Kommentar |
In der modernen Ungleichheitssoziologie wird neben der Analyse ökonomischer Ungleichheiten zunehmend der Bildung (im weitesten Sinne) eine besondere Rolle zugeschrieben, wenn es darum geht, die Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen zu erklären. Tatsächlich lässt sich dabei zeigen, dass die Bildungsaspirationen der Akteure einen erheblichen Einfluss auf deren Berufs- und Aufstiegschancen haben und sich zudem auf die Freizeitgestaltungen auswirken. Bildung stellt sich aus dieser Perspektive keineswegs als unschuldiges Moment moderner Gesellschaften dar: Bildung bzw. die Aneignung von Bildung erscheint vielmehr als Fundament der Schließung sozialer Milieus. Schlimmer noch: Bildung lässt sich aus dieser Perspektive mit Herrschaft gleichsetzen, da die gebildeten Milieus aufgrund ihrer Stellung in der Sozialstruktur über ungleich günstigere Möglichkeiten der Interessensdurchsetzung und der Definition gesellschaftlicher Problemlagen verfügen.
In der abendländischen Geistesgeschichte hingegen wird der Aneignung von beinahe unisono zugeschrieben, Emanzipationschancen zu eröffnen und ein gewichtiger Motor gesellschaftlicher Modernisierung zu sein. Gebildet zu sein wird dann als ein individuelles und gesellschaftliches Moment begriffen, dass explizit jenseits (oder sogar: im direkten Gegensatz) zu ökonomischen oder machtpolitischen Strategien steht. Bildungsambitionen erhalten so den Status eines unschuldigen Ornaments oder gar den Status der Rebellion gegen gesellschaftliche Zustände. In beiden Fällen verweisen sie auf ein Bildungsverständnis, dass Bildung als zweckfreies Gut versteht.
In dem Seminar wird es darum gehen, den Bildungsbegriff in Bezug auf diese konträren Bestimmungen zu untersuchen. Leitfragen sind dabei: Welche Rolle kommt der Schule bzw. den Lehrern im Prozess der Bildungsvermittlung zu? Sollte die (schulische) Bildungsvermittlung sich an dem Ideal der Emanzipation orientieren oder sollte die Bildungsvermittlung (insbesondere im Fall benachteiligter SchülerInnen) sich darum bemühen, deren Karrierechancen zu verbessern? Ist Bildung (entgegen der abendländischen Tradition) in unserer Gesellschaft tatsächlich zu einem reinen Selektionsmechanismus geworden, der (wie die Diskussionen um die Pisa-Studie zeigen) nur noch in einem funktionalen Zusammenhang mit Chancen auf dem Arbeitsmarkt steht?
Das Seminar ist als Lektürekurs konzipiert. Eine Teilnahme setzt daher die Bereitschaft zu regelmäßigem Lesen voraus. |