Nachrichten Juni 2017
POLITIK: Eine Regierung braucht das Land IV - Das Dilemma der PvdA
Den Haag. SB/Trouw/NRC/VK 20. Juni 2017.
Fassungslosigkeit, Tränen, Schock. Nachdem die sozialdemokratische PvdA eine historische Niederlage bei den Parlamentswahlen eingefahren hatte, schien die Partei am Boden. Regieren? No way. Nun allerdings hat sich der Wind gedreht. Seit nunmehr 97 Tagen suchen VVD, CDA und D66 nach einem vierten Koalitionspartner. Die Sackgasse, in der die Koalitionsgespräche feststecken, bringt die PvdA wieder ins Gespräch. Parteichef Asscher befindet sich nun in einem echten Dilemma, während sein Parteikollege Paul Depla einen neuen Fahrplan für die Sozialdemokratie präsentiert.
Von 38 auf 9 Sitze war die PvdA bei den Parlamentswahlen vom 18. März abgestürzt. Es war eine desaströse Niederlage. Es war die Degradierung einer Volks- zu einer Splitterpartei, von denen die Niederlande wahrlich genug hat. Bei der PvdA war Wunden lecken angesagt. Es wurde kurzzeitig sogar eine Fusion mit GroenLinks erwogen. Lodewijk Asscher verkündete, man müsse nun erst einmal mit der Partei eine Durststrecke überwinden (lesen die hier mehr über die PvdA nach der Wahl). Er hat sicherlich Recht. Von den ehemals 70 Mitarbeitern müssen 50 gehen. Nächste Woche nimmt die Partei Abschied von ihnen. Der einst großzügige Fraktionssaal wurde geräumt. Den verbliebenen 9 Fraktionsmitglieder und ihren Mitarbeitern wurde das bescheidener ausfallende dritte Stockwerk zugewiesen.
Asscher hatte unmittelbar nach der Wahl eine Regierungsbeteiligung seiner Partei ausgeschlossen. „Get real“ war die lakonische Antwort auf Fragen, die auf eine Rolle der PvdA außerhalb der Opposition abzielten. Die PvdA hat vom Wähler kein Mandat bekommen, es blieb Asschers Mantra – bis jetzt. Die Optionen für ein Mehrheitskabinett sind beinahe ausgeschöpft. Nach beinahe 14 Wochen stehen die Niederlande immer noch ohne Regierung da. GroenLinks ist draußen, weil sich keine gemeinsame Linie bei der Flüchtlingspolitik finden ließ. Die SP will nicht mit der VVD koalieren und so bleibt nur noch eine Zweitauflage der Gespräche mit der ChristenUnie, die neuerlich am Widerstand von D66-Chef Alexander Pechtold scheitern könnte, oder eben die tot geglaubte PvdA. Was vor über drei Monaten niemand für möglich gehalten hat, wird immer wahrscheinlicher und dabei ist die Verhandlungsposition für die PvdA sogar durchaus privilegiert. Die VVD und der CDA sehnen sich nach dem Fiasko mit Jesse Klaver nach einem „kühlen“ und einigermaßen berechenbaren Verhandlungspartner und in dieses Profil passt Asscher definitiv. Und auch Pechtold, der in den letzten Jahren viel Kritik an der PvdA hatte, dürfte einiges dafür geben, Asscher an den Verhandlungstisch zu bekommen, um doch noch einen linken Gegenblock innerhalb der Regierung realisieren zu können, wie er es ursprünglich gerne mit GroenLinks gehabt hätte.
Noch letzte Woche hatte Asscher sein Mantra wiederholt, die PvdA sei nicht bereit, sich mit den drei Koalitionsgewillten an einen Tisch zu setzten, aber der Druck von außen nimmt angesichts der festgefahrenen Verhandlungen stetig zu und auch die Stimmung innerhalb der Partei hat sich gewandelt. Diejenigen, die der PvdA am 15. März ihre Stimme gegeben haben, sind in der Mehrheit für eine Regierungsbeteiligung. Das ergab eine Umfrage. Und auch lokale Parteivorsteher sprechen sich immer häufiger dafür aus, dass ihre Partei die Verantwortung des Regierens übernehmen solle. „Wir wissen aus Erfahrung, dass man einfach mehr zu sagen hat, wenn man mitmacht“, sagte Jop Fackeldey, der für die PvdA in Lelystad als Beigeordneter tätig ist. Es sei schließlich auch im nationalen Interesse, dass die Niederlande ein starkes Kabinett hätten.
Im innerparteilichen „pro-regieren“ Block geht man davon aus, dass es der Partei nachhaltig schaden könne, nun für Jahre in der Opposition zu verschwinden. Von außen nicht mehr wahrgenommen zu werden, unsichtbar zu sein. Vorzeige PvdA’er Jeroen Dijsselbloem wird der Eurogruppe schließlich nicht mehr lange vorsitzen und auch Eurokommissar Frans Timmermans wird sein Amt nur noch zwei Jahre lang ausüben. Zusätzlich stellten die Sozialdemokraten immer weniger Bürgermeister und so fürchten viele den Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Getriggert wird diese Befürchtung auch ganz bildhaft: Lodewijk Asscher sitzt im Plenarsaal nicht mehr in der ersten Reihe, wie es den Führern großer Fraktionen vorbehalten ist. Er muss sich mit der dritten Reihe zufriedengeben und die hämischen Sprüche der Kollegen über sich ergehen lassen: „Ich kann ihn kaum noch sehen, er sitzt da irgendwo mit seinen neun Stühlen, in die letzten Reihen verbannt“, stichelte Geert Wilders vom Rednerpult aus. Es muss schwer sein für eine Partei, die in der Nachkriegsgeschichte der Niederlande eine derart herausragende Rolle gespielt hat wie die PvdA.
Der „contra-regieren“ Block hingegen schätzt die Gefahr einer Koalition mit rechts als für die Partei gefährlicher ein als die „Unsichtbarkeit“. Sie sind davon überzeugt, dass man erst einmal neue Ideen kreieren, eine erkennbare Richtung einschlagen und sein Profil schärfen müsse. Dann sei eine Genesung der Partei eine logische Konsequenz, genauso wie es damals bei Sybrand Buma mit seinem CDA gewesen war. Abgesehen davon sei die Frage, ob die Partei überhaupt stabil genug zum Regieren sei, selbst wenn die es wollte. Und in der Tat, organisatorisch macht die Partei einen ungeordneten Eindruck. Viele kritisieren den Verbleib vom Parteivorsitzenden Hans Spekman. Spekman hatte seinen Rücktritt erst für Oktober angekündigt. Es wird befürchtet, dass die Partei so für die Gemeinderatswahlen im nächsten Jahr zu spät aus den Startlöchern komme. Auf lokalen Ebenen machen einige bereits jetzt, was sie für die Partei für richtig halten und warten nicht darauf, bis sich die Parteispitze wieder stabilisiert hat.
Es ist ein Dilemma, in dem die PvdA und vor allem ihr Fraktionsvorsitzender Lodewijk Asscher steckt. Regieren oder nicht regieren? Das ist hier die Frage. Vielleicht bleibt der PvdA die Wahl erspart, nämlich dann, wenn es mit der ChistenUnie doch klappen sollte. Erst wenn die Not bei der Regierungsfindung zum Drama wird, kann die PvdA als Retter in der Not auftreten und so ihr Gesicht wahren.