer wieder in den Negativschlagzeilen auf. Lebensmittelskandale, verelendende Tiere und Tierkrankheiten erschütterten immer wieder den Sektor. Der größte Kritikpunkt ist im Moment die Betriebskultur bei der NVWA. Laut Hans Baaij ist ein Teil der angestellten Kontrolleure mit dem Sektor verwachsen. Der ehemalige Chef der AVWA Harry Paul hatte ihm im Vertrauen erzählt, dass das Tierwohl dort nicht als besonders wichtig erachtet würde. Es werde als „sentimentale Anstellerei“ abgetan. Und auch Bert van den Berg, Programmmanager „Veehouderij van de Dierenbescherming“, konstatiert, dass es noch zu lange daure, bis die NVWA in Aktion trete. Trotzdem seien auch Fortschritte zu erkennen. Nach der Enthüllung von einem Tiermisshandlungsskandal im belgischen Tielt hat Staatssekretär Van Dam (PvdA) ein Abkommen mit dem Sektor geschlossen. In allen Schlachthäusern sollen fortan Kameras hängen (lesen sie hier mehr darüber) . Bislang beruht dieses Abkommen allerdings auf der Freiwilligkeit der Betriebe, weshalb Bert van den Berg dafür plädiert, die Regelung gesetzlich festzuschreiben. Die Partij voor de Dieren und der CDA haben eine Debatte und eine schriftliche Reaktion in der Tweede Kamer über das Thema verlangt.
Wie grundsätzlich verkehrt es in dem Sektor in den Niederlanden zu laufen scheint, zeigt eine Vielzahl der Tierärzte, die sich kurz vor der Publikation der Denkschrift noch zurückgezogen hat. „Aus Angst vor möglichen Konsequenzen, die ihre öffentliche Unterstützung haben könnte.“ Dass diese Angst berechtigt ist, zeigt das Beispiel von Blom, der im Moment von der NVWA beurlaubt wurde.