Nachrichten Februar 2012
PVV-WEBSITE: Ministerpräsident Mark Rutte von allen Seiten unter Druck
Den Haag/Warschau. TM/NRC/RMF24/VK. 14. Februar 2012.
Eine „diplomatische Verstimmung“ nennt man in Fachkreise wohl, was zurzeit zwischen den Vertretern der Niederlande und ihren mittel- und osteuropäischen Partnerländern auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet passiert. Grund ist eine Internetplattform, die von der Partei PVV des Populisten Geert Wilders betrieben wird und die Beschwerden von Menschen sammelt, die schlechte Erfahrungen mit aus Mittel- und Osteuropa stammenden Bürgern gemacht haben (NiederlandeNet berichtete). Neben den zehn Botschaften der mittel- und osteuropäischen Länder, die sich gestern in einem gemeinsamen Brief an das niederländische Volk gewendet haben, hat der Protest nun noch weitere Kreise gezogen. In Polen beispielsweise wird öffentlich ein Boykott von niederländischen Produkten verlangt. Der liberale niederländische Premier Mark Rutte schweigt unterdessen weiter und möchte sich nicht zum Tun von Wilders‘ Partei äußern. Der Druck für Rutte um zu handeln, wird durch die transnationale Aufmerksamkeit nun jedoch immer größer.
Polen bildet aktuell die Speerspitze der Länder, welche sich vehement gegen die von der PVV installierte Website zur Wehr setzen. Nicht allein dass der von dort abgesandte Botschafter in Den Haag die treibende Kraft hinter dem gestern veröffentlichten Brief ist. Vielmehr hat sich nun auch der Radiosender RMF24 aus der Hauptstadt Warschau in den Streit eingemischt und führt eine eigene Protestkampagne. Nach Angaben des Senders haben sich 52 Prozent seiner Zuhörer in einer nicht-repräsentativen Meinungsumfrage für einen Boykott in ihrem Land gegen alles Niederländische ausgesprochen, 35 Prozent sind alternativ für starke diplomatische Reaktionen. Die Moderatoren forderten alle Zuhörer auf, sich mit Protest-E-Mails direkt an Geert Wilders oder die niederländische Botschaft in Warschau zu wenden. Zudem habe man ein Protestplakat mit den Worten „Tulipan to lipa“ (frei übersetzt etwa „Tulpe bedeutet Schwindel“) sowie einer durchgestrichenen Tulpe entworfen, welches heute auch in vielen niederländischen Medien abgedruckt wurde. Das Plakat mit der Tulpe als Symbol steht dabei sinnbildlich für die enge wirtschaftliche Verflechtung beider Länder. Die Kampagne von RMF24 zielt dabei zunächst auf die Tulpen ab, welche von nun an nicht mehr gekauft werden sollen. Dies könnte die niederländischen Blumenexporteure stark treffen, denn Tulpen sind in Polen besonders zu dieser Jahreszeit beliebte Schnittblumen. Am 8. März wird darüber hinaus der polnische Valentinstag gefeiert, wo Tulpen traditionell eine bedeutende Rolle spielen. Wie es das Schicksal will, ist Polen in diesem Jahr zudem Gastland der holländischen Blumenausstellung Keukenhof, welche in den kommenden Wochen ihre Pforten öffnen wird.
Wirtschaftliche Verflechtung
Konkret möchte man den Niederländern mit der polnischen Boykott-Kampagne verdeutlichen, dass die Situation in den Niederlanden ohne die in der Kritik stehenden polnischen Gastarbeiter ganz anders aussehen würde. Laut Berechnungen von RMF24 fließen jährlich knapp 1,2 Milliarden Euro an Steuerabgaben von polnischen Staatsbürgern in die niederländische Staatskasse. Das niederländisch-polnische Zentrum für Handelsförderung hat zudem berechnet, dass die Niederlande umgerechnet etwa 0,3 Prozent seines Wirtschaftswachstums den Gastarbeitern aus Polen verdanken. Große Teile der niederländischen Industrie seien von Arbeitskräften aus dem osteuropäischen Land abhängig. Von den mittel- und osteuropäischen Ländern sind es vor allem Polen, Tschechien und Ungarn, welche einen bedeutenden Handel mit dem Polderland treiben. Allein in Polen wurden im Jahr 2010 Waren und Dienstleistungen im Wert von über sieben Milliarden Euro aus den Niederlanden importiert. In den vergangenen 19 Jahren haben niederländische Betriebe außerdem für etwa 23 Milliarden Euro in Polen investiert, womit die Niederlande dort der größte ausländische Investor sind.
Diesem langfristig aufgebauten Bündnis droht jetzt aber Gefahr, so Elro van den Burg, Direktor der polnisch-niederländischen Handelskammer, in der Tageszeitung de Vokskrant: „Zu uns wurde einmal hochgeschaut und unser Land als das gastfreundliche und tolerante Land aus dem Westen angesehen. Durch Initiativen wie der Beschwerdestelle droht uns dieser Vorteil abhanden zu kommen.“ Neben dem Brief der Botschafter folgte heute sodann auch ein offener Brief von niederländischen Betrieben in Polen an den Wirtschaftsminister Maxime Verhagen. Ihr Tenor: Die PVV-Website beeinträchtigt das Image der niederländischen Unternehmer in Polen. Wie Elro van den Burg von der binationalen Handelskammer weiterhin sagt, machen die Polen aktuell keinen Unterschied zwischen dem PVV-Standpunkt und der Meinung der Regierung. Wie das NRC Handelsblad gestern schrieb, drängt sich neben Polen auch in anderen europäischen Ländern immer mehr das Bild auf, dass die Niederlande von der PVV regiert werden. So würden immer mehr Diplomaten behaupten, dass es die PVV sei, welche die Politik in Den Haag diktiert. Beispiele hierfür seien neben der kontroversen Frage zur Rolle der Gastarbeiter auch die aktuelle Haltung zur Rettung Griechenlands oder die Weigerung der Niederlande, um Bulgaren und Rumänen das Tor zum Schengen-Raum zu öffnen. Ein hoher EU-Funktionär wird im NRC Handelsblad dazu mit folgenden Worten zitiert: „Das Problem mit Rutte ist, dass er stets ohne eigenen Manövrierraum nach Brüssel kommt. ‚Wilders will dies nicht. Wilders will jenes nicht.‘ Er kann keinen Cent mehr an Griechenland geben und auch genügen Bulgarien und Rumänien den Kriterien, wie lassen sie doch nicht bei Schengen mitmachen.“ Die Niederlande werden es bei zukünftigen Verhandlungen auf EU-Ebene deshalb wohl auch schwer bekommen. Dort ist man immer öfter auf die Stimmen der Länder aus Mittel- und Osteuropa angewiesen. Diese müssen jedoch auch in der Stimmung sein, um den Niederlanden zu helfen, was durch die aktuelle Situation eher fraglich ist.
Mark Rutte in der Zwickmühle
Premier Mark Rutte bleibt unterdessen eisern bei seinem altbekannten Standpunkt, was Aussagen von Geert Wilders und seiner Partei angeht: „Ich werde nicht jede Aktion von einer politischen Partei kommentieren“, so der liberale niederländische Ministerpräsident. Rutte begründet dieses Vorgehen damit, dass jeder Kommentar Geert Wilders nur noch mehr mediale Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt. Die PVV würde durch die vielen Kommentare aus den Reihen der Oppositionsparteien und der Medien viel „zu bedeutend“ gemacht. Rutte möchte „kein Spielball für die Hitzewallungen von Wilders sein“, so ein Kommentar in de Volkskrant von heute. Es sprechen aber auch viele Gründe dafür, dass Rutte in diesem Fall wohl Stellung beziehen soll. So behaupten Beobachter, dass es dadurch, dass der Premier gerade der Ministerpräsident aller Niederländer ist, notwendig wird, um sich von der PVV- Beschwerdestelle zu distanzieren. Solange die Kritik lediglich auf das Inland beschränkt war – so andere Stimmen – war Ruttes Taktik berechtigt. Nun, da es aus vielen europäischen Ländern Kritik hagelt, sei es an der Zeit, zu handeln, denn je länger Mark Rutte mit der Distanzierung zu Wilders warte, desto schmerzvoller würde es.
Der Premier hat aber natürlich auch einen Grund, weshalb er Wilders und seine Anhänger derart gewähren lässt: Er ist schlichtweg von ihm als Mehrheitsbeschaffer seiner Minderheitsregierung abhängig. Aktuell stehen die beiden Koalitionsparteien VVD und CDA gemeinsam mit der PVV am Vorabend neuer Koalitions- und Duldungsvereinbarungen. Bereits Anfang März will man sich zusammensetzen und einen Kompromiss darüber finden, wie man nochmals zehn Milliarden Euro vom Haushalt einsparen kann. Diese Verhandlungen könnten sich zu einem Pulverfass entwickeln, durch dessen Explosion die Regierungskoalition zerbrechen könnte. Rutte verkehrt also in Bezug auf Geert Wilders vorerst weiter vorsichtig. Wilders selber äußerte sich übrigens erstaunt über die aktuellen Entwicklungen in den Niederlande, Polen und den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten. Er selbst bezeichnet die aktuellen Proteste als „selektive Empörung“. Dass der niederländische Außenminister Uri Rosenthal am Freitag alle Botschafter treffen will, die am Dienstag den offenen Brief mit unterzeichnet haben, zeigt jedoch das wirkliche Gewicht der aktuellen Proteste.