Nachrichten Dezember 2012


KRIEGSVERBRECHEN: Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Siert Bruins

Dortmund/Hagen. /NOS/NRC/WAZ. 03. Dezember 2012

Die Dortmunder Staatsanwaltschaft hat nach Angaben des niederländischen Nachrichtensenders NOS Anklage gegen den letzten noch lebenden Niederländer erhoben, der trotz eines mutmaßlichen Mordes während des Zweiten Weltkrieges heute in Freiheit lebt. Der in der Nähe von Hagen in Westfalen lebende ehemalige SS-Rottenführer Siert Bruins soll im September 1944 den friesischen Widerstandskämpfer Aldert Klaas Dijkema im niederländischen Appingendam kaltblütig von hinten erschossen haben. Für diese mutmaßliche Tat musste sich der heute 91-Jährige bislang noch nicht vor Gericht verantworten.

68 Jahre sind nach der Tat mittlerweile vergangen, ohne dass sich Siert Bruins während all der Zeit für den Tod des Wiederstandskämpfers Dijkema verantworten musste. Zwar stand der ehemalige SS-Mann Bruins im Jahr 1980 in Deutschland vor Gericht und wurde dort in einem anderen Fall auch wegen Beihilfe zum Mord an zwei jüdischen Brüdern im April 1945 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Bezüglich des Todes von Aldert Klaas Dijkema wertete die deutsche Justiz derartige Verbrechen allerdings jahrzehntelang als Todschlag – eine Straftat, die beim Prozess 1980 jedoch bereits verjährt war.

„Geh mal pissen“

Konkret ereignet haben soll sich die Tat, die Bruins nun zu Last gelegt wird, am 21. September 1944. Wie die WAZ im Juli dieses Jahres aufgrund von Aussagen der Staatsanwaltschaft berichtete, erhielt Siert Bruins nach bisherigen Ermittlungen damals den Befehl, den Gefangegen Dijkema am nächsten Morgen hinzurichten. Gemeinsam mit seinem Vorgesetzten August Neuhäuser vom Sicherheitsdienst (SD) soll Bruins Aldert Klaas Dijkema dann in einem Fahrzeug zu einem verlassenen Fabrikgelände bei Appingendam gebracht haben. Dort forderte man Dijkema auf: „Geh mal pissen“, worauf dieser wegging. Anschließend fielen die Schüsse. Siert Bruins und sein Vorgesetzter sagten 1980 dazu aus, dass Dijkema einen Fluchtversuch unternommen habe und man deshalb geschossen habe. In einer Panorama-Sendung von Ende Juli sagte er zudem in die ARD-Kamera, dass nicht er selbst, sondern der mittlerweile verstorbene August Neuhäuser den niederländischen Widerstandskämpfer erschossen habe.

Daran hat aber nicht nur die zuständige Dortmunder Staatsanwaltschaft nun ihre Zweifel bekundet. Aufmerksam gemacht wurde der dortige Schwerpunktstaatsanwalt für Delikte aus der Zeit des Nationalsozialismus, Andreas Brendel, nämlich von einer Reihe deutscher Historiker, die es sich zum Ziel gesetzt haben, „Nazis zu jagen“. Diese wandten sich im Rahmen ihrer Ermittlungen unter anderem auch an den niederländischen Investigativ-Journalisten Gideon Levy, um ihn über den Fall Siert Bruins zu informieren. Dieser wiederum wandte sich an die zuständige Staatsanwaltschaft und fragte dort nach, warum Siert Bruins, der in den Niederlanden als „beest van appingedam“ (dt. „Bestie von Appingendam”) bekannt ist, in Deutschland immer noch ein freies Leben führen kann. Denn in den Niederlanden war er bereits 1949 für seine Taten während des Zweiten Weltkrieges zum Tode verurteilt worden. Die Strafe wurde später in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt, vor der Vollstreckung flüchtete Bruins jedoch über die Grenze nach Deutschland, dessen Staatsbürgerschaft er als SS-Mann durch einen Führererlass vom 19. Mai 1943 ebenfalls besaß. Entdeckt wird er dort erst Mitte der 1970er Jahre – die Bundesrepublik lehnte eine Auslieferung Bruins‘ an die Niederlande jedoch ab. Und auch im Jahr 2003 blieben weitere Auslieferungsversuche durch den damaligen niederländischen Justizminister Piet Hein Donner ohne Resultat.

Seit Juli hat nun die Dortmunder Staatsanwaltschaft ihre erneuten Ermittlungen gegen Siert Bruins aufgenommen. Staatsanwalt Andreas Brendel hatte dazu auch die niederländische Polizei eingeschaltet. Gemeinsam wollte man schauen, ob es noch unbekannte Zeugen für die Tat von damals gibt. War man sich im Juli noch unsicher, ob sich noch Augenzeugen melden würden, hatte man nach Aussage des Staatsanwaltes bei diesen Ermittlungen nun tatsächlich Erfolg. Es wurde ein Zeuge gefunden, der beim Mord mit an Ort und Stelle war. Gegenüber den Justizbehörden würde die Zeugenaussage eine erneute Anklage gegen Bruins bekräftigen.

Neue Rechtsauslegung

Staatsanwalt Brendel geht heute davon aus, dass Aldert Klaas Dijkema auf heimtückische Art und Weise getötet wurde. Zu diesem Ergebnis kam er auch nach dem Vergleich des Falls mit einem ähnlich gelagerten anderen gegen Heinrich Boere im Jahr 2010 (NiederlandeNet berichtete): „In beiden Fällen wird jemand für eine Fahrt in einem Auto mitgenommen und anschließend an einem verlassenen Ort aus dem Wagen gesetzt und niedergeschossen. Im Urteil gegen Boere, welches durch die höchsten deutschen Richter bestätigt wurde, heißt es, dass das Opfer nicht wissen konnte, was mit ihm passieren würde. Das machte die Exekution heimtückisch und darum ist der Mord nicht verjährt.“, so Brendels.

Diese Auslegung des Rechts ist in Deutschland neu. Zu einem Umdenken führte in der Justiz dabei der Fall Klaas Carel Faber (NiederlandeNet berichtete). Und auch der Fall Siert Bruins bekommt durch diese neue Interpretation laut Andreas Brendel eine ganz neue Wendung, da Widerstandskämpfer in den 1980er Jahren noch als feindliche Kämpfer galten und somit kein Mord vorlag: „Damals war man der Ansicht, dass von Mord keine Rede war, da die Tat nicht heimtückisch gewesen sei. Totschlag war in 1980 das schwerste Vergehen, für das er vor Gericht gestellt werden konnte, dafür war die Verjährungsfrist seinerzeit aber schon verstrichen“.

Durch die jetzige Anklageerhebung gegen Siert Bruins hat der Angeklagte laut Gesetz zwei Wochen Zeit, darauf zu reagieren. Anschließend wird das zuständige Gericht in Hagen entscheiden, ob es auch zu einem Prozess kommen wird. Staatsanwalt Brendel erwartet, dass diese Entscheidung Anfang kommenden Jahres fallen wird. Gesundheitliche Gründe dürften seiner Auffassung nach dabei nicht gegen einen Prozess sprechen.