Nachrichten August 2017


POLITIK/GESELLSCHAFT: Schulfach 'Nationalhymne' - Die Wilhelmus-Diskussion

Den Haag. Franziska Seufert/VK/NRC/Trouw. 18. August 2017.

In den Niederlanden sind in den letzten Tagen wiederholt Themen und Details aus dem von den Parteien diskutierten Entwurf des Koalitionsvertrages an die Öffentlichkeit gelangt. Schon seit März diesen Jahres verhandeln die potenziellen Koalitionspartner der neuen niederländischen Regierung über Möglichkeiten und Inhalte ihrer Zusammenarbeit. Wenn es um diese Koalitionsverhandlungen geht, denkt man jedoch nicht unbedingt zuerst an eine Diskussion über verpflichtenden Schulunterricht über die Nationalhymne. Doch genau dieses Thema ist zu einem viel diskutierten Aspekt geworden: Wissen niederländische Kinder und Jugendliche genug von der nationalen Geschichte ihres Landes oder wird derzeit zu wenig darin unterrichtet?

Die niederländische Nationalhymne ist das sogenannte ‚het Wilhelmus‘-Lied. Dieses Volkslied besteht aus fünfzehn Strophen von denen, je nach Anlass, ein oder zwei Strophen als Hymne gesungen werden. Geschrieben und getextet im 16. Jahrhundert für Wilhelm I. von Oranien-Nassau, ist es jedoch offiziell erst seit 1932 die Nationalhymne. Der Vorsitzende der Vereniging van docenten Geschiedenis en staatsinrichting in Nederland (VGN – Verband der Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer in den Niederlanden), Ton van der Schans sagt: „Das Lied ist ein ausgezeichnetes historisches Dokument – ein Schlüssel, um die gesamte Periode der niederländischen Geschichte zu öffnen.“ Es beantworte Fragen wie: „Wie war das noch gleich mit Willem van Oranje?“, „Woher kommt das deutsche Blut?“ oder „Wer war der König von Spanien?“ Van der Schans arbeite selbstverständlich im Unterricht mit ‚het Wilhelmus‘ und würde es auch manchmal mit den Schülern singen.

Am Mittwoch, den 16. August, berichteten die niederländischen Medien von der Wilhelmus-Diskussion, nachdem die Tageszeitung AD einige Dokumente einsehen konnten, die wohl durch eine der verhandelnden Parteien zugespielt worden waren. Daraus ginge hervor, dass laut den Parteien der beabsichtigten Regierung Schulen einen größeren Fokus auf „Elemente die von Belang für die nationale Identität sind“ legen müssen, wie zum Beispiel auf die Nationalhymne und das Grundgesetz. Der Plan laute wie folgt: In den Schulen soll die Nationalhymne mitsamt Text, dessen Bedeutung, Melodie und geschichtlichem Hintergrund verpflichtend gelehrt werden. Außerdem soll überlegt werden jedem Niederländer zu seinem 18. Geburtstag ein Buch über die niederländische Geschichte zu schenken und Praktika im gesellschaftlichen und sozialen Bereich sollen eingeführt werden.

Bei den Plänen für einen Wilhelmus-Unterricht handelt es sich offenbar schon um einen Kompromiss, denn Parteichef Sybrand Buma der CDA (Christen Democratisch Appèl) soll sich zu Zeiten des Wahlkampfes dafür ausgesprochen haben, dass die Hymne in den Schulen verpflichtend im Stehen gesungen werden solle. Alexander Pechthold, Parteichef der D66, hatte dies dagegen für lächerlich befunden, sodass der theoretische Unterricht über het Wilhelmus eine Einigung der Koalition ist, wie auch ein Insider bestätigt haben soll.

Niederländische Lehrer versprechen sich wenig von den Plänen der Politiker. Nicht nur Ton van der Schans lehrt bereits über das Lied. Auch Geschichts- und Gesellschaftskundelehrer Jasper Rijk hält es für ganz natürlich het Wilhelmus in seinen Unterricht mit einzubeziehen. Der Aufstand der niederländischen Provinzen gegen König Filip II. von Spanien wäre sowohl in der Unter- als auch in der Oberstufe Teil des Lehrplans. Rijk singe zwar nicht mit seinen Schülern, findet es aber befremdlich, „dass Politiker immer wieder verlangen Unterrichtsthemen Beachtung zu schenken, die schon im Lehrplan stehen“. Dies sei in Bezug auf den Holocaust gesagt worden und jetzt das Wilhelmus-Lied und das Grundgesetz. Die Lehrer beklagen, dass dadurch die Schulen in schlechtes Licht gerückt werden, obwohl die Themen für Geschichts- und Gesellschaftskundelehrer schon höchste Priorität haben.

Kritik kam auch von Seiten der Hochschullehrer: Hanneke Tuithof, Universitäts-Geschichtsdozentin, möchte auch gerne wissen, was das Ziel der Politiker ist, mit solchen Forderungen. Da die Nationalhymne und das Grundgesetz schon Teil des Unterrichts sind, hat sie das Gefühl, dass Geschichte eingesetzt werde um eine Niederländische Identität zu formen. „Denken [die Politiker], dass man sich mehr als Niederländer fühlt, nur weil man das Lied singt oder versteht?“, fragt Tuithof. Ihr zufolge denken viele Lehrer, dass sowieso schon zu viel Nachdruck auf nationale Geschichte gelegt wird, während andere Kulturen und Sichtweisen zu kurz kommen.

In der niederländischen Tageszeitung De Volkskrant wirft ein Artikel die Frage auf, ob es sich dann hierbei nur um Symbolpolitik handeln würde, „billigen Volksliedpopulismus“ sozusagen, der nationalistisch tendierende Wähler zufrieden stellen soll. Während Van der Schans vom VGN diese Gefahr nicht von der Hand weisen will, gibt es auch Instanzen die die angedachten Maßnahmen begrüßen würden. Hans Teunissen, Vorsitzender der Nederlandse Vereniging van Leraren Maatschappijleer (Niederländischer Verband von Lehrern der Sozialkunde) sieht dies als Zeichen, dass die potenzielle neue Regierung sich für ‚burgerschapsonderwijs‘ (Unterricht in Bürgerschaft/Bürgersein) einsetzt. Seiner Meinung nach reichen die Wochenstunden in Politik bzw. Sozialkunde an niederländischen Schulen nicht aus. Die Schüler würden im internationalen Vergleich teils hinter ihren Altersgenossen zurückstehen in ihrer Kenntnis von Grundgesetz, parlamentarischer Demokratie etc. Auch die angedachten Pflichtpraktika oder der Wehrdienst könnten ein Schritt in diese Richtung sein. Wenn dies durch die Aufmerksamkeit für die Nationalhymne entstehe oder mit ihr einhergehe, wäre es Teunissen genauso recht.

AD zufolge war es „auffallend“, dass Themen und Ausmaß der angedachten Maßnahmen, soweit in dem eingesehenen Vertragsentwurf erkennbar, besonders den Ideen der Parteien CDA und ChristenUnie entsprächen. Der Unterricht zum Wilhelmus-Lied und möglichst ausgeprägte Praktika oder Pflichtdienste stehen entgegen der eigentlichen Überlegungen der Parteien VVD und D66. Letztere hatten Unterrichtsthemen wie Kolonialismus und Sklaverei verpflichtend in den Lehrplan aufnehmen wollen und beide Parteien seien weniger begeistert von Pflichtpraktika und -diensten, zum Beispiel aus Kostengründen (VVD).

In einem Leserbrief wurde die Vermutung oder Hoffnung geäußert, dass es sich nur um einen Abstecher in die Gefilde patriotischer Politikgestaltung handelt und, dass die Diskussion eines solchen (vielleicht als weniger wichtig empfundenen) Themas wenigstens auf ein baldiges Ende der Koalitionsverhandlungen hindeutet. Der Autor einer Kolumne der Zeitung Trouw ist der Meinung, dass die Wahlkampagne zu einer Suche nach der Identität der Niederlande wurde. Seiner Meinung nach, hielten sich die Politiker krampfhaft an Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten fest. Ungeachtet dessen wie wichtig das Thema im Grunde sein mag, zeigt die Diskussion auf, wie mit kleineren oder spezifischen Aspekten die nationale Identitätsfrage in der Koalitionsbildung verbildlicht oder widergespiegelt wird – und das geht natürlich umso besser wenn es sich um ein nationales Kulturgut wie die Nationalhymne dreht.