Nachrichten Januar 2017
NATUR: Die niederländische "Wildnis" in Gefahr
Flevoland. SB/Trouw/VK/NRC. 09. Januar 2017.
Die Oostvaardersplassen zwischen Almere und Lelystad beherbergen große Weidentieren wie Rinder, Pferde und Hirsche. Das Besondere? Die Huftiere leben hier in absoluter Freiheit. Das 5.400 Hektar große Gebiet ist das Symbol für Wildnis in den dichtbesiedelten und sonst so urbanen Niederlanden. Diese Naturbelassenheit könnte nun allerdings bald ein Ende finden. Vertreter der SGP und der VVD in Flevoland wollen das Gebiet für den Tourismus zugänglicher machen. Dafür müsste allerdings eine große Anzahl der großen Grasfresser sterben.
„Nirgendwo anders in Europa sieht man große Huftiere durcheinander und in Freiheit lebend. Und jetzt sollen sie zu Gunsten des Tourismus abgeschossen werden. Das ist doch zu verrückt um wahr zu sein.“ So kommentiert Frans Vera die Pläne der flevoländischen Politik. Der 67-jährige Vera ist so etwas wie der „geistige Vater“ des Naturgebietes und immer zur Stelle, wenn er das Reservat in Gefahr wähnt. Sein Engagement verwundert nicht. 30 Jahre lang hat der Ökologe auf dem Gebiet der Oostvaardersplassen ein eigenes Ökosystem aufgebaut. Heute, anderthalb Jahre nach seiner Pensionierung, leben rund 2700 Weidentiere auf diesem Land. Darunter vor allem Rothirsche. Im Winter sind es sogar bis zu 4000 Tiere.
Im Jahr 2014 hatte das Gebiet noch 900.000 Besucher angezogen. Damals hatte der Erfolgsfilm „De Nieuwe Wildernis“ (dt.: die neue Wildnis) gerade Prämiere gefeiert. Ein eindrucksvoller Naturfilm, der die vier Jahreszeiten in dem Naturgebiet in Flevoland verbildlichte. Danach allerdings hat der Tourismus immer weiter abgenommen. Der SGP und der VVD ist das schwer zugängliche Naturgelände ein Dorn im Auge. Sie wollen aus dem Naturschutzgebiet ein „Etalagegebiet“ machen. Mehr Raum also für Besucher, Fahrrad- und Wanderwege, Hotels, Lodges, Wochenendhäuser: „Was wir wollen ist ein touristisches Gebiet“, so Sjaak Simonse von der SGP. Mehr Raum für Besucher, das bedeutet aber auch weniger Raum für die großen Wildtiere. Experten müssten dann ausrechnen, wie viele der Tiere die Provinz genau zum Abschuss frei geben müsste.
Einen konkreten Plan zur Umsetzung gibt es zwar noch nicht, aber Vera fürchtet, dass dem Antrag ein Verwirklichungskonzept zu Grunde liegen könnte, welches 2016 von der Staatsbosbeheer (staatlichen Forstverwaltung) ausgearbeitet worden ist. Diese nicht veröffentlichte Landschaftsvision sieht vor, einen Teil des Graslandes unter Wasser zu setzen. Auf dem so entstehenden Morastland könnten dann touristische Unterkünfte entstehen. Vera sieht in der Erhöhung des Wasserspiegels einen klaren Verstoß gegen „Natura 2000“ - einen europäischen Plan zum Schutz von Naturschutzgebieten: „Im Verwaltungsplan für die Oostvaardersplassen steht klar, dass die Fläche an Grasland nicht kleiner werden darf. Sollten die SGP und die VVD diesen Plan trotzdem vorschlagen, dann übertreten sie damit das Gesetz.“ Simonse von der SGP streitet diesen Vorwurf ab. Er behauptet nicht einmal mit dem Inhalt dieses Planes vertraut zu sein.
Vera bleibt dennoch misstrauisch. Er warnt öffentlich vor einem Domino-Effekt der zwangsläufig eintrete, wenn die Anzahl der Tiere stark dezimiert würde. Wenn es weniger große Grasfresser gäbe, wachse das Gras, bis es für die immer wiederkehrenden Graugänse nicht mehr zugänglich wäre. Die Abwesenheit der Gänse, die sich vorwiegen von Schilf ernähren, würde wiederum dazu führen, dass der Morast völlig zuwächst und so weiter, und so weiter: „An einem Ökosystem herumfummeln geht nicht einfach so […] Wenn man die großen Grasfresser schießt, fällt das Ökosystem auf den Oostvaardersplassen in sich zusammen.“
Tiere abschießen um des Tourismus und des schnöden Mammons willens, wäre vermutlich kein besonders populärer Vorschlag und würde wahrscheinlich nicht sonderlich gut bei großen Teilen der Bevölkerung ankommen. Aber wie das meiste hat auch dieser Fall zwei Seiten. Seit der Ausstrahlung des oben erwähnten Films sind die Oostvaarderseplassen nämlich zur nationalen Frage geworden. Sie sind wohl das am heftigsten diskutierte Stück Land in den Niederlanden. Denn gerade im Winter leben die Tiere unter „kummervollen Umständen.“ Rund ein Drittel der Tiere überlebt den Winter nicht, da es an Nahrung fehlt. Stark geschwächte Tiere werden von Förstern erschossen. „Wir müssen wegkommen von den krepierenden Tieren. Das Wohlbefinden der Tiere ist nicht gewährleistet. Es muss etwas passieren.“, sagt Jan de Reus von der VVD. Die Partij voor de Dieren und GroenLinks finden diese Argumentation heuchlerisch. Schließlich haben sich beide Parteien nie wirklich für die Belange der Tiere und Biodiversität interessiert. Leonie Vestering von der PvdD glaubt, dass es der SGP und der VVD wohl eher um den Lelystad Airport gehe, dessen Interessen von dem Naturschutzgebiert berührt werden. Susan Bonekamp, eine Mitarbeiterin der Forstverwaltung sagt, dass jährlich zwar tatsächlich 30% der Population sterben, dies aber ein normaler Wert im Vergleich mit ähnlichen Naturgebieten sei. Trotzdem: Die Initiativnehmer Sjaak Simonse und Jan de Reus gehen davon aus, dass 36 der 42 statenleden den Antrag unterstützen werden.
Auch ein anderer Punkt spielt noch in die Diskussion mit rein. Ist die Natur der Oostvaardersplassen echte Natur? Ehrlicherweise muss die Antwort hier „nein“ lauten. Bei den Oostvaardersplassen handelt es sich um ein umzäuntes Gelände. Die Tiere können nirgendwo anders hin, sie haben auch keine natürlichen Feinde. Aber das ist unwichtig: das Gebiet hat einen kulturellen Status als Wildnis. Der Wert der Oostvaardersplassen liegt darin, dass sie zum symbolischen Gegengewicht für ein Land geworden sind, indem alles benutzt werden muss, um Geld damit zu verdienen. Die „Urnatur“, auch wenn es eigentlich keine ist, lehrt den Menschen Bescheidenheit. Nicht alles auf der Welt dient dem Zweck von uns Menschen gebraucht und gezähmt zu werden. So zitiert die Zeitung Trouw den amerikanische Ökologen Eric Katz. Jetzt, so ergänzt der Autor des Artikels, müssten die Oostvaardersplassen noch nicht schön, oder nützlich, oder nett sein und genau darum könnten sie in den stets auf den Nutzen ausgerichteten Niederlanden eine andere Perspektive liefern. Mit der Umsetzung des Planes von der SGP und der VVD würde das Gebiet seine moralische Funktion einbüßen. Vorläufig allerdings ändert sich noch nichts. Die Provinzregierung von Flevoland hat noch bis Juni Zeit, um mit einem Plan zu kommen.