Nachrichten März 2011


JAPAN: Niederlande reagieren gelassen

Den Haag. TM/NRC/OZ/TR/VK. 15. März 2011.

In den Niederlanden schaut man dieser Tage nicht nur mit Unglaube und Entsetzen nach Japan, von wo uns nach Erdbeben, Tsunami und den anschließenden Störfällen in mehreren Atomkraftwerken immer wieder beunruhigende Nachrichten erreichen. Nein, man schaut auch mit einem gewissen Erstaunen nach Deutschland, wo die jüngsten Ereignisse in Japan die Debatte über das Für und Wider der zivilen Nutzung der Kernenergie wieder haben aufflammen lassen. Dies zum einen, weil man eine derartige gesellschaftliche Gegenbewegung, wie sie sich mit der Menschenkette am Samstag in Baden-Württemberg oder den gestrigen Mahnwachen in rund 450 deutschen Städten offenbarte, in den Niederlanden dieser Tage nicht finden kann. Zum anderen aber auch, weil man das von der deutschen Bundesregierung jüngst beschlossene dreimonatige Moratorium als vorschnelle Reaktion abstempelt.

„Es gibt da zu viele Emotionen. Wir müssen uns nüchtern anschauen, was genau passiert ist“, sagt der liberale Parlamentsabgeordnete René Leegte (VVD) bezogen auf die in Deutschland nun erneut losgetretene Kernenergiediskussion. Und auch die CDA-Abgeordnete  und ehemalige Umweltministerin Gerda Verburg ist der Ansicht, dass man in Deutschland übereilt reagiert: „In Japan wird evaluiert werden, was auch nur evaluiert werden kann, und daraus müssen wir lernen.“ Verburg ist gegen jede Art von „pawlowscher Reaktion“. Die beiden Reaktionen sind beispielhaft für viele niederländische Politiker sowohl aus Regierungs- als auch Oppositionskreisen. Viele betonten, dass es taktlos sei, um jetzt über die Köpfe der japanischen Opfer hinweg in den Niederlanden eine Grundsatzdiskussion über die Kernenergie zu beginnen. Aus diesem Grund besteht auch für das Kabinett Rutte momentan kein Grund, um die Pläne für den Bau des zweiten Atomkraftwerks Borssele 2 (NiederlandeNet berichtete) aktuell zu überdenken. Zwar können die Entwicklungen in Japan laut Wirtschaftsminister Maxime Verhagen (CDA) auch Auswirkungen auf die Sicherheitsanforderungen an das neue AKW haben, die Pläne, um 2015 einen zweiten Kernmeiler zu errichten, bleiben aber wie gehabt bestehen. In der Zweiten Parlamentskammer in Den Haag soll es Ende dieses Monats eine Debatte über die das geplante neue Atomkraftwerk (AKW) Borssele 2 geben. Momentan ist der Reaktor in der Gemeinde Borsele in der südwestlichen Provinz Zeeland das einzige stromliefernde Kraftwerk in den Niederlanden. Es produziert etwa vier Prozent des im Land selbst benötigten Stroms.

Die recht kernenergiefreundliche Regierungspolitik in den Niederlanden ist ein Phänomen, welches sich erst seit der letzten Regierung unter Ministerpräsident Jan Peter Balkenende (CDA) entwickelt hat. Damals durchbrach man das Tabu und brachte das Thema wiederum auf die Agenda. Die aktuelle Regierung unter Premier Mark Rutte beschloss dann anschließend den Bau eines neuen Reaktors. Zuvor war es – auch durch die Katastrophe in Tschernobyl im Jahr 1986 – lange Zeit nicht angedacht, um zukünftig wieder neue Kraftwerke zu errichten. Im Jahr 1994 beschloss die Zweite Kammer dann auch konkret, dass in den Niederlanden keine Atomkraftwerke mehr gebaut werden sollen und man den bestehenden Meiler Borssele mittelfristig auslaufen lassen wollte. Strom aus Kernenergie sollte zukünftig nur noch aus anderen Ländern importiert werden.

Der Widerstand, der sich in den letzten Monaten und Jahren bei unseren westlichen Nachbarn gegen die Atomkraft geformt hatte, blieb dabei stets überschaubar. Kam es zu Kundgebungen oder Aktionen gegen die Kernkraft – wie etwa an der Urananreichungsanlage im grenznahen Almelo oder direkt am Kraftwerk Borssele (NiederlandeNet berichtete) –, dann versammelten sich stets nicht mehr als einige Dutzend Menschen. Wie wenig selbst in der Nähe der niederländischen Atomanlagen von Unsicherheit oder Angst in der Bevölkerung zu spüren ist, lassen Zahlen erahnen, welche in Trouw genannt wurden. Die Tageszeitung berichtet in ihrer heutigen Ausgabe, dass heute vor genau einem Jahr mit einer Kampagne begonnen wurde, um in den Westerschelde-Gemeinden rund um das AKW Borssele und den benachbarten Reaktoren im belgischen Doel bei Antwerpen Jodtabletten gratis zu verteilen. Jod soll in den ersten Tagen nach einem möglichen Kernunfall die Strahlenbelastung von Teilen des menschlichen Körpers verhindern. Interessant dabei ist nun, dass sich von den rund 22.500 Einwohnern der Gemeinde Borsele damals nur etwa 10 Prozent gemeldet haben und die Präparate haben wollten. Bei den Kraftwerken in Doel hingegen kam es zu einer Nachfrage von rund einem Viertel der Anwohner. Jaap Gelok, Bürgermeister der Gemeinde Borsele war von der geringen Nachfrage nach Jodpräparaten in seiner Gemeinde seinerzeit überrascht: „Das ist in der Tat nicht viel“, so Gelok. „Wie es kommt, wissen wir nicht. Es kann sein, dass Menschen Vertrauen in die Sicherheit haben. Das Kraftwerk steht dort jetzt schon 30 Jahre. Die Leute haben sich dran gewöhnt. Es wird hier auch ständig viel zum Thema Sicherheit kommuniziert.“

Ob und wie sich die aktuellen Ereignisse rund um die havarierten Atommeiler in Japan auch auf die niederländische Widerstandsbewegung auswirken werden, kann sich bereits morgen zeigen. Dann ist aufgrund der Ereignisse in Japan für 12:30 Uhr eine Demonstration gegen Kernenergie in der Stadt Middelburg geplant, zu der die Gruppe „Borssele 2 Nee“ und die Umweltorganisation WISE aufrufen. Der Demonstrationszug startet am Bahnhof von Middelburg und führt anschließend zur Konzernzentrale des Energieunternehmens Delta, wo man eine Petition vorbringen will. Delta hat bereits sehr weitgediehene Pläne für den Bau eines zweiten Reaktors bei Borsele.