Nachrichten Juli 2013


WIRTSCHAFT: Ist Deutschland ein Vorbild für die Niederlande?

Amsterdam/Den Haag/Utrecht. /TR/VK. 15. Juli 2013.

Im Gegensatz zu den Niederlanden mit der dort noch immer andauernden Rezession (NiederlandeNet berichtete) geht es der deutschen Wirtschaft momentan nachweislich sehr gut. Hierzulande spricht man vom „Jobwunder“ und in den umliegenden Ländern vom „Modell Deutschland“, um auf den aktuell stabilen Arbeitsmarkt, die guten Wirtschaftszahlen und den hohen Konsumklimaindex zu verweisen. Inwiefern Deutschland für ein Land wie die Niederlande wirklich als Vorbild dienen kann, darüber gehen die Meinungen zurzeit jedoch weit auseinander.

Deutschland wird immer positiver gesehen

Bereits seit einiger Zeit lässt sich in den Niederlanden beobachten, dass man in den dortigen Medien immer öfter positiv von Deutschland berichtet. Hanco Jürgens vom Duitsland Instituut Amsterdam nannte dafür Mitte Juni in Trouw als Beispiele die Energiepolitik, die Fertigungsindustrie, die duale Ausbildung, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes oder die kursstabile Europapolitik. Auch genannt werden in diesem Zusammenhang immer wieder der erfolgreiche Export, die qualitativ hochwertigen und weltbekannten Produkte wie Autos und Maschinen oder die durch jahrelange Lohnmäßigung erfolgreiche Industrie. Immer öfter, so Jürgens, wird Deutschland momentan als Modell für den kleinen westlichen Nachbarn herangezogen.

Günter Gülker, Vorsitzender der Deutsch-Niederländischen Handelskammer (DNHK) in Den Haag, erklärte die Erfolge Deutschlands Ende Juni im öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmagazin Nieuwsuur mit einer konsistenten Wirtschaftspolitik, stabilen Regierungen und den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010, die seinerzeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeführt wurden. Mit dem Blick auf die Niederlande sei es wichtig, dass jetzt auch weiterhin Investitionen in wichtigen Wirtschaftssektoren getätigt werden: „Das sind sicherlich Punkte, die Geld kosten, langfristig werfen sie aber natürlich auch Geld ab“, so der DNHK-Vorsitzende. Zudem müsse an den selbst auferlegten Sparplänen der Regierung festgehalten werden: „Natürlich ist es schwierig, in einer Krise Einsparungen durchzuführen, das ist verständlich, und Bundeskanzler Schröder ist seinerzeit auch nicht wiedergewählt worden, aber letztendlich ist es das Beste für das Land“, so Gülker weiter.

Kritiker sprechen Deutschland die Vorbildrolle ab

Neben jenen Stimmen, die das deutsche Modell verteidigen und als Vorbild für die Niederlande heranziehen, melden sich aber auch immer wieder solche zu Wort, die Deutschland in dieser Beziehung den Vorbildcharakter absprechen. Der Berliner Volkswirt Prof. Dr. Sebastian Dullien beispielsweise sagte Anfang dieses Monats, dass das deutsche Modell eher auf Zufall denn auf einer entsprechenden Wirtschaftspolitik basiert. Als Folge seiner geographischen Lage habe man hierzulande am meisten vom Aufschwung der osteuropäischen Länder profitieren können. Daneben hatte Deutschland das Glück, exakt die Produkte zu produzieren, die in jenen Ländern gefragt waren. De Volkskrant-Redakteur Peter de Waard ist dann auch der Meinung, dass die Tatsache, „dass es Deutschland ökonomisch so gut macht, einzig und allein der Tatsache zu verdanken sei, dass andere Länder seinem Vorbild nicht folgen. Wenn andere Länder in Europa das deutsche Modell adoptieren, folgt ein heilloses race to the bottom“.

Skeptisch über die Vorbildfunktion Deutschlands äußerte sich in der vergangenen Woche in einem Meinungsbeitrag in de Volkskrant auch Enrico Kretschmar, Inhaber und Geschäftsführer der Exportberatungsfirma Gateway to Germany in Utrecht. Kretschmar vertrat dabei die Meinung, dass „ein Kopieren der deutschen Wirtschaftspolitik hauptsächlich das Kopieren von kurzsichtigen ökonomischen Entscheidungen, die zu Kosten der kommenden Generationen gehen, bedeutet.“ Der Export-Experte nannte dazu verschiedene Beispiele, die man antrifft, wenn man bei Arnheim die Grenze nach Deutschland überquert: „Löcher im Straßenbelag, Viadukte aus den 1960er Jahren und Innenstädte, die mittlerweile an die DDR der 1980er Jahre erinnern.“ Kretschmar spricht von einem „astronomischen Betrag“ von 1.000 Milliarden Euro an Investitionen, die Deutschland im Rückstand ist. Neben fehlenden Investitionen in Infrastrukturprojekte ist für Kretschmar auch der Bildungsbereich ein gutes Beispiel dafür, dass Deutschland nicht zu den Ländern zählt, die international herausstechen: Die Erfolge deutscher Schülerinnen und Schüler seien laut OECD-Untersuchungen eher mäßig und auch Forschung und Lehre in den Hochschulen seien Mittelmaß. „Nur vier deutsche Universitäten finden sich unter den Top 100 in Europa. Wohl aber sieben Universitäten aus den viel kleineren Niederlanden.“ Zudem sei Deutschland trotz seiner Fertigungsindustrie und der vielen qualitativ hochwertigen technischen Produkte heute kein Land bahnbrechender Innovationen mehr.

Relativierung der Kritik

Diese kritische Sicht auf die deutsche Wirtschaftspolitik kann Lars Gutheil von der DNHK jedoch nicht verstehen. Zwar respektiere man die Ansicht von Herrn Kretschmar und „selbstverständlich ist es wichtig, gerade die Innovation in Deutschland weiter und verstärkt zu fördern“, so der DNHK-Sprecher gegenüber NiederlandeNet, „allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass gerade im deutschen Mittelstand deutlich mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung erfolgen als bei den niederländischen kleineren und mittleren Unternehmen“ . Ebenfalls nicht unterschreiben kann Gutheil Kretschmars Einschätzungen bezüglich der Heilsbringerfunktion des in den Niederlanden traditionell starken Dienstleistungssektors – etwa für Innovationen: „Gerade in den Krisenjahren hat sich gezeigt, dass Deutschland vor allem dank seiner starken industriellen Basis besser gegen Konjunkturschwankungen gerüstet ist als die Niederlande. Daher beobachten wir in den Niederlanden derzeit auch eine Rückbesinnung auf die Fertigungsindustrie.“ Beim von Kretschmar genannten Aspekt des Bildungssystems vermisst der DNHK-Sprecher mit dem von vielen Ländern beneideten deutschen System der dualen Berufsausbildung zudem einen sehr wichtigen Punkt. sie habe erheblich dazu beigetragen, den Fachkräftemangel zu bekämpfen und qualitativ hochwertige Ausbildungen zu fördern, so Gutheil.

Nicht auf sich beruhen lassen wollte die Meinung von Enrico Kretschmar auch Harry Welters, Vorstandsmitglied der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft (DNG) Aachen. In einem Leserbrief in Reaktion auf den Meinungsartikel Kretschmars schrieb auch er, dass Deutschland vielleicht nicht das innovativste Land der Welt sei, dafür aber das produktivste. Auch bei den Investitionen dürfe man Deutschland nicht zu stark kritisieren: „In den vergangenen Jahrzehnten wurden – vor allem in der früheren DDR – mehrere Billionen Euro in die Infrastruktur investiert. Kein Wunder, dass Deutschland hier unter Kurzatmigkeit leidet“, so Welters. Und auch die von Kretschmar geübte Kritik am deutschen Bildungsbereich wollte der Aachener DNG-Vorstand nicht unkommentiert lassen: „Die Erweiterungspläne für die RWTH Aachen zum Beispiel sind größer als die aller technischen Universitäten in den Niederlanden zusammen.“

Ob Deutschland mit seiner Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik nun ein Vorbild für andere Länder ist oder nicht, darüber wird man wohl auch in Zukunft nicht einer Meinung sein. Das Deutschland für niederländische Unternehmen – etwa im Bausektor, dem Bildungsbereich oder dem Ingenieursektor – als Investitionsmarkt eine Unmenge an Möglichkeiten bietet, darüber herrscht bei niederländischen Wirtschaftsvertretern jedoch weiterhin Konsens.