Nachrichten April 2012
PRESSESTIMMEN: „Ende einer Freakshow“
Berlin/Den Haag. TM/AF/FAZ/NRC/SP/STZ/SZ/taz/VK/welt.de. 24. April 2012.
Die politische Situation in den Niederlanden ist alles andere als rosig: Ein Minderheitenkabinett, das zurückgetreten ist, und gleichzeitig der dringende Auftrag aus Brüssel, mehrere Milliarden Euro einzusparen. Seit 14 Uhr debattiert das niederländische Parlament darüber, wann Neuwahlen stattfinden sollen und wie der Haushaltsplan für das kommende Jahr aussehen wird. Die niederländischen und deutschen Zeitungskommentatoren diskutierten bereits im Vorfeld intensiv.
Deutsch-Niederländische Partnerschaft
In den Kommentaren aus der deutschen Presselandschaft wurde das Scheitern der niederländischen Minderheitsregierung vor allem als bedauerlich für die deutsch-niederländische Zusammenarbeit angesehen. „Für die Bundesregierung ist das Scheitern der niederländischen Regierung bitter. Ihr kommt ein überaus wichtiger Verbündeter beim Thema Sparpolitik abhanden“, so die Süddeutsche Zeitung. In der Stuttgarter Zeitung geht man sogar noch einen Schritt weiter und meint, dass es insbesondere Deutschland treffe, „denn die Niederländer standen bisher immer fest an der Seite der Deutschen, wenn es um Forderungen nach mehr Stabilität ging.“ Die Welt titelt ihren Kommentar – auch mit Blick auf die aktuellen Veränderungstendenzen in Frankreich – dann auch passenderweise „Deutschland allein zuhaus“. Angela Merkel verliere in Europa momentan „einen Verbündeten nach dem anderen“, so die Süddeutsche Zeitung: „Im fünften Jahr der Krise weigern sich immer mehr Regierungen in Europa, die versprochenen Sparvorhaben einzuhalten. Weil die Bürger protestieren. Weil die Unternehmen pleitegehen. Und weil die Regierungen Sorge haben, aus dem Amt gejagt zu werden.“
Schwarzer Peter an Wilders
An wem es lag, dass die Regierung von Ministerpräsident Mark Rutte gescheitert ist, darin sind sich die Kolumnisten in beiden Ländern einig. Laut der Tageszeitung de Volkskrant war abzusehen, dass das Minderheitenkabinett unter Premier Rutte an seinem Duldungspartner PVV scheitern würde. Schließlich beinhalte „dulden“, dass man etwas zwar nicht gutheiße, es aber dennoch (vorläufig) unterstütze – aus Mangel an Alternativen. „Für denjenigen, der geduldet wird, ist die Duldung deshalb ein Zustand von temporärer Gnade, mehr nicht. Und jeder, der duldet, ist ein vertrauensunwürdiger Partner. […] Denn jederzeit besteht die Möglichkeit, dass der Duldende genug hat und einen Schlussstrich zieht: Bis hierhin und nicht weiter.“ Auch für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist der Schuldige leicht auszumachen: „Der Dreibund aus Rechtsliberalen, Christlichen Demokraten und Rechtspopulisten ist nicht über die Vorgaben einer fremden Macht auseinandergefallen, sondern an seiner Sollbruchstelle: Die Aussicht auf Etatkürzungen verleidete Wilders das Doppelleben als Oppositionsführer und Regierungseinpeitscher.“ Es sei das „Ende einer Freakshow“ wie die tageszeitung ihren Kommentar überschrieb. Nun fliege dem „smarten Rechtsliberalen“ Mark Rutte nach Ansicht der Südwestpresse sein „Experiment […], sich mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders einzulassen […]nach nicht einmal zwei Jahren um die Ohren.“
Dass der Duldungspartner PVV beziehungsweise Geert Wilders genau zum jetzigen Zeitpunkt einen Schlussstrich unter seine Zusammenarbeit mit der Regierung gezogen hat, hält de Volkskrant für nicht zufällig. Demnächst erscheine ein neues Anti-Islam-Buch von Wilders in den USA, das laut der Zeitung „als Bewerbungsbrief für eine Spitzenfunktion in den USA“ gelesen werden kann. „Es ist sehr schmerzhaft […] für das ganze Land das Wilders uns als Sprungbrett für seinen individuellen Erfolg benutzt.“ Es wird prophezeit, dass Wilders in Kürze in die Vereinigten Staaten auswandern wird.
Was aber bleibt außer dem gescheiterten Versuch zu Sparen von dieser Regierung Rutte in Erinnerung fragt der Kommentator der tageszeitung: „Ein rabiater Anti-Zuwanderungskurs, der dem sensiblen Projekt der Integration einen Bärendienst erwies. Das Drängen auf EU-Ebene, den Familiennachzug zu begrenzen und den Schengenraum nicht zu erweitern. […] Den Tiefpunkt dieses Gruselkabinetts bildete der jüngste Aufruf der PVV zur Online-Denunziation osteuropäischer Arbeitsmigranten – und ein Premier, der sich davon nicht distanzieren mochte.“
Zeitpunkt für Neuwahlen
Bezüglich der Frage, wann das neue Parlament gewählt werden sollte, könnten die politischen Kommentare in den niederländischen Tageszeitungen unterschiedlicher nicht sein: während die einen die Meinung vertreten, schnelle Neuwahlen wären die beste Option, da ein demissioniertes Kabinett keine wichtigen Reformen durchführen könne, halten die anderen dagegen, dass man für Neuwahlen jetzt keine Zeit habe, und das Parlament gemeinsam konstruktiv einen Haushaltsplan für 2013 verabschieden sollte. Das NRC Handelsblad findet die Debatte um den Zeitpunkt der Neuwahlen insgesamt problematisch: „Wahlen vor dem Sommer oder erst im Herbst; wie auch immer – es wird wertvolle Zeit verschwendet. Die Niederlande können sich den Luxus politischer Spielchen bezüglich des Wahldatums eigentlich überhaupt nicht erlauben.“
In einem Kommentar für de Volkskrant wurde sogar geschrieben, das ein Italienszenario vorstellbar sei: Ein neutrales Kabinett, dessen vornehmste Aufgabe es ist, den Haushalt zu sanieren. Der Autor denke dabei an Männer wie Hans Wijers, aktuell Vorstandsvorsitzender des niederländischen Multinationals AkzoNobel, die Wirtschaftsprofessoren Lans Bovenberg und Herman Wijffels oder den Geschäftsführer des französischen Telekommunikationsunternehmens Alcatel Lucent, Ben Verwaaijen, die noch vor den nötigen Neuwahlen die Probleme des Landes lösen sollten. „Ein ‚Monti im Polder‘ ist möglich: eine temporäre Geschäftsregierung, die in wenigen Wochen eine Reformagenda für die dringendsten Punkte (Wohnungsmarkt, Rente, Arbeitsmarkt, Infrastruktur-Investitionen) vorlegt.“
Musterland ade
Enttäuscht zeigen sich die deutschen Tageszeitungen vor allem darüber, dass gerade die Niederlande aufgrund ihres Haushaltsdefizites so tief in der Krise sitzen. Für die Süddeutsche Zeitung klingt es dabei wie eine Ironie der Geschichte: „Die im niederländischen Maastricht beschlossenen Kriterien zur Begrenzung der Staatsverschuldung werden ausgerechnet von den Niederländern öffentlich in die Tonne befördert.“ Durch die für dieses und kommendes Jahr prognostizierten Defizite würde aus dem ehemals fiskalpolitischen Mahner ein notorischer Sünder. „Am Montag noch mahnte der niederländische Finanzminister Jan Kees de Jager seine Kollegen aus den Euro-Mittelmeerländern mit erhobenem Zeigefinger zum Sparen. Jetzt müssen de Jager und die christlich-liberale Haager Regierung eingestehen: Wir können es auch nicht, das Sparen. Holland ist von seinem hohen Sockel gestürzt“, so der Kommentar der Stuttgarter Zeitung.
Unser westlicher Nachbar sitzt nach der Meinung der tageszeitung „ziemlich in der Klemme. Die Glaubwürdigkeit der Niederlande sei nach Ansicht der Stuttgarter Zeitung dahin und Europa geht ein wichtiger Pfeiler verloren: Holland ist in Not, in finanziellen Nöten. Durch den Sturz der Haager Regierung bricht ein weiterer Stabilitätsanker in der Eurozone weg.