Nachrichten April 2013
SOZIALPAKT: Historischer Konsens zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Regierung [UPDATE]
Den Haag. TM/NOS/NRC/VK. 12. April 2013.
Die sozialen Partner in den Niederlanden haben einen gemeinsamen Pakt geschlossen. Donnerstagabend präsentierten der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes VNO-NCW, Bernard Wientjes, der Vorsitzende des Arbeitnehmerverbandes FNV, Ton Heerts, sowie der rechtsliberale Ministerpräsident Mark Rutte (VVD) die Ergebnisse wochenlanger Konsultationsgespräche zwischen den Gruppen auf dem Arbeitsmarkt. Der Vertrag soll die Akteure für die kommenden zehn Jahre verpflichten.
Als „historischer Moment“ sei die Einigung laut Rutte einzustufen. Eine Einordnung, die sogleich an das berühmte niederländische Poldermodell der 1980er denken lässt, als sich Gewerkschaften und Arbeitgeber im „Abkommen von Wassenaar“ zu gemeinsamen Reformen für den Ausweg aus der Rezession zusammenfanden. Ob die jetzt beschlossenen Maßnahmen eine vergleichbare Wirkung haben werden, bleibt noch abzuwarten. Anfang 2016, so die Vision der Beteiligten, sollen die Niederlande den Weg aus der aktuellen Krise gefunden haben. Der Vergleich mit der malaise der 1980er Jahre hinkt allerdings auch, denn diesmal kommt die Krise nicht aus dem Arbeitsmarkt selbst, sondern aus dem Finanz- und Immobilienbereich hervor. Trotz alledem soll auch diese Krise nun mit einem breiten Konsens der Sozialpartner im Zaum gehalten werden.
Beschlossene Maßnahmen
Konkret haben die Verhandlungspartner unter anderem beschlossen, dass die Einsparungspläne des Kabinetts in Höhe von vier Milliarden Euro zusätzlich zu den geplanten 14 Milliarden Euro aus dem Koalitionsvertrag erst im Herbst umgesetzt werden sollen. Bei der Länge der Periode von Zahlung aus der Arbeitslosenversicherung WW bleibt es bei drei Jahren. Was das dritte Jahr betrifft, werden sich ab 2016 allerdings die Arbeitnehmer mit einer Prämie beteiligen müssen. Ebenfalls erst ab 2016 werden geplanten Vereinfachungen beim Kündigungsrecht sowie Einschränkung bei den Abfindungen gelten.
125.000 neue Arbeitsplätze für arbeitsbehinderte Personen versprechen die sozialen Partner für die kommenden 14 Jahren, wobei die Arbeitgeber für 100.000 und der Staat für 25.000 sorgen soll. Weiterhin soll es 35 sogenannte „werkpleinen“ geben, an denen gekündigten Menschen eine Übergangserstattung bekommen können, um den Weg zu einer neuen Arbeitsstelle einfacher zu gestalten. Weiterhin sollen die Auswüchse von flexiblen Arbeitsmärkten angepackt und Scheinkonstruktionen auf diesem Gebiet zukünftig verhindert werden.
Reaktionen aus Regierung und Opposition
Alle drei beteiligten Partner erklärten sich nach Ablauf der Verhandlungen hoch zufrieden. Ministerpräsident Rutte sagte gegenüber Medienvertretern, dass er genug von der aktuellen Schwermütigkeit in seinem Land habe: „Ich verstehe es zwar: die Arbeitslosigkeit steigt, die Immobilienpreise sinken. Aber ich hoffe, dass wir uns mit dieser Übereinkunft aus der ökonomischen Depression zurückkämpfen.“ Der Sozialpakt bedeute für das Kabinett, dass es nun auf seinem eingeschlagenen Weg weiter gehen kann, so Rutte. Für die beteiligte Arbeitnehmerorganisation FNV sprach Ton Heerts von einer Übereinkunft, die für die eigene Klientel nicht einfach ist. „Wir kommen aber unserer Verantwortung für die aktuelle Situation der steigenden Arbeitslosenzahlen nach. Wenn wir mit diesem Vertrag morgen eine Kündigung verhindert haben, ist es für mich ein Erfolg.“ Ähnlich argumentierte auch Arbeitnehmer- und VNO-NCW-Chef Bernard Wientjes, der insgesamt von einem guten Kopromiss sprach: „Das Unternehmervertrauen ist für die Erholung der Wirtschaft essentiell. Unternehmern und Unternehmen geht es schlecht. Wenn durch diese Vereinbarung morgen ein Betrieb weniger in Konkurs geht, dann bin ich zufrieden.“
Aus der Opposition kamen von der linksliberalen D66 und deren Spitzenkandidaten Alexander Pechtold kritische Töne: „Die Effekte sind noch undeutlich, ich bin kritisch bei einigen Reformen, kritisch wenn es um die Zahl der Arbeitsplätze geht die geschaffen werden sollen, und kritisch über die zukünftigen Lasten.“ Für die sozialistische SP und deren Spitzenkandidaten Emile Roemer seien die getroffenen Vereinbarungen zwar eine Verbesserung im Vergleich zum Koalitionsvertrag. „Mit der Vision von möglichen weiteren Einsparungen im August wird gleichzeitig jedoch wiederum Unruhe gesät. Die Einsparungen müssen vom Tisch.“ Für den CDA und dessen Kopf Sybrand Buma, der im niederländischen Oberhaus nun zu einem Mehrheitsbeschaffer für die ausgehandelten Reformen werden kann, sei es „sehr wichtig, dass die sozialen Partner zu einer Übereinkunft gekommen sind.“ Vom ursprünglichen Koalitionsvertrag, so Buma ganz anders als Rutte, bleibe jetzt nicht mehr viel über. Eine abschließende Bewertung wollte er kurz nach Bekanntwerden des Sozialpaktes jedoch noch nicht geben: „Ich habe noch viele Fragen und kann jetzt nicht sagen, ob die Ampel auf rot, grün oder orange steht.“
Reaktionen in der Tagespresse
Aus den Kommentaren der niederländischen Tageszeitungen ergibt sich insgesamt eine gemischte Bewertung des Sozialpaktes: So preist etwa das Algemeen Dagblad die Schnelligkeit, mit der man zu einer Einigung gelangen ist: „Innerhalb eines Monats, allein schon ein Riesenergebnis, haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer Absprachen getroffen über den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherheit.“ De Telegraaf hingegen nennt die Übereinkunft eine „Blamage“ für die VVD von Mark Rutte. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete dann auch wenig positiv: „Rutte in die Knie“. Kritisch zeigte sich auch Trouw, welche der Regierungskoalition einen Erfolg um jeden Preis unterstellt: „Der Aufschub von Reformmaßnahmen ist der Preis, den das Kabinett aus VVD und PvdA zu bezahlen bereit ist, um weiterregieren zu können.“ De Volkskrant hingegen spricht von einem „wichtigen Schritt, der hoffentlich wieder die Ruhe in die niederländische Wirtschaft zurückbringt“.
[UPDATE 15. April 2013, AF: Reaktionen der Bevölkerung
Wie die jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Maurice de Hond ergaben, löst der Sozialpakt in der niederländischen Bevölkerung zwiespältige Gefühle aus. 45 Prozent der Befragten erklärten, sie hielten es für positiv, dass ein derartiger Pakt geschlossen wurde. Nur 17 Prozent waren über den Sozialpakt unzufrieden. Zu den einzelnen Absprachen befragt, fiel die Zustimmung sogar höher aus: 69 Prozent der Befragten waren beispielsweise damit einverstanden, dass der so genannte „flexible Arbeitsmarkt“ (Zeit- und Leiharbeitnehmer, Saisonarbeiter und Freiberufler) stärker als bisher eingeschränkt wird.
Danach gefragt, wer den größten Gewinn aus dem Pakt ziehe, antworteten jedoch 40 Prozent der Befragten: „Niemand gewinnt“. 13 Prozent sahen die Arbeitnehmer als Gewinner, zehn Prozent die Regierung und neun Prozent die Arbeitgeber. Außerdem stimmten 47 Prozent der befragten Personen der Aussage zu, dieses Abkommen sei „eigentlich eine Niederlage für das Kabinett“. Die so genannte „Sonntagsfrage“ ergab dann auch, dass die Oppositionspartei PVV im Moment die meisten Stimmen (27 Prozent) holen würde. Platz zwei belegten die Sozialisten mit 23 Prozent. Die Regierungsparteien VVD und PvdA kamen jeweils nur auf 21 Prozent der Stimmen.]
Mehr zum Thema auch in unserem Hintergrunddossier zur Geschichte der niederländischen Gewerkschaftsbewegung.