Kommentar |
Die Frage nach der sozialstrukturellen Verfasstheit moderner Gesellschaften ist zum einen eine empirische Frage, die untersucht, wie sich soziale Differenzierungen und Ungleichheitsphänomene darstellen, bzw. wie diese konzeptionell gefasst werden können. Zum anderen jedoch impliziert die Frage nach der sozialstrukturellen Verfasstheit moderner Gesellschaften eine weit über die Grenzen der Wissenschaft hinausgehende Dimension: Die ihrer normativen und kulturellen Bewertung. Hier geht es weniger um empirische zu konstatierende Fakten, sondern darum, den Gegenstand 'soziale Ungleichheit' reflexiv zu hinterfragen. Unklar ist dabei, mit welchen Mitteln eine solche Hinterfragung möglich ist, welche Mittel sich anbieten. Überdies stellt sich im Rahmen einer positiven Wissenschaft die allgemeinere Frage, ob überhaupt ein normativer Zugang gefunden werden kann, oder ob normative Fragestellungen den Kontext der Wissenschaftlichkeit verlassen, also mit wissenschaftlich-rationalen Argumenten nicht beantwortbar sind.
In dem Seminar wird daher am Beispiel des Phänomens 'sozialer Ungleichheit' gefragt werden, wie sich ein normativ-bewertender Zugang begründen lässt und welche Auswirkungen ein solcher Zugang auf die empirische Forschung möglicherweise hat. Angesprochen wird damit eine wissenschaftstheoretische Fundierung der Sozialwissenschaften, die allerdings insofern kein Selbstzweck ist, als die Bewertung des Phänomens 'soziale Ungleichheit' nicht nur eine philosophisch-wissenschaftliche Frage ist: Sie ist zentral für politische und öffentliche Debatten, in denen sich die Gesellschaft über den Umgang mit sozialer Ungleichheit auseinandersetzt. Die Frage nach der wissenschaftstheoretischen Fundierung der Sozialwissenschaften fokussiert also auch nicht-wissenschaftliche Diskurse. Sie hat dann den Zweck, die (impliziten oder expliziten) normativen Hintergrundannahmen in diesen Diskursen transparent zu machen und - wenn möglich - zu systematisieren.
Das Seminar ist als Lektürekurs konzipiert. Eine Teilnahme setzt daher die regelmäßige Bereitschaft voraus, die im Seminarplan angegebenen Texte zu lesen. |