Nachrichten Dezember 2015
GESELLSCHAFT: Niederländer machen sich Sorgen über ihre Zukunft
Amsterdam. SW/NRC. 14. Dezember 2015.

Niederländer blicken besorgt in ihre Zukunft. So lautet das Ergebnis einer landesweiten Umfrage in der Zeitung NRC Handelsblad. Eine Vielzahl von Themen beschäftigen die Niederländer, von sozialer Ungleichheit über den Zustand des Pflegesektors bis hin zur Asylproblematik.
Noch sind die meisten Niederländer zufrieden mit ihrer Situation, noch ist der Arbeitsplatz sicher, noch reicht das Einkommen, noch sind die Lebenshaltungskosten annehmbar, noch spielt die Gesundheit mit. Aber wie sieht die Zukunft aus? Habe ich in der Zukunft noch einen Job? Werde ich meinen Kindern das Studium finanzieren können? Was, wenn ich krank werde, wer kümmert sich dann um mich? So in etwa ließe sich das Ergebnis einer landesweiten Umfrage unter Niederländern zusammenfassen, das vorletztes Wochenende in der Zeitung NRC Handelsblad erschien.
Besonders die gegenwärtige Asylkrise beschäftigt viele Niederländer. So beantworteten 38 Prozent Teilnehmer die Frage was das größte Problem in den Niederlanden sei mit „Asylsuchende“. Dahinter verbergen sich pragmatische Fragen, wie etwa wo Asylbewerber untergebracht werden können und ob eine adäquate Grundversorgung gewährleistet werden kann. Die Mehrheit der Befragten äußerte sich jedoch kritisch über die Folgen der Migration. Es wird befürchtet, dass die eigene kulturelle Identität verloren geht, so wie es ein 63-jähriger Mann aus Bussum formuliert: „Wie werden unsere Werte und Normen in der Zukunft sein? Die Menschen die hierher kommen, haben ganz andere Werte und Normen.“
Viele Bürger befürchten zudem eine ungerechte Behandlung durch den Staat zu Gunsten von Immigranten. Eine Studentin aus Alkmaar gab zu Wort: „Wir haben genügend Platz für sie [Zuwanderer, Anm. d. Red.], darum geht es gar nicht. Aber sie kommen in unser Land und auf einmal können tausende Wohnungen gebaut werden. Obwohl die Wohnungsnot in unserem Land schon viel länger ein Problem ist. Obendrein werden sie bevorzugt bei sozialen Mietwohnungen. Da frage ich mich: warum wurde nicht schon früher gebaut?“
Viele Niederländer zeigen sich zudem besorgt über den Zustand des Pflegesektors, insbesondere die Altenpflege. Eine 32-jährige Frau aus Drachten fasst ihr Sorgen so zusammen: „Der Pflegesektor ist ein großes Durcheinander geworden. Es gibt durchaus noch einige Gelder, aber wo sind sie, wo muss man anklopfen? Die Hilfe kommt aus viel zu vielen verschiedenen Richtungen heutzutage. Deshalb finden Menschen sie nicht mehr.“ Viele Befragte sind der Meinung, dass die durchgeführten Spaßmaßnahmen im Pflegebereich zu weit gingen oder gänzlich falsch seien und adäquate Pflege heutzutage vom Umfang des Geldbeutels abhänge. Eine 35-jährige Frau aus Midwolda: „Ich versuche meiner Mutter so viel wie möglich zu helfen. Ein Stück spazieren gehen, das Bett neubeziehen. Wir sagen einander immer, ja der Rutte, der hat seine Pflege sicherlich schon gezahlt, aber wir schustern es uns zusammen.“ Die meisten Befragten waren auch schlecht auf das Modell der sogenannten Partizipationsgesellschaft zu sprechen. „Die Fähigkeit zur Selbsthilfe ist größtenteils eine Illusion“, so André Kan aus Limburg.
Positiv äußerten sich die meisten Befragten jedoch gegenüber der momentanen niederländischen Regierung. Viele Bürger halten der Regierung zu Gute, dass sie sich Mühe gebe, die Koalition von VVD und PvdA durch diese Amtszeit zu bringen, und somit die niederländische Politik stabilisiere. Auffällig ist jedoch, dass die VVD mehr von diesem Wohlwollen zu profitieren scheint als die PvdA, so geben 52 Teilnehmer an, Mark Rutte für den geeignetsten Premier in der Zukunft zu halten. Dem rechtspopulistischen Geert Wilders trauen 25 Befragte die Funktion des Premiers zu. Dennoch geben überdurchschnittliche viele PVV Sympathisanten an, dass die rechtspopulistische Partei besser nicht an einer Regierungskoalition teilnehmen solle.
Gegenwärtig sei das Leben in den Niederlanden gut, aber die Zukunft sei ungewiss, so das Fazit der Umfrage. Woher kommt jedoch diese Unsicherheit? Diese Fragen stellen sich die Autoren der Umfrage, Arlen Poort und Bas Blokker, auch. Die Autoren vermuten, dass in den vergangenen Jahren auch die letzten Sicherheiten, an welche die Bürger sich festhielten, verschwunden seien. Mit der Finanzkrise sei das Vertrauen in die persönliche finanzielle Zukunft verschwunden, viele Menschen sahen sich mit Arbeitslosigkeit oder Zeitarbeitsverträgen konfrontiert. Die Politik reagierte auf die Krise mit Sparmaßnahmen, die besonders den Pflegesektor getroffen haben. Viele Bürger hätten innerhalb des Pflegesektors die Orientierung verloren. Auch die Flüchtlingskrise und die weltweite politische Instabilität seien möglichen Ursache für die gefühlte Unsicherheit, so die Autoren.
Das Ergebnis basiert auf 382 qualitativen Interviews, die Journalisten der Zeitung NRC dieses Jahr durchgeführt haben. In 30 Vierteln in den ganzen Niederlanden wurden Bürger befragt wie sie die jetzige Situation in den Niederlanden einschätzen und wie sie die Zukunft beurteilen. Bereits fünfmal hat die Zeitung NRC Handelsblad eine vergleichbare Umfrage durchgeführt: 1994, 1998, 2002 (zweimal) und 2012. Jedes Mal wurde auf die gleiche Art und Weise vorgegangen: Die Journalisten begaben sich auf die Straße und unterhielten sich mit Menschen. Etwa im Wartezimmer beim Arzt oder sie gingen von Tür zu Tür und klingelten. Auffallend sei dabei, so die Autoren des Artikels, dass immer weniger Menschen bereit wären, mit Journalisten zu sprechen. Zudem seien immer weniger Menschen bereit, mit vollem Namen genannt zu werden. Auf die Nachfrage, wieso sie lieber anonym blieben, antworteten die meisten Befragten, dass sie negative Reaktionen in den sozialen Medien befürchteten.