Osmanische und europäische Musik im Kompendium des ‘Alī Ufuḳī (um 1640):

Erschließung, Analyse und (trans-)kultureller Kontext

(DFG-Projekt)

Das Manuskript F-Pbn Turc 292 , eine nachträglich gebundene Loseblattsammlung des polnischen Renegaten, osmanischen Hofmusikers und Dolmetschers ‘Alī Ufuḳī (um 1610 - um 1675, auch bekannt als Ali Ufki), ist eine ungewöhnliche Quelle von hohem Erkenntniswert und Relevanz für zahlreiche verschiedene Forschungsdisziplinen. Auf 313 Blättern umfasst sie u.a. die ersten bekannten Aufzeichnungen osmanischer Musik in westlicher Notation überhaupt und ist somit eine der sehr wenigen erhaltenen Niederschriften vor dem 19. Jahrhundert.

‘Alī Ufuḳī wurde um 1610 als Wojciech Bobowski in Lwów (heutige Ukraine) als Sohn einer vermutlich adligen Familie geboren und erhielt eine umfassende humanistische Erziehung, die eine musikalische Ausbildung mit einschloss. Als junger Mann von Tataren gefangen genommen, wurde er an den Hof des Sultans verkauft und dort als Palastpage zu einem osmanischen Musiker ausgebildet. Er erwarb also eine zweite kulturelle, sprachliche, religiöse und musikalische Identität. Nach seiner Entlassung aus dem Palastdienst arbeitete er als Dolmetscher, Sprachlehrer und Vermittler für europäische Gesandte, Gelehrte und Reisende sowie als Dolmetscher des Divan.

Während seiner Musikerausbildung im Topkapı Sarayı, die er in seiner Beschreibung des Palastes (Serai Enderum, vor 1667) ausführlich schildert, begann ‘Alī Ufuḳī, das mündlich tradierte osmanische Repertoire in großem Umfang in einer individuell angepassten europäischen Notenschrift aufzuzeichnen. Aus dieser in ihrer Zeit - soweit bekannt - einzigartigen cultural translation gingen mindestens drei Handschriften hervor, die Notation in verschiedenen Stadien des Experiments zeigen. Dieses Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der in Paris befindlichen Quelle (F-Pbn Turc 292), dem so genannten Kompendium.

Die Handschrift vereint verschiedene Quellentypen, da sie erkennbar teilweise als mecmū’a / cönk  (Liedertextsammlung nach osmanischer Tradition) geplant war, zahlreiche Seiten hingegen den privaten, spontanen Charakter eines commonplace book oder sogar von Notizzetteln aufweisen, während die Eintragungen von diversen fremden Händen an ein Stammbuch denken lassen.

Quellealiufuki
F-Pbn Suppl. Turc 292, f.396r. Das Digitalisat wird bereitgestellt von der Bibliothèque Nationale de France, Paris; http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b84150086 (aufgerufen 20.01.2014)

Als eine Momentaufnahme des kulturübergreifenden intellektuellen und künstlerischen Lebens im Istanbul des 17. Jahrhunderts zeigt die Handschrift eine immense Bandbreite an musikalischen Inhalten (vokal, instrumental; geistlich, weltlich; höfisch, urban, ländlich; osmanisch, europäisch) und Texten - Gedichte, medizinische und kulinarische Rezepte, linguistische Notizen, religiöse Texte, Personennamen sowie Aufzeichnungen zu verschiedensten Themen - in einer erstaunlichen Vielzahl von Sprachen (bislang identifiziert: Osmanisch, Arabisch, Persisch, Italienisch, Latein, Polnisch, Griechisch, Armenisch, Georgisch). Sie ist daher auch ein aufschlussreiches Zeugnis für den Austausch und die Fixierung von Wissen unterschiedlichster Herkunft und somit auch für persönliche Kontakte und Netzwerke.

Aus musikwissenschaftlicher Sicht bedarf diese einzigartige Quelle einer detaillierten Erschließung durch eine kritische Edition der musikalischen Inhalte sowie der Analyse und Kontextualisierung der überlieferten osmanischen und europäischen Repertoires. Zentrale Fragen sind hierbei Transkulturalität, Notation mündlich überlieferter Musik, die Einbindung des Autors in internationale Wissensnetzwerke sowie seine Verortung in der osmanischen und europäischen Musikgeschichte bezüglich Repertoire, Theorie und Praxis.