Nachrichten September 2015
ASYLPOLITIK: Niederländischer Kompromiss in der Flüchtlingsfrage
Den Haag. AF/ANP/DRadio/FD/NRC/NOS/TR 14. September 2015.
„Europa kann nicht allen Flüchtlingen Obdach bieten, aber hat sehr wohl die Pflicht, Sicherheit zu gewähren“, heißt es in einem vergangene Woche veröffentlichten Brief des niederländischen Justizministeriums zur Flüchtlingsfrage. Die Regierungskoalition aus liberaler VVD und sozialdemokratischer PvdA hatte in Sachen Asylpolitik lange Zeit geschwiegen, da sich die Parteien erst auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen mussten. Jetzt ist klar: Kurzfristig werden 7.000 zusätzliche Flüchtlinge aufgenommen, langfristig sollen „sichere Regionen“ außerhalb Europas geschaffen werden.
In Sachen Asylpolitik tut sich die niederländische Regierung generell schwer, die Frage, inwieweit bereits ausgewiesene Asylsuchende mit dem Nötigsten versorgt werden müssen, führte im April gar zu einer Regierungskrise (NiederlandeNet berichtete). Auch wenn diese Krise beigelegt werden konnte, ändert sich nichts daran, dass die VVD, die europäischen Außengrenzen am liebsten schließen und keine Asylsuchende mehr zuzulassen würde. Flüchtlinge sollten in der eigenen Region an sicheren Orten untergebracht werden. Diederik Samsom, Parteichef des Koalitionspartners PvdA, forderte hingegen Ende August in einem Kommentar im NRC Handelsblad zentrale EU-Flüchtlingszentren, von wo aus die Flüchtlinge fair auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Eine gemeinsame europäische Asylpolitik soll laut Samsom dabei helfen. Doch das ist noch Zukunftsmusik.
Der nun erarbeitete Kompromiss der niederländischen Regierung sieht vor, kurzfristig 7.000 zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Zudem soll sicheren Staaten in Krisengebieten bei der Flüchtlingsunterbringung finanziell geholfen werden. 110 Millionen Euro will das Kabinett noch vor dem Winter für die Unterbringung in Ländern wie der Türkei, dem Libanon oder Jordanien bereitstellen.
Langfristig wollen die Niederlande nur noch Flüchtlinge aufnehmen, die sich zunächst in solchen „sicheren Gebieten in der Region“ gemeldet haben. Migranten, die direkt nach Europa reisen, sollen zurückgeschickt werden, berichtete die NOS am vergangenen Dienstag. Die Niederlande hoffen, dass eine Weiterreise der Flüchtlinge nach Europa so besser gesteuert werden kann und nur wie ein „Überdruckventil“, die regionale sichere Unterbringung entlastet. Jeder europäischer Mitgliedstat soll nach einem „passenden Verteilungsschlüssel“ eine bindende Zahl an Flüchtlingen zugewiesen bekommen. „Die jetzige Situation, in der eine Hand voll Mitgliedsländer disproportionale Lasten auf sich nehmen, während andere Länder sich wegducken, darf so nicht bleiben“, heißt es im Brief des Justizministeriums. Außerdem sollen die Asylpolitiken Europas harmonisiert werden.
Die Opposition hält nichts von diesen Plänen. „Die Länder in den Krisengebieten müssen zur Mitarbeit bewegt werden. Wer sagt, dass sie das tun? Man braucht doch nur an die Golfstaaten zu denken, die halten sich völlig raus. Und die Türkei und der Libanon, die haben ihre eigenen Probleme“, kritisiert beispielsweise Sybrand Buma, Fraktionsvorsitzender der Christdemokraten den Kompromiss.
Während die Regierung restriktiv an die Flüchtlingsfrage herangeht, ist die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung groß. Organisationen wie das VluchtelingenWerk Nederland organisieren Geld- und Kleiderspenden, Betriebe starten Benefizaktionen zugunsten der Flüchtlinge und auch die Medien wollen helfen: Die Fernsehsendung RTL LateNight sammelte in einer Sondersendung Anfang September 225.000 Euro unter anderem für das niederländische Rote Kreuz.
Aufmerksamer Blick nach Deutschland
Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland wird in den Niederlanden mit besonderem Interesse verfolgt. Dass die deutsche Regierung 6 Milliarden Euro extra für Flüchtlinge bereitstellt und 3.000 neue Stellen bei der Polizei schafft, war auch den großen niederländischen Tageszeitungen einen eigenen Artikel wert. Auch die Ankunft der Flüchtlinge in München wurde verfolgt. Hierauf Bezug nehmend hieß es dann in einem Beitrag der Rundfunkanstalt NOS, worin von Flüchtlingen berichtet wird, die an niederländischen Bahnhöfen übernachten: „Im Gegensatz zu Deutschland gibt es für Flüchtlinge, die mit einem internationalen Zug in den Niederlanden ankommen, keine Hilfe oder eine geregelte Empfangsprozedur.“
Doch es gibt auch kritische Stimmen: Der „Heldenempfang“, den die Deutschen den Syriern an den Bahnhöfen bereitet hätten, habe Merkels Versuch, die Krise in Ungarn zu lösen, torpediert. „So will ich auch in Deutschland empfangen werden, werden sich bei diesen Bildern Zahllose gedacht haben, die an den Rändern Europa noch zweifelten, ob sie den großen Sprung wagen sollen“, warnte Journalist Ger Groot vergangene Woche in der Tageszeitung Trouw. Auch die Demonstrationen in Heidenau sowie die Brandanschläge auf Asylbewerberheime blieben nicht unbemerkt.
Die Ankündigung, dass Deutschland temporär Grenzkontrollen wieder einführt, um den Zustrom der Flüchtlinge besser kontrollieren zu können, stößt in den Niederlanden mehrheitlich auf Verständnis. Parlamentarierin Attje Kuiken (PvdA) erklärte gegenüber der niederländischen Presseagentur ANP: „ Das zeigt, wie groß die Not ist.“ Die europäischen Länder müssten nun gemeinsam Tatkraft zeigen. „Die Zeit, dass jeder für sich steht, ist vorbei.“
Lesen Sie hier den Brief des niederländischen Justizministeriums zur „Europäischen Asylproblematik“ (nl)