Nachrichten August 2012
POLITIK: Wahlkampf beginnt im Festivalzelt
Biddinghuizen. AF/NOS/nrc.next/NU/peil.nl/VK. 20. August 2012.
Langsam aber sicher beginnt in den Niederlanden die heiße Wahlkampfphase. Um das junge Publikum zu gewinnen, rührten die großen Parteien gestern bei hochsommerlichen Temperaturen auf dem bekannten niederländischen Musikfestival Lowlands die Werbetrommel. Einen Tag zuvor hatte der Kopf der Jugendbewegung G500, Sywert van Linden, dort bereits seinen „Stimmenbrecher“ vorgestellt, der den Wählern Einfluss auf die späteren Koalitionsmöglichkeiten gewähren soll.
„Eine neue Art, zu wählen“, das sei der so genannte Stembreker (dt.: Stimmenbrecher), erklärte Sywert van Linden, Vormann der neuen Bewegung G500 (NiederlandeNet berichtete), am Samstag dem Festivalpublikum. Denn mit Hilfe der Website www.stembreker.nl könne man seine Stimme über mehrere Parteien verteilen. Jeder Wähler kann auf der Seite für die Parteien stimmen, deren Wahlprogramme ihm zusagten. Zum Beispiel ein bisschen CDA, ein bisschen SP, ein bisschen VVD. Sein Votum muss der Einzelne per SMS bestätigen. In der Nacht vom 11. zum 12. September errechne der Computer, wie die abgegebenen Stimmen verteilt werden müssen, um zum von allen gewünschten Ergebnis zu kommen. Am Morgen des 12. Septembers erwache der Stembreker-Wähler dann mit einer Wahlempfehlungs-SMS auf dem Handy. „Wenn jeder diese Empfehlung befolgt, werden die Wahlpräferenzen von jedem gedeckt“, erklärte Van Linden. Der Stembreker sei eine „Antwort auf die politische Zersplitterung und auf die fehlende Möglichkeit, um als Wähler Einfluss auf die Koalitionsbildung auszuüben.“
Dass am selben Tag auch der demissionierte Finanzminister Jan Kees de Jager (CDA) den Festivalgängern Rede und Antwort stand, die Europaabgeordnete Marietje Schaake (D66) eine Lesung über digitale Freiheit und Urheberschaft hielt, und der Künstler Johan Fretz sich als Premierminister im Jahr 2025 empfahl, wurde von den Medien kaum wahrgenommen. Zu faszinierend war wohl die Idee hinter dem Stembreker. Auch wenn das niederländische Wahlrecht solche strategischen Absprachen eigentlich nicht zugesteht, fanden die Zeitungskommentatoren Van Lindens Stimmenbrecher-Website „technisch sehr komplex“ und „interessant“.
Spitzenkandidaten im India-Zelt
Hatten die Festivalbesucher den samstäglichen Politikzirkus verpasst, konnten sie immer noch am Sonntag, dem dritten Festivaltag, von 11:00 bis 13:00 Uhr mit den Spitzenkandidaten Diederik Samsom (PvdA), Alexander Pechtold (D66) und Jolande Sap (GroenLinks), sowie dem VVD-Staatssekretär für den Kultur- und Bildungssektor, Halbe Zijlstra, Parlamentsmitglied Sharon Gesthuizen (SP) und der Beigeordneten Mona Keijzer (CDA) diskutieren. Nach acht Minuten Redezeit, durfte das Publikum Fragen stellen.
Eröffnet wurde die Runde von Zijlstra, vielen Festivalbesuchern bekannt durch die Streichung von Kultursubventionen und den Vorstoß, den Mehrwertsteuersatz auf die Lowland-Tickets erhöhen zu wollen . „Das muss man sich erst einmal trauen. Ein Festival besuchen, dessen Mehrwertsteuersatz du um 13 Prozent erhöht hast. Ein Festival, zu dem du laut Geschäftsführung, Hausverbot hast“, kommentierte das Jugendmagazin des NRC Handelsblad, nrc.next, dann auch Zijlstras Auftritt. Doch Zijlstra hielt sich tapfer. Auf die Frage, weshalb man den Griechen und Spaniern mit Milliarden helfen könne, aber hierzulande den dazu relativ kleinen Geldbetrag zur Unterstützung der niederländischen Kultur streichen müsse, antwortete er: „Es ist im Interesse der Niederlande, den Griechen zu helfen. Hätten wir das nicht getan, wären Banken und Renten bedroht. Da muss man als Regierung dann Verantwortung übernehmen. Sonst zahlen am Schluss alle drauf.“ Hierfür gab es tatsächlich donnernden Applaus für den ungeliebten Gast.
Die SP hatte nicht Parteichef Emile Roemer nach Biddinghuizen geschickt, sondern Parlamentarierin Sharon Gesthuizen. Sie konzentrierte sich auf ihr Ressort, Justiz, und kam beim Lowlands-Publikum nicht wirklich gut an. Die Aussage Roemers vom Donnerstag, dass er – sollte er in die Regierungsverantwortlichkeit kommen – kein Bußgeld an Brüssel entrichten würde, wenn die niederländische Staatsschuld die 3 Prozent-Hürde überschreite, relativierte Gesthuizen.
Auch Mona Keijzer, die auf der CDA-Wahlliste auf Platz zwei steht, konnte das Publikum nicht recht für sich gewinnen. Während ihrer Rede, in der sie häufig den Satz „Die Niederlande sind ein prächtiges Land“ wiederholte, verließen einige Zuhörer das Zelt.
Alexander Pechtold (D66) hingegen machte sich bei den Lowlands-Besuchern gleich durch seine humorigen Eröffnungssätze beliebt. Er habe seinen Kindern erzählt, dass er vor übermüdeten, verschwitzten Menschen, die drei Tage in Zelten verbracht hätten, eine Rede halten würde. „Respekt“, hätten seine Kinder daraufhin gesagt. „Dankeschön“, habe Pechtold geantwortet. Doch habe sich dann herausgestellt, dass seine Kinder „Respekt vor denjenigen, die Dir bei diesem Wetter zuhören müssen“ gemeint hatten. Einmal in Fahrt, machte Pechtold gleich noch einen Witz über die Abwesenheit von VVD-Premier Mark Rutte und SP-Parteiführer Emilie Roemer: „Ich weiß, dass Rutte und Roemer noch in der Schlange für die Duschen anstehen, aber die kommen später noch vorbei."
Jolande Sap von den niederländischen Grünen, sorgte nicht mit Witzen, sondern mit Inhalten für Applaus. „Warum bezahlen wir zwar Mehrwertsteuer für ein Zugticket, aber nicht für ein Flugzeugticket – obwohl fliegen die Umwelt viel stärker belastet? Warum gibt es noch immer Masthühner und Billigfleisch im Supermarkt? Warum finden wir es normal, dass Betriebe Menschen entlassen – nicht weil ihnen der Bankrott droht, sondern weil die Aktionäre ihren Gewinn vergrößern wollen?“, fragte sie und präsentierte neben Antworten auch Pläne und bereits Erreichtes. Sap habe einen glänzenden Auftritt hingelegt, bescheinigte nrc.next der Politikerin.
Als letzter kam der Kandidat der Sozialdemokraten, Diederik Samsom, zu Wort. „Bei diesen Wahlen geht es nicht darum, wer am schnellsten Premier wird, sondern wie wir schnell aus der Krise kommen.“ Für den Spitzenkandidaten einer Partei, der vermutlich ein historisch niedriges Wahlergebnis bevorsteht, bekam Samsom vom Lowlands-Publikum bemerkenswert viel Applaus.
Die Umfragewerte vom 19. August zeigten sich vom Start der heißen Wahlkampfphase nicht sonderlich beeindruckt. Stärkste Partei bleibt weiterhin die SP mit 36 Sitzen im Parlament, auch wenn sie einen Sitz gegenüber der Vorwoche verliert. Auf Platz zwei steht im Moment die VVD mit 32 Sitzen. Es folgt die PVV mit 18 Sitzen, mit 16, 15 und 14 Sitzen dicht dahinter die PvdA, die D66 und der CDA. GroenLinks kann weiterhin nur mit 4 Sitzen im Parlament rechnen.
Mehr über die Wahlprogramme, alle Spitzenkandidaten und das niederländische Wahlsystem erfahren Sie in unserem Dossier Parlamentswahlen 2012