Kommentar |
Nicht abstrakte Theorie oder thematische Perspektive bestimmen Inhalt und Aufbau dieser praxisorientierten Übung im Archiv, sondern ein einzelnes, historisches Dokument und seine verschiedenen Dimensionen, das sogenannte ‚Rote Buch’ von St. Mauritz in Münster. Das dickleibige Amtsbuch ist das Ergebnis einer Reorganisation der Unterlagen der Stiftskirche von St. Mauritz durch den tatkräftigen Scholaster Bernhard Tegeder. Er sah sich während der 1490er Jahre veranlasst, im Archiv der wohlhabenden Stiftskirche vor den Toren Münsters ordentlich aufzuräumen. Diese Gelegenheit nutzte er, um die historische Entstehung des Stifts und die aktuelle wirtschaftliche, politische und religiöse Lage in St. Mauritz und Münster ausführlich in Randbemerkungen zu kommentieren. Das Buch ist somit mittelalterliches Ego-Dokument, Archiversatz und Verwaltungshandbuch in einem. Im Lauf seiner Geschichte intensiv benutzt, ist es schon in seiner praxisorientierten internen Organisation sehr aufschlussreich – sofern man es denn zu entziffern vermag und sich der Herausforderung spätmittelalterlichen Verwaltungslateins stellt.
Die Übung setzt daher Interesse, aber keine besonderen Vorkenntnisse voraus und möchte nicht nur in die Welt des Spätmittelalters, sondern auch in die Arbeit mit Archivquellen einführen. Sie zielt darauf, Studierende mit vorhandenen funktionalen Lateinkenntnissen durch eine schrittweise, praktische Einarbeitung in die nötigen hilfswissenschaftlichen Grundlagen zu einer selbständigen Untersuchung des vielschichtigen Folianten zu ermutigen. Am praktischen Objekt wird im Verlauf der Übung Orientierungswissen über den Umgang mit Archiven und archivalischen Quellen erworben. Nach einer Einführung in kodikologische und paläographische Grundlagen werden alle Teilnehmer/innen selbständig transkribieren und die entzifferten Inhalte des Amtsbuches übersetzen und interpretieren, um sie schließlich in ihre verschiedenen historischen Kontexte einzuordnen. |