Nachrichten Oktober 2011
ASYL: Abschiebeentscheid von Mauro setzt Minister und Koalition unter Druck
Den Haag. TM/dT/NOS/TR/VK. 29. Oktober 2011.
In den Niederlanden beherrscht seit Tagen vor allem eine Frage die öffentliche Diskussion: Soll der 18-jährige Mauro Manuel, der gebürtig aus Angola stammt und seit seinem zehnten Lebensjahr in einer Pflegefamilie im Süden der Niederlande wohnt, in sein Heimatland zurückgeschickt werden? Der zuständige Minister Gerd Leers (CDA) für Asyl- und Migrationsfragen sagte jetzt, dass alle Optionen des Rechts ausgeschöpft seien und hat eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt. Gegen eine Ausweisung kämpft jedoch bereits seit zwei Jahren die Pflegemutter von Mauro und sie weiß mittlerweile eine große Mehrheit der niederländischen Bevölkerung hinter sich. Während das Minderheitskabinett von Ministerpräsident Mark Rutte (VVD) sich während des gestrigen Ministerrates hinter Gerd Leers gestellt hatte und der Duldungspartner der Regierung – die PVV des Populisten Geert Wilders – die Ausweisung sowieso möglichst schnell über die Bühne bringen möchte und Minister Leers noch dazu stark öffentlich unter Druck setzt, um endlich Erfolge bei der Zurückdrängung von Migranten und Asylsuchenden zu buchen, zweifeln Teile der Fraktion des kleineren Koalitionspartner CDA hingegen die Entscheidung ihres Ministers an. Letztendlich könnte an dieser Frage sogar die Regierungskoalition zerbrechen.
Wie die Bilder sich doch gleichen: Etwa ein Jahr ist es nun her, dass die Frage, ob der CDA eine Minderheitsregierung mit der VVD und unter Duldung des Rechtspopulisten Wilders und seiner Freiheitspartei eingehen soll, die niederländischen Christdemokraten in eine tiefe Krise stürzten. Stundenlang wurde damals über das Für und Wider der Zusammenarbeit mit Wilders‘ PVV diskutiert und verhandelt. Viele Gespräche fanden hinter „der Tür“ des CDA-Fraktionssaal im Gebäude der Zweiten Kammer statt, die damals zu einem geflügelten Wort wurde, da Journalisten vor der Tür stundenlang auf „weißen Rauch“ aus der Fraktion warteten (NiederlandeNet berichtete). In der jetzigen Frage um Mauro Manuel wurde wieder diskutiert und verhandelt – wieder hinter der berühmten Tür –, denn wie auch vor einem Jahr gab es mit Ad Koppejan und Kathleen Ferrier mindestens zwei Abgeordnete innerhalb der Fraktion, die sich als „Dissidenten“ erwiesen und sich gegen eine zu große Beeinflussung der CDA-Politik durch Geert Wilders zur Wehr setzten: War es damals die Frage einer Duldung der Minderheitsregierung durch Wilders, gegen die sie sich mit allen Mitteln auflehnten, ist es jetzt die Entscheidung zur Ausweisung des jungen Angolaners, welche sie laut eigener Aussage nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Wie auch vor einem Jahr wird eine letztendliche Klärung der Frage, wie die CDA-Fraktion in der kommenden Woche im Parlament stimmen wird, auf einem Parteikongress beantwortet werden, der heute in Utrecht stattfinden wird. Vor einem Jahr konnte der Kongress die beiden Dissidenten überstimmen und überzeugen. Ob dies heute auch der Fall sein wird, ist mehr als fraglich. Der CDA befindet sich aktuell in einer tiefen inneren Krise: Der Unmut der Anhänger wird größer, man findet keine geeignete Führungsperson, welche die Partei einigen und hinter sich bringen könnte und die Unterstützung der Zusammenarbeit der Regierung mit der PVV nimmt nach einem Jahr der Koalition Rutte mehr und mehr ab.
Ganz normaler limburger Junge
Der 18-jährige Mauro Manuel versteht bei dem ganzen politischen Spiel, was um seine Person betrieben wird, unterdessen nicht so recht, warum er eigentlich ausgewiesen werden soll: „Hier ist mein Leben“ sagte er in einem Interview gegenüber der Tageszeitung Trouw. „Wie muss ich in Angola zurechtkommen? Ich kenne dort niemanden mehr und wohnte damals in einer Wellblechhütte in einem Elendsviertel“. Der Junge spricht seine Muttersprache Portugiesisch nur noch sehr gebrochen und hat ferner keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter, die ihn vor gut zehn Jahren alleine in ein Flugzeug Richtung Norden setzte. Mauro ist ein ganz normaler niederländischer Junge: Er ist komplett verwestlicht, spricht fließend Niederländisch mit Limburger Akzent, macht aktuell eine Ausbildung im IT-Bereich, spielt in der Freizeit Fußball und ist Fan vom PSV Eindhoven.
Mauros Pflegeltern kämpfen bereits seit gut zwei Jahren dafür, dass Mauro in den Niederlanden bleiben kann und der Junge hat dabei – vor allem in den letzten Tagen – einen enormen Popularitätsstatus erlangt. Sie hatten bereits zweimal versucht, den Jungen zu adoptieren, was aber nicht erfolgreich war. Die Richter lehnten den Antrag ab, da die Papiere, auf denen die biologische Mutter von Mauro seinerzeit ihre Einwilligung gegeben hat, unrechtmäßig sein sollen. Pflegemutter Anita Marijanovic (41) versteht zwar, dass der Minister sich an die Gesetz halten muss. Sie findet aber, dass das Gesetzt hier zu kurz greift. Eine Ausweisung ist in ihren Augen eine Schändung von Kinderrechten: „Er mag jetzt 18 sein, aber er ist echt noch nicht erwachsen. Man hat zudem noch nicht einmal geschaut, ob er in Angola überhaupt alleine zurechtkommen kann“, so Marijanovic gegenüber Trouw.
Mauro ist nicht alleine
Mauro steht in der aktuellen Diskussion stellvertretend für die Situation vieler anderer Jugendlicher, die mit vergleichbaren Lebensumständen in den Niederlanden leben. Ein ähnliches Schicksal wie dem 18-jährigen Mauro sehen sich laut Aussagen von Minister Gerd Leers aktuell etwa 75 Jungen und Mädchen in den Niederlanden ausgesetzt. Sie kamen alle als alleinstehende Flüchtlingskinder, die jünger als zwölf waren, als sie in die Niederlande kamen. Alle sind mindestens acht Jahre in den Niederlanden und sind nie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen.
Auf das Schicksal vorbildlich integrierter, teilweise gut bis sehr gut ausgebildeter junger Menschen ohne niederländischen Pass hatte vor gut acht Wochen auch die Skandalshow „Weg van Nederland“ (dt. „Weg aus den Niederlanden“) im niederländischen Fernsehen hingewiesen (NiederlandeNet berichtete) und somit ein breites Publikum erreicht. Deshalb überrascht auch nicht, dass die jüngsten Umfrageergebnisse ein deutliches Bild sprechen: Laut einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts TNS/NIPO im Auftrag des niederländischen Flüchtlingswerks sowie der Organisation Defence for Children haben sich demnach 70 Prozent der befragten Personen in den Niederlanden dafür ausgesprochen, dass Kinder, die länger als acht Jahre in den Niederlande sind, eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen sollen. Von den Anhängern des CDA votierten sogar 71 Prozent dafür; bei den VVD-Wählern waren es 53 und bei den PVV-Sympathisanten 43 Prozent. Konkret nach Mauro gefragt, sind es sogar rund 75 Prozent der Bevölkerung – beziehungsweise 74 Prozent der CDA-Anhänger –, die für ein Verbleib Mauros plädieren.
Ob es – wie Minister Leers behauptet – wirklich keine Optionen mehr für einen weiteres Bleiben Mauros gibt, bezweifeln zumindest zwölf Jura-Professoren in einem Meinungsartikel, der in der heutigen Ausgabe von de Volkskrant erschienen ist. Darin behaupten sie, dass Gerd Leers in Wirklichkeit ein großes Maß an Freiheit hat, um seinen Ermessensspielraum auszukosten. So verdiene beispielsweise die Familie, die Mauro gemeinsam mit seinen Pflegeeltern und deren Sohn formt, den verfassungsrechtlichen Schutz der europäischen Menschenrechtscharta: „Der Richter wird zweifelsohne auch finden, dass der Minister aufgrund der Familiensituation berechtigterweise sehr wohl eine Aufenthaltserlaubnis an Mauro geben kann. Dies würde eine solide Untermauerung für die Benutzung des Ermessensspielraums sein“, so die Professoren.
Vorentscheidung auf heutigem Kongress
Gerd Leers ließ unterdessen verlauten, dass er weiterhin bei seinem Standpunkt bleibt. Wenn allerdings die Öffentlichkeit etwas signalisiert, dann müsse man diese Stimmung gut analysieren, so der Minister. Es dürfe aber nicht zu willkürlichen ad hoc-Reaktionen kommen. Leers betonte dabei erneut, dass seine Entscheidung – wie auch die seiner Vorgänger – auf den bestehenden Gesetzen basiere. Unberührt lasse die Diskussion um Mauro den Minister aber auf keinen Fall: „Es ist sehr emotionell geladen, das sehe ich auch. Die Emotionen habe ich auch. Es ist schwierig, dabei dann ein Pokerface zu machen, die Integrität der bestehenden Regeln müsse aber gewahrt bleiben.“ Leers versteht die aktuelle Diskussion, möchte aber keine Gelegenheitsentscheidungen salonfähig machen: „Wenn wir Lösungen suchen, muss man diese strukturell machen und nicht nur für eine Person. Dann muss man nicht sagen: hier ist einer, der Mitleid verdient und morgen kommt der nächste, der Mitleid verdient“, so der Minister.
Diese Einstellung wird Gerd Leers auf dem heutigen Parteikongress des CDA in Utrecht erneut darlegen und versuchen, die Abgesandten aus den regionalen Gliederungen der Partei für sich zu gewinnen. Der Fall Mauro ist nicht das einzige Thema, welches in Utrecht behandelt werden wird, die Frage, ob für Mauro Manuel eine Ausnahme gemacht werden soll, wird aber eine sehr prominente Rolle spielen. Vizepremier und Wirtschaftsminister Maxime Verhagen (CDA) ist dabei überzeugt, dass seine Partei auf dem Kongress eine „sorgfältige Abwägung“ über das Dossier von Mauro machen wird. Verhagen hatte gestern nach dem Ende des Ministerrates erklärt, ein Spannungsverhältnis von auf der einen Seite der rechtskräftigen Entscheidung, um Mauro auszuweisen, und andererseits den direkten Interessen des Individuums zu sehen.
Unterdessen ist nicht abzusehen, mit welchem Ergebnis der Kongress heute zu Ende gehen wird. De Volkskrant skizziert dabei drei mögliche Szenarien mit teilweise heftigen Folgen für die eigene Partei wie auch die Regierungskoalition:
- Die erste Möglichkeit wäre, dass sich eine große Mehrheit gegen Leers ausspricht und somit bildlich eine Bombe platzen würde: Denn immer mehr CDA-Anhänger finden, dass eine Weiterführung der politische Zusammenarbeit mit der PVV nicht weiter wünschenswert ist. Gemeinsam mit der aktuellen Führungskrise und Unzufriedenheit innerhalb der Partei könnte sich dies zu einer explosiven Mischung vereinigen. Zusammengenommen sind dies genug Gründe für einen interessanten und hitzigen Kongress. Gäbe es am Ende ein Votum für eine Ausnahme, hätte die Parteiführung ein großes Problem – es könnte zu einem parteiinternen Chaos führen und die Führungsfrage würde noch stärker als bisher gestellt werden.
- Eine zweite mögliche Entwicklung wäre die, dass man – wie schon bei dem wichtigen Kongress vor einem Jahr bezüglich der Frage der Duldung der Minderheitsregierung durch die PVV – am Ende des Tages zu dem Ergebnis kommt, dass es gerade das Schöne am CDA ist, dass es verschiedene Meinungen geben kann. Es würde dann wohl einen Antrag für den Verbleib von Mauro geben und auch Kritik an der PVV, aber letztlich bekommt die Fraktion den Segen des Kongresses. Beide Dissidenten dürften dann entgegen der Fraktionslinie stimmen, was keine Konsequenzen hätte, da auch die Oppositionspartei SGP mit der Regierung stimmen wird.
- Als dritte und letzte Option beschreibt de Volkskrant den Fall, dass die Diskussion um Mauro Manuel genau das ist, was die Partei in den aktuell schwierigen Zeiten benötigt, um ein erneutes Einheitsgefühl herzustellen. Leers würde so die Mehrheit von seinem Standpunkt überzeugen, sodass allenthalben Einigkeit über die strittigen Fragen entsteht und man geeint und erstarkt aus dem Kongress heraus geht.
Welche der drei Optionen am Ende die richtige sein wird, bleibt unterdessen abzuwarten. Klar ist nur, dass Geert Wilders den Kongress sehr genau beobachten wird. Der PVV-Chef wollte in den vergangenen Tagen noch keine konkrete Aussage über eventuelle Konsequenzen bei einer Entscheidung für einen Verbleib des 18-Jährigen Mauro tätigen. Er wolle vielmehr „abwarten“, um zu sehen, ob der CDA noch ein Partner ist, dem man vertrauen kann. Konkretere Töne schlug Wilders – bezogen auf die allgemeinen Aufgaben von Gert Leers als zuständiger Minister für Asyl und Migration – allerdings zu Beginn dieses Monats in einem Gespräch mit dem Boulevardblatt De Telegraaf an. Würde es Leers nicht bald schaffen, Ergebnisse zu produzieren, dann schickt ihn Wilders in seiner Rolle als Duldungspartner der Minderheitsregierung gerne nach Hause. Wilders ärgert sich schon längere Zeit daran, dass Leers Migration als „Bereicherung“ für die Gesellschaft ansieht. „Lass uns deutlich sein, dass wenn die Ergebnisse in Bezug auf das Zurückdrängen von Migration und Asyl unbefriedigend sind, Leers wenn es nach uns geht geradewegs zurück nach Maastricht gehen kann und das Kabinett dann ein großes Problem mit der PVV hat“, so Wilders gegenüber De Telegraaf. Der Fall Mauro könnte also letztendlich für einen Bruch der Minderheitsregierung und für Neuwahlen sorgen. Erst aber einmal muss sich heute der CDA-Kongress äußern – alles Weitere ist Spekulation.
Der Kongress kann – auch in Deutschland – via Livestream im Internet verfolgt werden.
Von den Freunden und Bekannten von Mauro ist unterdessen eine Website eingerichtet worden, auf der für einen Verbleib des Jungen appelliert wird.