Ein berühmtes Gedicht („Le Cygne“) von Charles Baudelaire beginnt mit dem schönen Vers „Andromaque, je pense à vous!“ und spielt u.a. auf eine Frauenfigur der gleichnamigen Tragödie Jean Racines an: Andromache ist – so hat es die epische Erzählung über den Untergang Trojas festgelegt – geschändete Gattin und eine zur Kriegsbeute herabgesunkene Herrscherin. Von Troja nach Griechenland verschleppt, wird sie in eine neue Kultur und Ehe gezwungen. Die literarische Tradition lässt ihren Ruhm ebenso wenig verblassen wie den der Tragödienfigur Phèdre, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Romanzyklus Prousts eine wichtige Rolle für die Initiation in Theater und Liebe spielt. Auch eine weitere faszinierende Frauenfigur, Medea, die aus Liebesverrat ihre Kinder tötet, findet sich, aus der antiken Tragödie übernommen, neugestaltet bei Pierre Corneille.
Worin liegt das Interesse der klassischen Tragödienschreiber Pierre Corneilles und Jean Racines an den antiken Frauenfiguren? Welche Funktion kommt den weiblichen Rollen im Konflikt zwischen Leidenschaft, Vernunft und machtpolitischer Interessen zu? Wie unterscheiden sie sich gegenüber den männlichen Heroen in der Erkenntnis von tragischen Konstellationen und menschlichen Handlungsmotiven?
Das Seminar will exemplarisch tragische Frauenfiguren im Theater Corneilles und Racines unter poetologischen, gesellschaftspolitischen und gendertheoretischen Aspekten analysieren. Im Zentrum unserer Betrachtungen werden Corneilles Tragödie Médée (1635) sowie Racines Werke Andromaque (1667) und Phèdre (1677) stehen. Vergleiche mit antiken Vorbildern und weiblichen Porträts in der zeitgenössischen Malerei ergänzen das Programm. |