Nachrichten November 2011
GRENZKONTROLLEN: Niederlande will automatische Kameraüberwachung einführen
Den Haag. TM/derwesten.de/NRC/RP/WDR. 18. November 2011.
Von der durch das Schengener Abkommen seit den 1990er Jahren geltenden Freiheit des Reisens ohne Grenzkontrollen scheint heute nicht mehr viel übrig geblieben zu sein: Zuerst war es Frankreich, welches als erstes der Länder des Schengen-Raums zeitweise Kontrollen an seinen Grenzen wieder einführte, um die Einreise von afrikanischen Flüchtlingen sowie Fußball-Hooligans zu verhindern. Dann zog Dänemark nach, wo man seit dem vergangenen Sommer bei der Einreise wieder nach seinen Papieren gefragt wird. Als nächstes kündigt sich in den Niederlanden jetzt ebenfalls eine Verschlechterung der Freizügigkeit an: Ab dem 1. Januar 2012 sollen an den Landesgrenzen zu Belgien und der Bundesrepublik nach dem Willen der konservativliberalen Minderheitsregierung in Den Haag Kamerasysteme eingeführt werden, welche alle passierenden Fahrzeuge automatisch auswerten und in verschiedener Datenbanken mit Fällen von Menschenhandel oder anderer Schwerkriminalität abgleichen können. Nach den Schengen-Regeln sind systematische Grenzkontrollen jedoch nur in Ausnahmefällen möglich – etwa, wenn Staaten ihre innere Sicherheit oder öffentliche Ordnung in Gefahr sehen. Deshalb formiert sich gegen diese Pläne jetzt von verschiedenen Seiten Protest.
Das System, welches den kryptischen Namen @migo-boras (automatisch mobiel informatie gestuurd optreden – better operational result and advanced security) trägt, wird in einer ähnlichen Form unter dem Namen ANPR bereits seit längerem auf Autobahnen im niederländischen Inland zur Bekämpfung von Schwerkriminalität eingesetzt. Am niederländisch-belgischen Grenzübergang Hazeldonk wurde seit 2005 zudem bereits für den Einsatz an den Grenzen getestet, bevor das neue System jetzt an allen 15 großen Grenzübergängen der Niederlande nach Belgien und Deutschland installiert werden soll. Für die restlichen Übergänge ist der Einsatz von sechs mobilen Einheiten von Grenzpolizisten auf Geländewagen geplant. Die automatische Überwachung ist in der Lage, von jedem passierenden Fahrzeug sowohl von der Front als auch von der Seite ein Foto zu machen und dieses anschließend in Sekundenbruchteilen auszuwerten und mit eventuellen Einträgen im Polizeicomputer zu vergleichen. Ist mit dem Fahrzeug etwas auffällig, dann schlägt eine Software Alarm und es kann für eine weiterführende Kontrolle kurz nach der Grenze herausgepickt werden. „Wir haben damit ein neues Instrument, mit dem wir effektiver kontrollieren können“, wird Alfred Ellwanger, Sprecher des Grenzschutzes Koninklijke Marechaussee auf wdr.de zitiert. „Im Grunde tun die Kameras dasselbe wie die Kollegen, die an der Autobahn stehen und Autos herauswinken. Dabei hilft ihnen die Erfahrung, Treffer zu landen. Diese Erfahrung geben wir in Zukunft in den Computer, der dann für uns auswählt.“
Datenschutzrechtliche Bedenken
Inwieweit mit dem neuen Überwachungssystem die Datenschutzbestimmungen unterlaufen werden, dazu gibt es gegensätzliche Ansichten. Noch ist zudem – sechs Wochen vor der geplanten Einführung des Systems – überhaupt nicht deutlich, welche Daten die neuen Kameras überhaupt erheben und wie lange diese vorgehalten werden. Wie derwesten.de berichtet, hat ein Sprecher des Innenministeriums jüngst erklärt, dass „erst einmal“ keine Fotos gespeichert werden sollen. Kritiker gehen jedoch davon aus, dass es genau in diese Richtung gehen wird. Über Aufbewahrungsfristen von vier Wochen wird bereits spekuliert. Vincent Böhre von der Stiftung Privacy First in Amsterdam ist von dem neuen System überhaupt nicht angetan: „Bald ist unser Grenzschutz technisch im Stande, jedes einzelne Auto zu scannen – auch Deutsche“, so Böhre gegenüber wdr.de. „Das sind doch verkappte Grenzkontrollen, damit unterlaufen die Niederlande die Abmachungen von Schengen“. Der nordrhein-westfälische Datenschutzbeauftragte gibt zu bedenken, dass ein solches System wie @migo-boras in Nordrhein-Westfalen verboten ist.
Auf deutscher Seite hagelt es Kritik von der Polizeigewerkschaft GdP. „Wir lehnen so eine permanente Überwachung konsequent ab“, wird der stellvertretende Bundesvorsitzende Frank Richter in der Rheinischen Post zitiert. Richter weist dabei auf die geltenden Schengen-Regeln hin, wonach eine generelle Überwachung an den Grenzen nur kurzfristig und in begründeten Einzelfällen durchgeführt werden dürfe. Die derzeitigen sporadischen Grenzkontrollen seien zudem völlig ausreichend. Folgt man der Argumentation der Rotterdamer Strafrechtsanwältin Inez Weski, dann verstoßen die neuen Techniken gegen die Menschrechte. Laut Weski handeln die Niederlande mit der „systematischen Observation ohne direkten Tatverdacht“ durch Kameraüberwachung entgegen den Regeln des europäischen Menschenrechtsvertrages. Wie die Strafrechtlerin im NRC Handelsblad feststellte, darf auf der rechtlichen Grundlage dieses Vertrages nur dann eine Observation durchgeführt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen und zuvor die Zustimmung durch einen Richter erfolgt ist: „Der Richter wird hier übergangen“, so Weski, „genau wie die Interessen der Bürger auf ihre Privatsphäre“.
Zu Beginn dieses Jahres urteilte die niederländische Datenschutzbehörde College Bescherming Persoonsgegevens – bezogen auf das bereits jetzt eingesetzte Inlandsüberwachungssystem ANPR –, dass einen Einbruch in die Persönlichkeitsrechte von einer Vielzahl von Bürgern durch die Speicherung von Kennzeichen für die Verbrechensbekämpfung nicht gerechtfertigt sei. Zudem scheint der Nutzen des Systems bis heute nicht bewiesen zu sein. Die Datenschutzbehörde schrieb, dass nur sehr wenige Studien bezüglich der Effektivität der Kriminalitätsbekämpfung durch die Kennzeichenerkennung existieren. Kritisiert wird von verschiedenster Seite auch, dass es schwer sein dürfte, den Kreis derjenigen bei der Polizei zu beschränken, die Zugang zu den neu gewonnenen Daten haben sollen. „Es muss gut geregelt werden, dass nur eine beschränkte Gruppe von Fahndungsbeamten Zugang bekommt und dass nur kontrollierbare Suchaktionen im Rahmen einer Fahndungsuntersuchung durchgeführt werden”, so der Tilburger Professor für Regulierung von Technologie Bert Jaap Koops gegenüber dem NRC Handelsblad. Da viele Fragen zur neuen automatischen Grenzüberwachung bisher noch ungeklärt sind, fordert auch die EU-Kommission nähere Informationen von den Niederlanden und prüft, ob die Kontrollen mit EU-Recht vereinbar sind: „Die Vereinbarkeit des Systems mit den Schengen-Regeln wird sehr von der konkreten praktischen Umsetzung abhängen“, sagte der Sprecher von Innenkommissarin Cecilia Malmström gegenüber der Rheinischen Post.
Parlamentsmehrheit scheint gesichert
Die Pläne für einen Ausbau der Überwachung von Fahrzeugen an der niederländischen Landesgrenze sind Teil des Koalitionsvertrages der durch die PVV von Geert Wilders geduldeten konservativliberalen Minderheitsregierung aus konservativem CDA und liberaler VVD. Dass die Pläne die noch ausstehende Parlamentsmehrheit bekommen werden, scheint also trotz vieler Kritiker aus der Opposition gewiss. Lediglich über die Details wird momentan noch gestritten. Das zuständige Innenministerium scheint von den geäußerten Bedenken unterdessen wenig beeindruckt zu sein: „Wir sind überzeugt, dass die Regeln voll vereinbar mit EU-Recht sind“, wird ein Sprecher des Ministeriums in der Rheinischen Post zitiert. „Wo ist der Unterschied, ob ein Polizist auf dem Motorrad kontrolliert oder eine Kamera?“
Zum Aufspüren von Parksündern und dem Eintreiben von Knöllchen soll das neue System übrigens nicht verwendet werden, weshalb wohl auch in Zukunft viele Deutsche weiterhin ohne Sorge zum Einkaufen ins Nachbarland fahren können.