Kommentar |
Besonders in sozialen Kontexten, wie zum Beispiel Umsiedlungslagern, Flüchtlingslagern oder Aufnahmestellen, in denen Personen sehr unterschiedlicher kultureller Milieus aufeinander treffen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich Vergemeinschaftungsformen bilden, die zwar existentiell notwendig sind, deren Integration jedoch einem hohen Grad von Prekarität ausgesetzt ist. Prekäre Formen der Integration entstehen zum Beispiel in Flüchtlingslagern vor allem deshalb, weil sie einen oft sehr schnellen Übertritt von einem Ort zum anderen ermöglichen sollen und weil die Dauer und die Gewähr für diese Übergangsphase alles andere als sicher sind. Gerade die Diskussionen über die Aufnahme von Flüchtlingen in den Mittelmeerländern machen die Dringlichkeit deutlich, die verschiedenen Ausprägungen von Prekarität zu beschreiben; vor allem aber stellt sich dabei die Frage, wie sich überhaupt die Bedingungen der Ausbildung von Vergemeinschaftungsformen vor dem Hintergrund einer multipel differenzierten Weltgesellschaft beschreiben und theoretisch fassen lassen. Im Fall der Abschiebung von Flüchtlingen aus dem Lager auf Lampedusa zeigt sich in erheblichem Maße der Widerstreit zwischen rechtlichen und politischen Bedingungen, den Dringlichkeiten kollektiver Praxis und den biographischen Erfahrungen der betroffenen Personen. Ein Widerstreit, der sich wahrscheinlich nicht auflösen lässt, indem man seine Elemente stereotypisiert und zu Entitäten vereinheitlicht, weil dann die verschiedenen Austauschverhältnisse zwischen den Elementen und die pragmatischen Formen der Koordination, die innerhalb dieser Austauschverhältnisse stattfinden, nicht in den Blick kommen.
Im Verhältnis zum Forschungsstand zu Flüchtlingslagern gibt es sehr wenig soziologische Literatur zu sogenannten Landesaufnahmestellen in der BRD für Flüchtlinge oder für Menschen, die den Flüchtlingsstatus erhalten wollen. Das Lehrforschungsprojekt soll deshalb fortgeschrittenen Studierenden die Möglichkeit geben, unter Anleitung eine Forschung zu einer solchen Aufnahmestelle durchzuführen. Hier treffen wahrscheinlich unterschiedliche Ordnungsebenen des Sozialen aufeinander: Die rechtlichen und politischen Maßnahmen zu „Aufnahme“ und „Abschiebung“; die Organisation der Behörde selber mit ihren eigenen materialen und formalen Strukturen und Richtlinien sowie ihrer eigenen Kommunikation; eventuelle Vergemeinschaftungsformen zwischen den Bewohner_Innen (lässt sich hier beispielsweise von verschiedenen Milieus sprechen oder eher von flüchtigen, sogar „desperaten“ Formen der Vergemeinschaftung?) sowie die intentionalen Perspektiven der Personen. Für die Forschung sind zunächst vor allem folgende Fragen leitend: Wie erleben die Bewohner_Innen und Angestellten einer Landesaufnahmestelle die dortige Lebenswelt und wie ist die Kommunikation innerhalb dieser Aufnahmestelle strukturiert? Ist anhand der Kommunikation ein Widerstreit zwischen den verschiedenen Ordnungsebenen erkennbar oder nicht? Das Lehrforschungsprojekt soll aufbauend auf diesen Fragen inhaltliche Kenntnisse über den Forschungsgegenstand gewährleisten sowie das Wissen über qualitative Methoden vertiefen, indem die einzelnen Forschungsphasen mit erlebt und gestaltet werden. Das Thema „Aufnahmestelle“ ist ein aus soziologischer Sicht vielschichtiges Phänomen, dessen Erforschung nicht nur qualifikationsrelevante Kenntnisse vermittelt, sondern sogar einen Baustein für weitere Forschungen in diesem Bereich bilden kann. In der ersten Hälfte des ersten Semesters werden die Studierenden in Frage kommende Methoden (qualitative Verfahren der Beobachtung, Verfahren des Schreibens (Beobachtungsprotokolle, Feldtagebuch, Notate), Interviewführung (narratives Interview, Gruppeninterview...), Visuelle Verfahren (Photographie) und hermeneutische Auswertungsverfahren in der Gruppe erarbeiten. Abwechselnd zu den Methoden-Sitzungen soll theoretisch in die Forschungsthematik eingeführt werden. Neben Referaten und Diskussionen einschlägiger Texte sollen die Studierenden aufgrund ihrer eigenständigen Recherchen zum Gegenstand erste Notate schreiben. Darauf folgend werden erste Beobachtungen und Gespräche protokolliert und ausgewertet. In den ersten Wochen soll durch die Zweigleisigkeit von Gegenstands- und Methodendiskussion gemeinsam ein erster Zugang ins Feld erarbeitet werden, dessen thematische Ausrichtung sich aus den Diskussionen über die ersten Kontakterfahrungen ergeben wird.
Von der zweiten Hälfte des ersten Semesters (WiSe 2012/13) bis spätestens zum Beginn der ersten Hälfte des zweiten Semesters (SoSe 2013) sollen die Studierenden die nötigen Interviews durchgeführt und transkribiert haben, so dass in der zweiten Hälfte des vierten Semesters die Auswertungen abgeschlossen sein können und im Team ein Forschungsbericht geschrieben werden kann. Vorraussetzungen: Neben einem großen Interesse an dem Forschungsgegenstand setzt die Teilnahme eine Kenntnis der Methodologie der interpretativen Sozialforschung sowie eines ersten Einblicks in die Methoden des Fremdverstehens voraus. Weiterhin sind gute Kenntnisse der englischen und französischen Sprache von Vorteil. Intensive mündliche und schriftliche Mitarbeit sind unabdingbar. |