In vielen Kulturen sind Religion und Heilung eng miteinander verflochten. Religiöse Erklärungsmodelle für Krankheiten, ritualisierte Diagnoseverfahren, und spirituelle Behandlungsmethoden existieren weltweit und variieren in Form und Inhalt gemäß gesellschaftlicher und kosmologischer Kontexte. Aus historischer Perspektive differenzieren sich Religion und Medizin in Europa im Zuge der Aufklärung und der Etablierung wissenschaftlicher Disziplinen wie z.B. der Biomedizin und Psychiatrie. Durch die Kolonialisierung wurden daraus resultierende Modelle und Praktiken bzgl. Gesundheit, Krankheit, und Heilung global gestreut und etabliert. Oftmals führte dies zu einer Unterdrückung lokaler Medizinsysteme, weitaus öfter aber widersetzten sich indigene Kulturen nicht nur der religiösen, sondern auch der medizinischen Missionierung. Vielerorts führte diese Auseinandersetzung zu einer Transformation einzelner Praktiken und Diskurse, aber auch zu Überschneidungen und Kooperationen.

Globalisierungsprozesse wie der transatlantische Sklavenhandel, Einwanderung, Arbeitsmigration und letztendlich die aktuelle Vernetzung der Welt führten einerseits zunehmend zu einer Homogenisierung der kosmopolitischen Medizin, anderseits aber auch zur Diversifizierung religiös-spiritueller therapeutischer Praktiken. Daraus resultieren verschiedene Dynamiken der Ablehnung, Konkurrenz, Kooperation, und Aneignung auf dem medizinisch-religiösen Markt. Aktuell führt dies – entgegen der Prognosen etlicher ReligionswissenschaftlerInnen – zu einer Dedifferenzierung von Religion und Medizin in Europa, ausgelöst einerseits durch Migration und Flucht, andererseits durch das Bedürfnis vieler PatientInnen nach „ganzheitlicher“ Behandlung.

Inhaltlich nähert sich das Seminar dieser Realität durch die Betrachtung außereuropäischer religiös-spiritueller Medizinsysteme und ihrer Transformation im Kontext der Interaktion mit anderen Praktiken und Diskursen. Die medizinethnologische Perspektive von Gesundheit, Krankheit, und Heilung in unterschiedlichen kulturellen und religiösen Kontexten wird vorgestellt und diskutiert. Im Vordergrund steht die Frage der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Konzepte von Geist, Seele, Körper und Selbst, sowie kulturspezifischer Umgangsformen damit. Theoretische Modelle werden anhand ethnographischer Beispiele aus verschiedenen Religionen, Gesellschaften und Kulturen diskutiert und hinterfragt. Einen regionalen Schwerpunkt wird Lateinamerika bilden; thematisch werden vor allem Praktiken und Diskurse zur „Besessenheit“ und „Medialität“ vorgestellt. Aus theoretischer Perspektive dienen religionsästhetische Ansätze (Ritualtheorie, Performance, Embodiment, Sinne & Emotion, Ästhetiken des Heilens) als Matrix des Vergleichs, der Analyse, und der Diskussion.

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2020