Nachrichten Januar 2017
WAHLKAMPF: Normaal. Doen - Offener Brief von Rutte schlägt hohe Wellen
Den Haag. SB/IPSOS/Trouw/VK/NRC. 27. Januar 2017.
Am Montag hat Premierminister Mark Rutte einen offenen Brief in gleich mehreren niederländischen Tageszeitungen veröffentlicht und damit eineinhalb Monate vor der Parlamentswahl einen echten Coup gelandet. Mit seinen provokanten Formulierungen hat er es sogar bis in die New York Times geschafft. In den Niederlanden stoßen seine Äußerungen teilweise auf heftige Kritik.
Mark Rutte ist seit dem 14. Oktober 2010 Premierminister der Niederlande und er will es auch nach den Wahlen am 15. März bleiben. Der Populismus schlägt in Europa große Wellen. So ist es auch Wilders PVV, die der VVD von Mark Rutte im Moment die größte Konkurrenz macht. Wären am 19. Januar Wahlen gewesen, hätten nach einer Umfrage vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos sowohl die VVD, als auch die PVV jeweils 27 Sitze im Parlament erhalten. Zum Vergleich: gegenwertig sind es noch 41 zu 15 Sitze für die VVD in der Tweede Kamer. Die Wahlkampfstrategie der VVD ist spätestens seit Ruttes „pleur op (hau ab) – Aussage“, die sich gegen einen türkischstämmigen Niederländer richtete, klar: Rutte fischt rhetorisch am rechten Rand, um der unliebsamen Konkurrenz die Wähler wieder abspenstig zu machen - denn die meisten PVV-Wähler kommen aus dem Lager der VVD. In seinem offenen Brief hat sich diese Wahlkampfrhetorik allerdings noch einmal deutlich gesteigert.
„Aan alle Nederlanders“ - „an alle Niederländer“, so leitet Rutte seinen Brief ein. „Wir fühlen ein wachsendes Unbehagen, wenn Menschen unsere Freiheit missbrauchen, während sie doch gerade für diese Freiheit in unser Land gekommen sind. Menschen, die sich nicht anpassen wollen, die über unsere Sitten herziehen und unsere Werte ablehnen. Die Homosexuelle belästigen, die Frauen in kurzen Röcken ausbuhen und ganz gewöhnliche Niederländer als Rassisten beschimpfen. Ich verstehe sehr gut, dass Menschen denken: Wenn du unser Land so sehr ablehnst, dann ist es mir lieber das du weggehst. Das Gefühl habe ich nämlich auch. Verhalte dich normal oder geh weg.“
Das ist nur einer von insgesamt acht Absätzen, die zu mindestens bei vielen Journalisten auf wenig Wohlwollen gestoßen sind. So schreibt Raoul du Pré in der Zeitung de Volkskrant, dass Rutte sich nun endgültig zu weit von Wilders habe runterziehen lassen. Margriet Oostveen schrieb ebenfalls in de Volkskrant, dass wenn „normaal doen“ zur Voraussetzung würde, um dazugehören zu dürfen, alle Weichen zur Unterdrückung gestellt seien. In den Niederlanden ist „normaal doen“ ein geflügelter Ausdruck. „Doe eens normaal dan ben je gek genoeg“ (verhalte dich normal, dann bist du schon verrückt genug) hat wahrscheinlich jeder Niederländer schon einmal gehört. Sich anpassen, nicht weiter auffallen, das ist tief verwurzelt in der calvinistischen Kultur unserer Nachbarn, was allerdings noch lange nicht heißt, dass jeder Niederländer den Spruch auch mag. Dieses „normaal doen“ ist für Oostveen nicht weniger als ein populistisches Lockwort, genauso gefährlich wie „das Volk“, auf das sich alle Populisten so gerne berufen. Kolumnist Stephan Sanders erklärt in derselben Zeitung „Normaal. Doen“ zum schlechtesten liberalen Motto aller Zeiten. Er drückt seinen Hohn satirisch aus, indem er beschreibt, er habe am Morgen einen gutgekleideten, aufrechtsitzenden Marokkaner im Zug gesehen, der Groskamp gelesen habe. Das sei doch nicht normal! Aber abseits von Hohn, Spott und Entsetzen, wagen die Niederländer auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den provokanten Zeilen ihres Premiers. Zum Beispiel wird einer der Begründer des Liberalismus, John Stuart Mill, zitiert und erklärt, warum im liberalen Sinne „Normaal. Doen“ keine fruchtbare Politik nach sich ziehen könne. Und auch andere Philosophen werden bemüht, um die Frage zu klären was in einer Gesellschaft denn eigentlich wichtiger ist: Normalität oder individuelle Freiheit.
Die Reaktionen aus anderen Parteien fallen, wohl nicht ganz unerwartet, weniger differenziert aus. Der Spitzenkandidat der PvdA, Lodewijk Asscher, der die letzten Jahre eng mit Rutte zusammengearbeitet hat, nannte Rutte eine schlechte Imitation eines Populisten. Er kritisierte den Wahlkampfopportunismus der VVD und sagte, dass dies Ruttes Glaubwürdigkeit mindere. Auch Sybrand van Haersma Buma vom CDA schrieb auf Facebook, dass er Rutte für vollkommen unglaubwürdig halte. Geert Wilders meldete sich mit einem Video zu Wort: „Vier Jahre Mark Rutte an der Spitze, bedeutet jeden Tag ein Stück weniger Niederlande.“
Der öffentliche Brief, dem jede Dringlichkeit abzugehen scheint, war ein in die Wahlkampagne eingebettetes und akribisch vorbereitetes Kabinettsstückchen der VVD. Die Partei machte einen ganzen Kampagne-Montag aus dem offenen Brief. Am Morgen trat Verteidigungsministerin Jeanine Hennis-Plasschaert bei „Goedermorgen Nederland“ vor die Kameras und erklärte, warum Rutte diesen Brief geschrieben hatte. Am Abend präsentierte sich der Premier dann höchstpersönlich bei RTL Late Night, um Rede und Antwort zu stehen. Womit die Kampagne-Macher der VVD wohl aber nicht gerechnet haben ist, dass es der Brief sogar über den Atlantischen Ozean bringen würde. Zum ersten Mal seit der Amerikanischen Unabhängigkeit im Jahre 1776 wurde in einer Amerikanischen Tageszeitung ein Brief von einem niederländischen Parteiführer veröffentlicht. „Dutch Leader, Challanged by Populist, Seems to Borrow Trump Stategy“, titelte die New York Times. Für Geert Wilders wäre ein solcher Vergleich vermutlich höchst schmeichelhaft gewesen, für Rutte darf man das wohl eher bezweifeln.
Mark Rutte richtete sich in seinem Brief an „alle Niederländer“, aber aus den acht Absätzen wird deutlich, dass er sich eigentlich nur an eine bestimmte Gruppe richtet. Nämlich an diejenigen, die sich an den nicht-westlichen Einflüssen stören - „eine stille Mehrheit“. Es ist verständlich, dass Rutte keine zwei Monate vor den Wahlen Stimmen von Wilders abfangen will, aber dann bitte nicht so plump und infantil, das meint zu mindestens Sylvain Ephimenco, Kolumnist der Zeitung Trouw. Wie die VVD mit ihrer Kampagne letzten Endes wirklich fährt, werden wir spätestens am 15. März erfahren. Bis dahin: Normaal doen alsjeblieft.