Man sieht nichts

Die Welt schwindet - über den Sinn von Computermessen

Am Montag eröffnet die Münchner Messe Systems, und vielleicht lässt sich hier besichtigen, was die Sachbücher in Frankfurt zu erklären versuchen - die Technik. Andererseits: Das Wesentliche sähe man gar nicht. Man sieht nur graue Kisten, graue Mäuse, aber nichts, was uns das Neue der herauf7-iehenden Epoche begreiflich machen könnte. Die Ära, die jetzt beginnt, ist, im Gegensatz zur Industriegesellschaft, unanschaulich und schwer verständlich. Uninformiert, halbblind und -taub, aber multimedial stolpern wir in die lnformationsgesellschaft.

Was passiert, wenn große Teile der Gesellschaft die Welt nicht mehr verstehen und sich abgehängt fühlen? Welcher halbwegs Gebildete könnte uns den Unterschied zwischen analog und digital erklären? Warum wird mit der neuen Technik auch der Kapitalismus digital? Auf der Systems bekommt man keine Antworten. Dass ein Mikrochip überall eingesetzt werden kann, wo bisher geistige Arbeit verrichtet wurde, kann man sich denken-, aber wie das funktioniert und warum neue Arbeit entsteht, die der Chip nicht leisten kann, wissen die Wenigsten und erscheint andererseits den in diesem Geschäft Agierenden als selbstverständlich. Und doch könnte man auf der Messe etwas lernen. Zunächst sähe man, dass sich die größten Menschentrauben vor den kleinsten Geräten bilden. Handys, Organizer, Notebooks werden immer kleiner und leistungsfähiger. Der Trend mündet in eine faltbare Siliziumfolie, die man im Etui mit sich trägt und bei Bedarf ausbreitet. Die Folie, gespeist aus Licht und Wärme, ist ein Display, zugleich ein Computer, der Diktiertes aufs Display bringt und speichert. In der Folie stecken Mikrofon, Lautsprecher und Bildtelefon. Auf Reisen führt sie den Touristen zu seinen Zielen, bucht das Hotel und steuert den Autofahrer ins Parkhaus. Wer Langeweile hat, lädt sich einen Film, die Zeitung oder ein Buch herunter.

Die Folie ist ein Universalgerät mit digitalem Code. Alles, was der Fall ist, kann man in das Schema einer binären Ja-Nein-Logik pressen. Diese Reduktion der Wirklichkeit auf Ja-Nein-Verzweigungen lässt sich im Mikrokosmos des Siliziumchips abbilden und manipulieren. Deshalb erleben wirietzt, wie Schreibmaschine, Fax, Telefon, Videorekorder, Tonband, Kamera, Bücher und ganze Bibliotheken in einer sich verkleinernden universalen Black Box verschwinden. Wir erleben, wie immer mehr Funktionen in immer weniger Materie hineingepackt werden und die Materie sich allmählich verflüchtigt. Das macht den Wechsel vom Atom zum Bit auf paradoxe Weise sichtbar. Man sieht, dass es immer weniger zu sehen gibt. Mit der Materie verschwinden Jobs, ganze Branchen, Arbeitswelten, Gesellschaften und damit eine ganze Epoche. Und scheinbar aus dem Nichts entsteht Neues, Unternehmen mit neuen Produkten zum Leidwesen von Wörterbuch-Redakteuren, die den Strom der Neologismen kaum mehr bewältigen. Sie heißen "Software Solutions GmbH" und produzieren Systeme, Lösungen, "Support" oder gar"Load-Balancing-Lösungen" auf Basis Layer 4- and 7-Routing" -nichts, was für den Laien einen Sinn ergibt. Muss es auch nicht. Es geht nicht ums Einzelne, sondern um das chaotische Ganze.

Es gab einmal einen Tag, an dem das Management von IBM forderte: "Think big" und glaubte, die Welt brauche etwas zwei Dutzend Computer. Es gab Programmierer, die sich nicht vorstellen konnten, dass ihre Programme das Jahr 2000 erleben würden. Und es gibt das Software-Unternehmen Microsoft, das einst dachte, PCs würden die Speichermenge von 512 Kilobyte nie benötigen. Microsoft wurde auch vom Internet überrascht. Denn erstens handelt es sich dabei nicht um ein Microsoft-Produkt. Zweitens war das Internet auch nicht das Produkt eines Konkurrenten, den man hätte aufkaufen können. Drittens ist das Computernetz eines jener Phänomene, die wie von selbst entstehen und sich selbst organisieren, weshalb, viertens, Microsoft das Netz unheimlich ist, weil es sich seiner Kontrolle bis heute entzieht. Aber alle wurden vom Internet überrascht. Sogar jene, die daran mitbauten, staunen, weil es jetzt so aussieht, als hätten sie das Netz erfunden, um die Globalisierungsstrategien der Konzerne, die Entfesselung der Weltfinanzmärkte und den E-Commerce zu verwirklichen.

Gegenwärtig geht die Sage, Bill Gates sei vergangenes Jahr an Halloween ein Geist erschienen, der ihm geflüstert habe, er solle sich vor Pinguinen hüten. Der Pinguin, das Symbol des Betriebssystems Linux, hat alle verblüfft. Plötzlich gibt es Linuxtage, -kongresse und -debatten, und die Systems schmückt sich mit einem Linux-Park. Hinter Linux steht die Open-Source-Bewegung. Es ist ein Ding, das nicht der Markt gemacht hat, sondern evolutionär, aus Zufall und Notwendigkeit, entstanden ist. Es kostet nichts und darf beliebig oft kopiert oder verändert werden.

Benutzt wurde es lange Zeit nur von Programmierern, PC-Freaks, Hackern, Chaoten und Netz-Anarchisten. Inzwischen beginnt sich auch unter Vorstandsvorsitzenden und Geschäftsführern herumzusprechen, dass man auf diese Software, bauen kann, und darum verzeichnet Linux jetzt dreistellige Wachstumsraten und gefährdet das Monopol von Microsoft. Um Linux herum entwickelt sich eine Branche, die Anwendungen programmiert, Unternehmen berät und Linux in die EDV integriert. So entstehen neue Arbeitsplätze und neue Fragen. Könnte, es sein, dass eine Gesellschaft, die auf freie Software setzt, sich anders entwickelt als eine Gesellschaft, die sich in die Hand weniger Monopolisten begibt und vielleicht sogar noch erlaubt, Software zu patentieren?

Wegen Linux diskutieren jetzt TechnoEliten und Manager, demnächst wohl auch Evangelische Akademien, über die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung von Software. Sollte Software nicht wie Linux prinzipiell frei sein? Ist Software nicht eine Ressource wie die Wissenschaft? Wie passen SoftwareMonopole in eine Zeit, in der Telekommunikations- und Energiemonopole zerschlagen werden? Und wem gehört das Land? Eine Debatte darüber setzt voraus, dass die Beteiligten wissen, wovon die Rede ist. Zu jeder Computermesse gehört daher auch ein öffentliches Forum, auf dem über Produkte und Märkte hinaus gedacht und gefragt wird-. Wohin soll die Reise gehen? Es ist an der Zeit, diese Foren zu eröffnen.

CHRISTIAN NÜRNBERGER

dieser Artikel ist erschienen in der Süddeutschen Zeitung Nr.241, Montag, 18. Oktober 1999, S.17
Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors