Nachrichten August 2017
FORMATIE: Nach durchgesickertem Konzeptpapier: Der Optimismus weicht dem Misstrauen - wie geht es weiter mit VVD, CDA, D66 und CU?
Den Haag. SB/VK/NRC. 17. August 2017.
Fünf Monate ist es bereits her, dass die Niederländer gewählt haben, aber noch immer hat das Land keine Regierung. Nach vielen Gesprächen in den unterschiedlichsten Konstellationen scheint sich nun aber seit längerem eine neue Regierungskoalition abzuzeichnen. Eine „Liebesheirat“ wäre es zwar nicht, wenn VVD, CDA, D66 und CU sich zusammen tun, aber eine „Vernunftehe“ kann schließlich auch funktionieren. Der Optimismus bezüglich einer fruchtbaren Zusammenarbeit war in letzter Zeit immer größer geworden – bis zu diesem Dienstag. Denn an dem Tag veröffentlichte die niederländische Tageszeitung het Algemeen Dagblad ein geheimes Papier von Informateur Gerrit Zalm, auf dem unter anderem Kompromisse zu medizinisch-ethischen Fragen festgehalten wurden. Ausgerechnet das war von Anfang an ein Reizthema zwischen den christlichen und den progressiven Parteien. Der Optimismus ist wieder einmal dem Misstrauen gewichen. Werden die Parteien sich dennoch zusammenraufen?
Einige Zeit hatte es sehr gut ausgesehen für Mark Rutte (VVD), Sybrand van Haersma Buma (CDA), Alexander Pechtold (D66) und Gert-Jan Segers (CU), die vier Parteiführer der niederländischen Regierung in Spe. Am Dienstag allerdings hat ein durchgesickertes „Konzeptpapier“ das Lachen der Verhandelnden kurzfristig von ihren Gesichtern gefegt. Das Algemeen Dagblad hatte ein inoffizielles Dokument, indem es um Kompromisse zwischen den Parteien bezüglich medizinisch-ethischer Fragen ging, veröffentlicht und damit einige Unruhe in den bereits weit fortgeschrittenen Koalitionsverhandlungen verursacht.
Worum geht es bei diesen Fragen? Zum einen geht es um das Thema Sterbehilfe. In den Niederlanden wird seit längerer Zeit ein Vorschlag diskutiert, der vorsieht, dass ältere Menschen die Möglichkeit bekommen sollen, ihr Leben nach eigenem Wunsch beenden zu lassen, wenn sie es als vollendet betrachten. Das Neue daran ist, dass diese Menschen nicht wie bisher nachweisen müssen, dass sie unheilbar krank sind. Allein ihr Wille zählt. Die D66-Abgeordnete Pia Dijkstra arbeitet gerade an einem solchen Gesetzesvorschlag. Die CU (ChristenUnie) hatte sich während der Wahlkampagne strikt gegen ein solches Gesetz gewendet. In dem nun veröffentlichten Papier entsteht allerdings der Eindruck, dass die CU viele ihrer Bedenken während der Verhandlungen zurückgestellt hat. So sei beschlossen worden, dass das neue Kabinett ein Initiativgesetz der D66, die sich für das neue Gesetz einsetzt, nicht zu verhindern versuchen würde. Das Unangenehme für Gert-Jan Segers ist, dass er sich bislang immer als scharfer Gegner der Idee, aus dieser Frage eine „vrije kwestie“ zu machen - sprich, die Entscheidung der Kammer zu überlassen, statt es als Gesetz abzulehnen -, präsentiert hatte. Somit kann es nicht verwundern, dass vor allem der CU-Chef am Dienstag entrüstet auf die Veröffentlichung im Algemeen Dagblad reagiert hatte. Auf die Frage der Journalisten hin, ob das Vertrauen nach den Gesprächen mit den voraussichtlichen Koalitionspartnern wieder hergestellt sei, bekam er kein klares „ja“ über die Lippen. Segers bestritt entschieden, dass es schon einen Deal zwischen den Parteien gebe. Mit einigem „Schwermut“, werde er nach eigener Aussage die Verhandlungen wieder aufnehmen. Zwar antwortete er auf die Frage, ob dies nicht das Ende der Verhandlungen bedeuten könnte, mit: „ich weiß es nicht“, aber am heutigen Donnerstag sieht alles danach aus, dass die Verhandlungen weiter gehen werden. Die übrigen Parteiführer reagierten wesentlich entspannter als der unter Druck geratene Segers. „Das gegenseitige Vertrauen“ sei gut, so Rutte und Sybrand Buma ließ wissen: „Das gefällt uns allen nicht, aber es wird keine Konsequenzen haben.“
Die zweite Frage bezieht sich auf das „Embryogesetz“, welches nach dem Willen der VVD und der D66 ausgeweitet werden soll. Speziell geht es in diesem Zusammenhang darum, Ärzten mehr Spielraum beim Selektieren vom Embryonen im Kampf gegen erbliche Krankheiten zu geben. Auch dies ist ein Thema, gegen welches sich die CU anfangs stark widersetzt hatte, dieser Praktik laut dem veröffentlichten Papier aber nun zustimme. Des Weiteren sollen die Parteien sich darauf verständigt haben, Ratschlägen des Gezondheidsraads, einem Beratungsgremium bei medizinisch umstrittenen Fragen, mehr Gewicht einräumen zu wollen. Das allerdings, obwohl dieses Organ in der Regel weiter geht, als es die CU traditionellerweise gutheißen würde. Auch in diesen Fragen suggeriert das Papier also ein vermeintliches Einknicken der CU.
Alles zusammengenommen hat das Durchsickern des Papieres also vor allem der CU geschadet, in der noch immer großer Argwohn besteht. Immerhin sollte nicht vergessen werden, dass es schon einmal Verhandlungen zwischen den drei Parteien und der CU gegeben hatte, die allerdings am Widerstand der D66 gescheitert waren. Damals hatte Pechtold Segers so viele „Vorab-Forderungen“ gestellt, dass die Verhandlungen nie in ein ernsthaftes Stadium vorgedrungen waren. Im Juni noch hatte es „keinen Sinn gemacht, miteinander zu reden“, wie die beiden Parteivhefs wissen ließen. Erst als die Gespräche mit GroenLinks ein zweites Mal gescheitert waren, kam die kleine CU mit ihren fünf Sitzen wieder ins Gespräch. Nachdem erneuten und diesmal definitiven Wegfallen des Wunschpartners GroenLinks war Pechtold zu etwas mehr Entgegenkommen gegenüber Segers gezwungen.
Laut einer Meinungsumfrage des Fernsehsenders EenVandaag sind 65 Prozent der D66-Wähler dafür, dass VVD, CDA, D66 und CU zusammengehen. Bei der CU sind es sogar 76 Prozent, aber noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Immerhin schreiten die technischen Möglichkeiten immer rasanter voran und die Niederlande werden sich, nachdem Belgien, Schweden, England und die USA ihre Embryonengesetze bereits erweitert haben, nicht vor einer klaren Position drücken können. Wenn es, wie Segers behauptet, jetzt noch keinen Deal zwischen den Parteien in diesen brenzligen Fragen gibt, dann wird er noch kommen müssen und spätestens dann wird sich zeigen, ob die neue Regierung der Niederlande tatsächlich aus VVD, CDA, D66 und der kleinen ChristenUnie bestehen wird.